„Einer hat immer das Bummerl“

2015 wird weiter an der Umsetzung der Gesundheitsreform gearbeitet; um eine integrierte Versorgung zu realisieren, hat die Ärztekammer Konzepte erarbeitet: „zur Verbesserung des Stellenplanes, um die Versorgungslücken zu schließen, zum Ausbau der Leistungspalette im niedergelassenen Bereich, um genügend Ärzte in zeitlicher und räumlicher Verfügbarkeit zu haben, wenn Leistungen aus dem stationären in den extramuralen Bereich verlagert werden – und zwar mit entsprechender Honorierung, das ist eine conditio sine qua non! Es darf keine Limitierungen und Degressionen geben, schon gar nicht bei Mehrarbeit und steigenden Kosten“, meint ÖÄK-Präsident Dr. Artur Wechselberger.
Auch der nichtärztliche Versorgungsbereich (v.a. Pflege, Physiotherapie) müsse ausgebaut und bezahlt werden: „Ärzte sind Unternehmer, die, wenn sie ein entsprechendes Team um sich haben, auch dementsprechend gezahlt werden müssen. Die Sozialversicherung muss entweder Verträge mit den nichtärztlichen Berufsangehörigen abschließen oder der Arzt bekommt mehr Honorar, wenn er eine Pflegekraft anstellt.“
Spannend wird auch, wer in der Primärversorgung dann wofür verantwortlich ist – laut Gesetz kann der Arzt ärztliche Tätigkeiten an einen nichtärztlichen Beruf delegieren, wenn dessen Berufsbild diese Tätigkeit umfasst. „Der Arzt trägt dann die Anordnungsverantwortung; die Pflege, die Durchführungsverantwortung. Hier müssen wir aufpassen, dass es nicht zu medizinisch nicht vertretbaren Kompetenzverschiebungen oder unklaren Kompetenzzuordnungen kommt – sonst wird das Thema Verantwortung schwierig. Eine stringente Systematik ist sehr wichtig.“
Er fordert auch eine Erweiterung der Hausapotheken, „sonst bricht ein großer Teil der Gesundheitsversorgung weg“. Hausapotheken seien am Land außerdem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die niedergelassenen Kollegen.

Freiheit für alle Formen der ärztlichen Zusammenarbeit

Wechselberger fordert moderne Arbeitsmöglichkeiten für die Kollegen: „Wir brauchen Freiheit in der Zusammenarbeit, in allen Formen! Das derzeitige Gruppenpraxisgesetz ist ein Verhinderungssgesetz. In ein neues Konzept müssen auch die Wahlärzte miteinbezogen werden; die strikte Trennung in Wahl- und Kassenarzt wird à la longue nicht aufrechtzuerhalten sein.“
Zur Entwicklung des beträchtlichen Privatmarktes neben den Kassenstellen hätten gemäß dem Motto „Diese Kassenmedizin tu ich mir nicht an“ u.a. die Kontrollen von Vertragsärzten sowie die Nichtfinanzierung von Leistungen beigetragen.
Wechselberger hofft, dass die ÖÄK frühzeitig in Strukturfragen eingebunden wird, denn „wir haben einen reichen Erfahrungsschatz und wissen, welche Probleme auf welchem Weg gelöst werden können. Schreibtischkonzepte ohne Realitätsbezug bringen uns hingegen nicht weiter.“ Er kritisiert, dass „in den oberen Planungsebenen nichts weitergeht. Da finden nur theoretische statistische Planspiele statt. Die Politik entscheidet anhand von theoretischen Konzepten, z.B. Studien zur Primärversorgung aus den USA oder Holland, aber diese Systeme lassen sich nicht mit Österreich vergleichen! Die Ärztekammer wurde aus dem gesamten Prozess der Zielsteuerung ausgegrenzt. Schade um die damit vertanen Chancen!“

Das virtuelle Budget ist absurd

Von dem geforderten Prinzip „Geld folgt Leistung“ müsse man sich verabschieden, denn „die Krankenhäuser haben kein Geld. Das muss aus der Sozialversicherung kommen, da dort der gesetzliche Versorgungsauftrag liegt. Und wenn die Sozialversicherung mit dem Geld nicht auskommt, muss sie zum Gesetzgeber gehen und die entsprechenden Ressourcen einfordern. Das virtuelle Budget ist absurd, wenn es einen Partner gibt, der nichts hineinzahlen will und einen anderen, der nichts hineinzahlen kann. Die heiße Kartoffel wird nur hin- und hergeworfen, bis einer das Bummerl hat. Aber dieses Denken zwischen den beiden Töpfen Land und Sozialversicherung muss ein Ende haben.“

