Das Hausarztmodell – ein Blick über die Grenze

Von der Stärkung des niedergelassenen Bereichs – insbesondere der Primärversorgung durch Allgemeinmediziner – erhofft sich die heimische Gesundheitspolitik einen geregelteren Zugang zu medizinischen Leistungen und damit eine Stabilisierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Während hierzulande konkrete Maßnahmen immer noch ausstehen und auch die aktuelle Gesundheitsreform viele Fragen offen lässt, läuft in Deutschland seit Längerem eine Diskussion über die „Hausarztzentrierte Versorgung“ (HZV).

Baden-Württembergs neuer Weg

Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Niebling, Leiter des Lehrbereichs Allgemeinmedizin an der Universität Freiburg und Arzt für Allgemeinmedizin: „2008 wurde in Baden-Württemberg erstmals ein Hausarztvertrag von der größten regionalen Krankenkasse AOK Baden-Württemberg und freien Ärzteverbänden initiiert. Trotz der anfänglichen massiven Kritik der ärztlichen Standesvertreter hatten sich bereits kurz nach dem Start des Vertrages mehr als 100.000 Versicherte eingeschrieben, 2011 schließlich wurde die Schallmauer von einer Million eingeschriebener Patientinnen und Patienten durchbrochen. Inzwischen nehmen insgesamt fast 1,5 Millionen Versicherte und 3.700 Hausärzte in Baden-Württemberg an Verträgen zur Hausarztzentrierten Versorgung teil – der mit Abstand größte Teil im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung der AOK Baden-Württemberg. Der HZV-Vertrag in Baden-Württemberg wurde zum Vorreiter der Selektivverträge mit anderen Kostenträgern in allen deutschen Bundesländern. Übergeordnetes Ziel des Vertrags ist eine qualitativ hochwertige und flächendeckende hausärztliche Versorgung.“
Die wesentlichen Anforderungen an die teilnehmenden Hausärzte sind die

  • Teilnahme an strukturierten Qualitätszirkeln zur Arzneimitteltherapie
  • Behandlung nach hausärztlichen evidenzbasierten, praxiserprobten Leitlinien
  • Teilnahme an Fortbildungen mit Fokus auf hausarzttypische Beratungs- und Behandlungsprobleme
  • Qualifikation zur psychosomatischen Grundversorgung
  • Aktive Teilnahme an Disease-Management-Programmen
  • Praxis-EDV und Nutzung der Vertragssoftware

Ein entscheidender Unterschied zur Regelversorgung im Kollektivvertrag liegt – so Niebling – in der Vergütungssystematik. „Diese besteht aus einer kontaktunabhängigen Pauschale, einer kontaktabhängigen Behandlungspauschale, einem Zuschlag für die Behandlung chronisch Kranker sowie Vorhaltezuschlägen, Einzelleistungen und ergebnisabhängigen Zusatzvergütungen. Die teilnehmenden Hausärzte erhalten ein kalkulierbares Honorar in Euro. Die HZV-Fallwerte liegen deutlich über denen im Kollektivvertrag.“ Abrechnung und Online-Informationen für den Arzt erfolgen über ein hochsicheres Intranet via Konnektor. Die dafür geschaffene elektronische Infrastruktur genügt allen datenschutzrechtlichen Voraussetzungen und ermöglicht eine Anbindung an die 2010 gestarteten Facharztverträge nach § 73c SGB V.

Zentrales Element: hausarztspezifische Fortbildung

Ein zentrales Instrument des Vertrages ist die hausarztspezifische Fortbildung, die durch eine unabhängige Fortbildungskommission des Hausärzteverbandes koordiniert und ausgestaltet wird. Landesweit wird ein System von über 300 Qualitätszirkeln für Ärzte und Medizinische Fachangestellte organisiert. Niebling: „Entlastet werden die teilnehmenden Ärzte durch besonders qualifizierte Versorgungsassistentinnen (VERAH), deren Einsatz gesondert vergütet wird. Initiale Hindernisse wie eine intransparente Honorarbereinigung seitens der Kassenärztlichen Vereinigung oder Softwareprobleme konnten inzwischen überwunden werden.“
Eingeschriebene Versicherte sind einer Umfrage des Prognos-Institutes zufolge mit der AOK-HZV sehr zufrieden, ebenso die an den Pharmakotherapiezirkeln teilnehmenden Ärzte. Die im Juni 2012 erstmals in Berlin vorgestellten Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation zeigen positive Wirkungen – für Patienten und auch für Ärzte.
Der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann, verwies auf die positive wissenschaftliche Evaluierung der Hausarztzentrierten Versorgung im drittgrößten deutschen Bundesland. Insbesondere die Versorgung chronisch Kranker habe sich durch die HZV verbessert. Umfragen zufolge sind die eingeschriebenen Patienten insgesamt hoch zufrieden und auch die Berufszufriedenheit der teilnehmenden Allgemeinmediziner ist laut Deutschem Hausärzteverband deutlich gestiegen: „Patienten profitieren etwa von Abschlägen bei Medikamentenzuzahlungen, erweiterten Öffnungs- und kürzeren Wartezeiten sowie von speziellen Präventionsprogrammen. Abgesehen von Notfällen können die Patienten nur Fachärzte für Kinder-, Augen- und Frauenheilkunde ohne Überweisung in Anspruch nehmen.“

