Der Weg in die und aus der Alkoholsucht

Herr H. kam mit 2,5 Promille zum Erstgespräch in unsere Ambulanz. Er schien in den späten 60ern zu sein, war aber viel jünger, wie sich beim Blick auf die Kartei herausstellte. Er wurde von der Gastroenterologie überwiesen, die ihn wegen Leberproblemen behandelte. Sein Bauch war groß, er war blass und abgemagert mit Kurzatmigkeit und einer Haut wie aus Papier. Graue Augen, die farblos wirkten und verschwommen, blickten mit Reserviertheit, aber doch mit einem spürbaren Anflug von Hoffnung auf die Möglichkeiten, die sich hier boten. Er saß im Rollstuhl. Das Einzige, womit er der Krankheit zu trotzen schien, war sein dichtes, festes, lebendig wirkendes weißes Haar.

Start in ein neues Leben

Der gebürtige Wiener einer alkoholabhängigen Mutter war in einem Gemeindebau aufgewachsen. Dennoch schaffte er die Matura, verließ aber sofort danach das Land und ging nach Amerika. In all seinen Träumen waren die USA das Land, in dem er leben wollte, denn dort sah er die Freiheit, die er suchte. Der ledige und kinderlose Mann arbeitete beim US-Militär auf großen Schiffen als Matrose. Mit Alkohol kam er damals nicht in Kontakt, da dieser auf den Schiffen verboten war.
Um sich seinen Traum zu erfüllen, begann er den Sold zu seinem Anwalt in Texas zu schicken, wo dieser für ihn eine riesige Farm kaufen sollte. Laut US-Gesetz, so erzählte er uns, ist die letzte Zahlung, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eingegangen sein muss, die ausschlaggebende, um den Vertrag zu erfüllen. Diese Zahlung, die er vom Schiff aus in Auftrag gab, kam allerdings zurück, wurde angeblich nie angewiesen, und somit war der Vertrag hinfällig. Die vorher bezahlten Raten verfielen, weil er einen entsprechenden Vertrag unterschrieben hatte, und sein Ziel, ein eigenes Grundstück, auf dem er jagen und fischen kann, zu erwerben, rückte in unerreichbare Ferne.
Er rüstete ab, kehrte in die Nähe des Grundstücks in Texas zurück und machte einen Gemischtwarenladen auf. In dieser Zeit kam es immer wieder zu Aggressionshandlungen. Herr H. fühlte sich hintergangen und versuchte mehrfach auf das inzwischen eingezäunte Grundstück zu kommen. Mit dem allmählichen Aufgeben seines Lebenstraumes, den er nur im Erwerb dieses speziellen Grundstückes sah, und mit dem Begreifen, dass sein gesamtes Geld verfallen war, begann sein Alkoholkonsum in dem Ausmaß zu steigen, wie der Umsatz im Laden zurückging. Bald darauf ging er pleite.
Danach kam es zu einem schweren Autounfall mit Polytrauma mit anschließendem monatelangem Aufenthalt in einem texanischen Krankenhaus. Zwischenzeitlich verstarben sein Bruder und seine Mutter. Zu seinem Vater unterhielt er keinen Kontakt, und es bestand von Seiten des Patienten auch kein Wunsch, diesen wieder aufzunehmen.

Krank zurück nach Österreich

So kam Herr H. im Alter von 55 Jahren nach Österreich zurück und wohnt nun gemeinsam mit seiner Freundin in einer Gemeindewohnung. Seit nunmehr 15 Jahren trinkt er kontinuierlich im Schnitt acht Bier und eine halbe Flasche Wodka täglich, was dazu führte, dass er im Alter von 59 Jahren an die Universitätsklinik für Psychiatrie in die Ambulanz für Alkoholgefährdete kam. Er wurde stationär aufgenommen und auf eine Entzugsmedikation mit Oxazepam eingestellt. Begleitend wurde er auch internistisch betreut. Die ersten zwei Tage waren von Zittern, Schwitzen, Unruhe und Schlafstörungen geprägt. Da er auch untertags einschlief, konnte er keinen klaren Tag-Nacht-Rhythmus einhalten. Jedoch war es gelungen zu seinen Schwestern und Pflegern eine gute Beziehung aufzubauen. Sein Zustand änderte sich nun sehr rasch. Bereits nach vier Tagen konnte er den Rollstuhl verlassen, und innerhalb von zwei Wochen erholte sich Herr H. so weit, dass er frei von Oxazepam war. Der Bauchumfang war in dieser Zeit erheblich geringer geworden, und er konnte auf leichte Antidepressiva abends eingestellt werden. Nach 17 Tagen wurde er schließlich ohne Komplikationen entlassen. Als Rückfallsprophylaxe erhielt Herr H. Naltrexon(Revia®), anfangs 0-0-1/2 und nach weiteren vier Tagen Revia® 0-0-1.