Umwegrentabilität müsse einbezogen werden

„Bei guter, wohnortnaher Versorgung erspart man sich z.B. Alten- und Pflegeheime oder stationäre Aufenthalte, die viel teurer sind als Hausarzt und externe Pflege. Außerdem können die Patienten oft rascher genesen oder früher in den Arbeitsprozess eingegliedert werden und sind in ihrem eigenen sozialen Umfeld auch psychisch stabiler. Das Geld kommt also über Umwege wieder zurück.“

Weltklassemedizin ade?

Ausgehend von den Diskussionen um Ärztearbeitszeiten und den Honorarverhandlungen wurde bereits von einigen Spitzenmedizinern vor einem Untergang der „Weltklassemedizin“ in Österreich gewarnt.
Sieht Wechselberger auch einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems? „Jein, dazu bin ich zu sehr Optimist, um Katastrophen herbeizureden. Aber wir ernten jetzt die Früchte des Nicht-Reagierens bzw. Falsch-Agierens der vergangenen Jahre und werden eine mehrjährige Versorgungslücke haben, bis die ersten Gegenmaßnahmen greifen.“ Allerdings sei z.B. in Innsbruck die nephrologische Ambulanz – der Hauptdienstleister für Nierenkranke – bereits an zwei Tagen in der Woche nicht mehr geöffnet. Ähnliche Probleme könnten landesweit auftreten.
In der Regelarbeitszeit werde es in den Spitälern zu einer Arbeitsverdichtung kommen. Der geplante und notwendige Ausbau der Tagespräsenz sei ein Wiener Phänomen, da in den anderen Bundesländern durchgehende Arbeitszeiten bis zum späten Nachmittag üblich sind.

Wo bleiben Wissenschaft, Forschung und Lehre?

Wechselberger ortet in diesem Zusammenhang einen Denkfehler, denn „Österreich lebt von geistigen Leistungen seiner Bürger. Unsere Ressourcen befinden sich in den Köpfen der Menschen – umso wichtiger ist es, universitäre Lehre und Forschung zu fördern! Forschung kann nicht nur ein Appendix von Lehreinrichtungen sein, sie muss autonom sein und ausreichend Mittel haben. Es ist geradezu beschämend, wenn gerade in diesem Bereich um jeden Euro gefeilscht werden muss. Jeder hier investierte Euro kommt doch x-fach vermehrt zurück. Ich unterstütze daher jede Forderung, die von den Universitätsangehörigen kommt. Aber auch hier ist ressortübergreifendes, umfassenderes Denken notwendig – es kann nicht nur ein einziges Ministerium sein, das gefordert ist.“

Finanzierung der Lehrpraxen?

Zur leidigen Frage der Lehrpraxen-Finanzierung meint Wechselberger: „Die Sozialversicherungen zeigen eine gewisse Bereitschaft, aber das erscheint mir als eine höchst bedenkliche Entwicklung – Ärzte in Ausbildung sollen bei der Sozialversicherung angestellt sein? Wir wollen, dass gute Allgemeinmediziner und keine Spar- oder Kontrollärzte ausgebildet werden. Ärzte müssen den Patienten verbunden sein und nicht sparen als Ziel haben. Das Ministerium hat kein Geld und kürzt sogar Förderungen. In einigen Ländern (Vorarlberg, Salzburg) besteht eine gewisse Bereitschaft, mitzuzahlen. Das könnte einige Vorteile haben. Aber dazu müssen bundeseinheitliche, konkrete Finanzierungsmodelle entwickelt werden.“

Maulkorb für Primarärzte?? Aber hallo!

Und was meint der ÖÄK-Präsident zum Thema „Maulkorberlass für Primarärzte“ am Wiener AKH? „Von einer solchen Maßnahme halte ich überhaupt nichts. Ich gehe davon aus, dass die Kollegen wissen, wann und warum sie etwas zu einer bestimmten Problematik sagen. Ein ‚Maulkorb‘ ist in meinen Augen nicht zeitgemäß!“