Johannes Steinhart: Zur prekären Finanzlage der Krankenkassen hat ganz sicherlich nicht beigetragen, dass die Kassen die Gesundheitsleistungen ausgeweitet haben. Vielmehr hat die Politik die Kassen massiv belastet, indem sie ihnen versicherungsfremde Leistungen aufgebürdet hat. Die Hebesätze für Leistungen an Pensionisten waren und sind nicht kostendeckend. Leistungen bei Mutterschaft werden nicht vollständig abgedeckt. Mindereinnahmen durch Leistungen an Arbeitslose und Mindereinnahmen aus Rezeptgebührenbefreiung und Deckelungen wurden und werden nicht ausreichend abgegolten.
In Wien wird häufig der Großstadtfaktor mit seinen Auswirkungen auf die Versorgung übersehen. Dieses Phänomen ist dafür verantwortlich, dass in Wien zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, HIV, Atemwegserkrankungen, Drogenmissbrauch oder Depressionen häufiger vorkommen als in ländlichen Regionen. Auch von den versicherungsfremden Leistungen ist die WGKK in besonderem Maß betroffen.
Die Lasten der sogenannten Kassensanierung haben Patienten und Ärzte getragen. Die Ärzte durch den Abbau von Kassenstellen, durch in der Regel sehr bescheidene Honorarabschlüsse, durch Deckelungen und degressive Honorargestaltungen. Unsere Patienten tragen die Lasten nicht zuletzt durch lange Wartezeiten und dadurch, dass eine Reihe moderner Leistungen nicht oder nicht ausreichend von der Sozialversicherung abgedeckt werden. So werden Patienten konsequent und systematisch in die private Medizin getrieben.
Nach der Übererfüllung der politischen Finanzziele durch die Krankenkassen ist es jetzt dringend notwendig, in einen Ausbau der Gesundheitsversorgung durch niedergelassene Ärzte zu investieren und das Leistungsangebot der Krankenkassen zeitgemäß zu verbessern. Es fehlen in Österreich 1.300 niedergelassene Ordinationen mit Kassenvertrag, um die geplante Entlastung der Krankenhäuser zu verwirklichen. Wir brauchen mehr Zeit für Beratungsgespräche und Zuwendungsmedizin. Auch nichtmedikamentöse Therapien wie Physikalische Medizin, Psycho-, Ergo- oder Logotherapie auf Kassenkosten müssen forciert werden. Unsere Patienten würden auch von einem Ausbau der Präventionsprogramme und deutlich aufgewerteter Vorsorgeuntersuchungen profitieren. Es gibt also viel Raum für sinnvolle Investitionen in die Gesundheitsversorgung.
Es mutet doch eigenartig an, wenn Krankenkassen und Gesundheitsministerium über Finanzerfolge der Sozialversicherung jubeln wie die Chefs börsennotierter Großkonzerne. Die soziale Krankenversicherung ist nicht dazu da, Gewinne zu erwirtschaften, und sie hat sich auch nicht als Sparverein zu gebärden. Sie hat die Aufgabe, für eine soziale und solidarische Absicherung und für eine optimale, zeitgemäße medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sorgen. Die von den Kassen eingesparten Beträge müssen deshalb der Optimierung der Gesundheitsversorgung zugutekommen.
Dass die Realität leider anders ausschaut, zeigt ein Beispiel: Zwischen den Jahren 2000 und 2012 wurden in Österreich rund 900 Kastenstellen abgebaut, und das bei zunehmenden Bevölkerungszahlen. Sparen um des Sparens willen wäre bei einem so sensiblen Gut wie der Gesundheit fatal.