Haus- und Vertrauensarztmodell der ÖÄK

Auch das Haus- und Vertrauensarztmodell der ÖÄK soll die Rolle des Hausarztes aufwerten und so dem drohenden Ärztemangel vorbeugen, erklärte Dr. Reinhold Glehr. Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM).
Es solle durch geregelten Zugang zu den einzelnen Stufen der medizinischen Versorgung Ressourcen schonen. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung soll sich durch verstärkte Prävention und Lebensstilberatung, verbunden mit kontinuierlicher Betreuung, verbessern. Insbesondere chronisch Kranke und multimorbide Patienten würden von intensiverer ärztlicher Zuwendung profitieren.
Allerdings, so Dr. Harald Schlocker, Stellvertretender Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin in der ÖÄK, fehlten noch wesentliche Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Ziele. So gebe es keine entsprechenden gesetzlichen oder vertragspartnerschaftlichen Regelungen. Eine Stärkung des niedergelassenen Bereichs sehe die aktuelle Gesundheitsreform zwar vor, eine Aufstockung der Kassenstellen werde aber abgelehnt. Obwohl in den nächsten zehn bis 15 Jahren über die Hälfte der Kassen-Allgemeinmediziner in Pension gehe und immer weniger Jungmediziner bereit seien, sich als Hausärzte niederzulassen, sei die Politik nicht bereit, zur Attraktivierung des Berufs beizutragen und damit den drohenden Ärztemangel einzudämmen – etwa durch eine angemessene Honorierung der koordinierenden Leistungen, die Hausärzte vor allem für ihre immer älter werdenden Patienten jetzt schon leisten. Auch die Bürokratie in der Kassenmedizin sinke nicht, sondern ufere aus, betonten Schlocker und Glehr. Außerdem fehle es immer noch an einem der ärztlichen Realität angepassten Gruppenpraxengesetz, das es Ärzten erlauben würde, Kollegen anzustellen, sodass eine Arbeitsteilung und damit attraktivere Öffnungszeiten für Patienten möglich würden. Auch die Umsetzung der dringend erforderlichen Ausbildungsreform lasse noch auf sich warten. Ein wichtiger Aspekt dieser Reform sei die Absolvierung einer verpflichtenden, mindestens einjährigen Lehrpraxis. Nach wie vor sei allerdings eine Förderung der Lehrpraxen in der Höhe von ca. 15 Millionen Euro jährlich nicht in Sicht – obwohl der Kompetenzgewinn für Jungmediziner unbestritten sei.

Quelle: 3. Tag der Allgemeinmedizin, veranstaltet von der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) und der Bundessektion Allgemeinmedizin in der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK).

 

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Kommentar Dr. Reinhold Glehr, Präsident der ÖGAM
Welche Vorteile und Nachteile bringt das Modell aus Baden-Württemberg (BW)?
  • Bessere Führung durch das Gesundheitssystem jener Patienten, die sich zur Teilnahme am Hausarztmodell entschließen
  • Verbesserung der Betreuungskontinuität insbesondere bei chronisch kranken Patienten
  • Mehr Effizienz der medizinischen Grundversorgung durch klaren Versorgungsauftrag an die Hausarztmedizin
  • Bessere Umsetzungsmöglichkeit von Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen durch die bestehende Patientenliste (Die Teilnahmerate an Vorsorgeuntersuchungen konnte in BW verdoppelt werden)
  • Steigerung der Versorgungsqualität durch verbesserte Koordination der hausärztlichen und fachärztlichen Ebene bzw. Förderung einer integrierten (vernetzten) Versorgung im niedergelassenen Bereich durch begleitende Facharztverträge (derzeit diabetologisch, gastroenterologisch, kardiologisch)
  • Verringerte Folgekosten durch weniger Ambulanzkontakte und stationäre Aufnahmen (Ergebnis der Evaluation des BW-Modells 2012)
Ist das Modell auf Österreich umlegbar?
Aufgrund der föderalistischen Struktur der österreichischen Sozialversicherung wäre ein Pilotversuch in einem Bundesland sinnvoll. Natürlich müssten im Vorfeld die Grundlagen eines derartigen Vertrags adaptiert werden und über eine breite Information sowohl von Patienten als auch Ärzten die Bereitschaft zur Teilnahme gewonnen werden. Die Politiker bräuchten sich nicht zu fürchten, da die Freiwilligkeit ein wichtiges Prinzip ist. Anreize sind allerdings notwendig. Die Mündigkeit der Patienten kann erwartet werden.
Wie ist der Status quo der Umsetzung des österreichische Hausarztmodells? Welche Widerstände gibt es von welcher Seite? Was verhindert die Umsetzung?
Das österreichische Hausarztmodell ist im Vergleich zum baden-württembergischen Modell weniger strukturiert. Die Hoffnung war dabei, die Widerstände gering zu halten. Doch entscheidend scheint, dass der politische Wille nicht gegeben ist. Ein Satz in den 15a-Verträgen und viele Lippenbekenntnisse weisen auf eine gewünschte Stärkung der hausärztlichen Versorgung hin. Derartige Absichtserklärungen finden sich in Regierungserklärungen und Interviews von Entscheidungsträgern. Seit Jahren übt sich die Politik in dem Slogan „Mehr ambulant, weniger stationär!“. Auf eine tatsächliche Umsetzung weist aber nach wie vor nichts hin. Die Barrieren für eine Systemänderung sind sicher komplex. Das oft angeführte Argument des unbedingten Patientenwillens auf Selbstbestimmung der Erstanlaufstelle im System kann durch die Zahlen in Baden Württemberg entkräftet werden. Das neue Schlagwort „Best point of service“ wartet nun darauf, mit Inhalt gefüllt zu werden. Der nächste Schritt sollte dann die Umsetzung sein, die den Patienten über Anreize vermittelt werden sollte.