Begegnung auf Augenhöhe

Durch die stationäre Aufnahme hatte sich allmählich eine Vertrauensbasis entwickelt. Ich erfuhr mehr über seine derzeitigen Lebensumstände, dass seine Freundin gerne Yoga macht und ihn zur Meditation bewegen will, um ihm zu helfen, dass er – der harte US-Marine – mit „so was“ aber nichts am Hut habe. Bei seinen nächsten ambulanten Besuchen erzählte er über Amerika, das Land seiner Träume, wie das Grundstück war, wo er fischen gegangen wäre und wo er gejagt hätte. Seine einfache, aber aufrechte Art, den Dingen zu begegnen, beeindruckte das gesamte Team, und es war ganz leicht, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Diese Gespräche waren sein neuer Rückhalt. Dennoch war seine Aussicht auf „sein“ Leben unwiederbringlich verloren. Im Laufe der Therapie habe ich ihm immer wieder versichert, dass ich dieses Gefühl respektiere.
Dennoch schätzte er unsere Arbeit und wir sein Bemühen, das doch allmählich stärker wurde. Er kam gerne zu uns und war froh, dass es nun Menschen gab, die seine Geschichte kannten. Dieses „posttraumatische“ immer und immer wieder Erzählen half ihm schließlich, seine Passivität aufzugeben und ein „neues“ Leben aufzunehmen. Er fand mit der Freundin ein Grundstück in Ungarn, wo er weniger Reglement als in Wien erlebte. Wichtig war ihm beispielsweise, dass er dort – wenn auch in begrenztem Umfang – Hasen jagen konnte. Für ihn stellte das eine Ähnlichkeit mit Amerika dar. Er wusste, dass er weiterhin bei uns anrufen konnte, wenn er Hilfe brauchte, und er tat das auch, wenn er Craving nach Alkohol erlebte.
Zu dieser Zeit nahm er täglich abends eine Revia®-Tablette ein. Diese Abenddosierung hatte er nach anfänglicher einschleichender Dosierung von 1/2 Tablette kontinuierlich beibehalten. Es kam hin und wieder zu kleineren Rückfällen („slips“), die ihn aber nicht entmutigten. Er hatte außerdem gelernt, dass es wichtig ist, an Orten, an denen er vorher getrunken hatte rasch vorbeizugehen, denn allein deren Anblick konnte schon Gier auslösen. Herr H. hat deswegen auch die Möbel in seiner Wohnung umgestellt (Patienten berichten oft, dass der Fernsehsessel der Ort des Trinkens ist).
Zusammenfassend kann man sagen, dass er sich deutlich besser fühlt. Er hat nun eine gesunde Hautfarbe, hat Gewicht zugenommen und vor allem gelernt, dass nicht der Rückfall das eigentliche Problem ist, sondern dessen Dauer. Dieses Wissen hat er noch ein paar Mal durch persönliche Erfahrungen ausprobiert, bis es schließlich „saß“. Er ist jetzt seit vier Jahren durchgängig abstinent, lebt in Wien und Ungarn und nimmt weiterhin Naltrexon bei erhöhtem Trinkdruck ein.
Herr H. hat irgendwann im Lauf der Zeit einfach beschlossen, dass er sein Leben hier leben „muss“, dass er es mit jemandem teilen will und dass er sich darum auch bemühen will. Auch jetzt noch kommt er dreimal pro Jahr mit ausgefülltem Trinktagebuch, und um Geschichten aus Amerika zu erzählen.

Literatur: Lesch OM, Walter H (2009), Alkohol und Tabak. Medizinische und soziologische Aspekte von Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit. Springer Verlag, Wien.