Die Politik behauptet, die – teuren – Spitalsambulanzen entlasten zu wollen, indem der – vergleichsweise billige – niedergelassene Bereich gestärkt wird. Das ist sinnvoll, wenn man es richtig macht. Doch tatsächlich haben wir in Österreich immer weniger niedergelassene Ärzte mit Kassenvertrag, in einer Reihe von Fächern gibt es keine oder so gut wie keine. Die Ärztekammer hat Modellpläne vorgelegt, wie eine Verlagerung von Leistungen in den niedergelassenen Bereich gelingen kann – leider wurde das einmal mehr von der Gesundheitspolitik nicht aufgegriffen. Klar ist aufgrund unserer Berechnungen, dass der niedergelassene Bereich mit seinen mehr als 94 Millionen Patientenkontakten jährlich weitaus günstiger arbeitet als die Spitalsambulanzen mit ihren rund 17 Millionen Kontakten. Für einen erfolgreichen Umbau braucht es Investitionen in die Strukturen im niedergelassenen Bereich.
Die demografische Entwicklung zeigt ein Ansteigen der Gesamtbevölkerung und eine Zunahme der Zahl der über 65-Jährigen. Das bedeutet einen ständig steigenden medizinischen und pflegerischen Aufwand. Dieser kommt extramural weit billiger als intramural. Statt aber die Patientenströme in Richtung Spitalsambulanzen auffangen zu können, kämpfen die niedergelassenen Ärzte mit immer weniger werdenden Ressourcen im extramuralen Bereich. Zusätzliches Geld für die Versorgung kann auch ein Verzicht auf die elektronische Gesundheitsakte in der derzeit bekannten Form bringen, weil die mit ELGA anfallenden Kosten heute unabsehbar sind.
Das „Landarzt-Sterben“ könnte mit einer Reihe von Maßnahmen gestoppt werden. Erstens durch ein leistungsgerechtes Honorarsystem. Ein Landarztzuschlag sowie Aufhebung der Limitierungen und Degressionen sollen den Beruf attraktiver machen und die Versorgung absichern. Zweitens durch die Beseitigung rechtlicher Hürden für Hausapotheke in einem „dualen System“, in dem Ärzte und öffentliche Apotheken in einem fairen Miteinander Arzneimittel abgeben können. Drittens sollen familienfreundlichere Arbeitsbedingungen die landärztliche Versorgung sichern. Das bedeutet z.B. Anstellungen von Ärzten bei Ärzten, Gruppenpraxen, Teamarbeit in Hausarzt-Praxen, Praxis-Netzwerke, Time-Sharing-Praxen und geeignete Formen der Vertretung. Erforderlich ist auch eine Ausbildungsreform mit verpflichtender, einjähriger, öffentlich finanzierter Lehrpraxis. Das alles kostet etwas Geld, aber wäre gut investiert. Denn anders wird die medizinische Versorgung auf dem Land nicht zu sichern sein.
Angesichts der Tatsache, wie sehr der niedergelassene Bereich ausgehungert wurde und wird, kann man zu zwei Schlussfolgerungen kommen: Entweder ist den Verantwortlichen noch immer nicht bewusst, wie sehr Leistungsdeckelungen, degressive Honorare und die Behinderung moderner Formen der Zusammenarbeit zwischen Ärzten zu einer Behinderung des niedergelassenen Bereichs beitragen. Oder aber, man weiß das genau, und es geht der Politik gezielt darum, niedergelassene Ärzte an der optimalen Erfüllung ihrer Aufgaben zu hindern, um sie durch anonyme Versorgungszentren ersetzen zu können.
Einige Beispiele von vielen sind die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Nuklearmedizin und die Strahlentherapie. Eine 2012/2013 durchgeführte Studie in Wien hat gezeigt, dass Wartezeiten bei Kontrollterminen von einem Monat keine Seltenheit sind, auch Wartezeiten bis zu drei Monaten wurden registriert. Hier wird in vielen Fachrichtungen, beispielsweise in der Frauenheilkunde, der Augenheilkunde, der Chirurgie und der Neurologie der bestehende Fachärztemangel besonders offensichtlich.