„Freie Arztwahl“ – ein Missverständnis?

Die Sache ist relativ einfach. Univ.-Prof. Dr. Manfred Maier, Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin der MedUni Wien, erklärte gegenüber der Ärzte Krone: „Was wir in Österreich als ‚freie Arztwahl‘ verstehen, ist im Endeffekt der völlig ungelenkte Zugang der Patienten zu allen medizinischen Versorgungsebenen. Das führt zu einer Überlastung des Spitalssektors, schwächt die Primärversorgung, verursacht auch mehr Kosten für das Gesundheitswesen und zusätzliche Risiken für die Patienten.“
Maier kann das mit sprichwörtlichem „Fug und Recht“ so formulieren. Erstautor Dr. Otto Pichlhöfer und er haben vor kurzem in der Fachzeitschrift European Journal of Public Health (dzt. online) die Ergebnisse einer Studie mit der Befragung von 3.500 Österreichern im Alter von über 16 Jahren über ihr „Gesundheitssystem-Verhalten“ im der Umfrage vorangegangenen Monat publiziert. Die Hauptergebnisse: Von 1.000 Personen hatten 646 in Österreich irgendein Gesundheitsproblem. Das brachte schließlich 460 in ärztliche Behandlung. Nur 336 Personen konsultierten auch einen niedergelassenen Hausarzt.
Dafür gehen die Österreicher unverhältnismäßig oft zum Facharzt: 206 von 1.000 Personen – viele, ohne vorher den Hausarzt gesehen zu haben. In einer Spitalsambulanz finden sich 78 von den 1.000 ein. Die Folgen: 35 Patienten wurden stationär in ein Krankenhaus aufgenommen, drei gar in eine Uni-Klinik. Maier: „Im Vergleich zu einer ähnlichen Studie in den USA zeigte sich eine 2,3-fach häufigere Ambulanzfrequenz, die Hospitalisierungsrate der Österreicher liegt beim 4,4-Fachen, ebenso die Aufnahmehäufigkeit in eine Universitätsklinik.“

Nicht „Gate Keeper“, sondern „Gate Opener“

Für Maier ist der in Österreich seit vielen Jahren von der Gesundheitspolitik hochgehaltene, ja geradezu tabuisierte Begriff der „freien Arztwahl“ eine Fehlinterpretation.
„In anderen Ländern meint man damit die Wahlfreiheit auf einer Versorgungsebene, also zum Beispiel die Wahlfreiheit unter den verschiedenen vorhandenen Hausärzten.“
Umgekehrt wird laut dem Wiener Fachmann auch mit dem Begriff „Gate Keeping“ bei einem immer wieder geforderten und gestärkten Hausarztsystem eine falsche Bedeutung suggeriert: „In einem guten System mit gestärkter Primärversorgung durch niedergelassene Hausärzte sind die Allgemeinmediziner nicht ‚Gate Keeper‘ (Torwächter), sondern ‚Gate Opener‘ (Türöffner) zum Gesundheitssystem.“ Der niedergelassene Hausarzt hat damit eine positive und konstruktive und keine restriktive Rolle.

Schwächung der Primärversorgung

Die Fehlentwicklung schädigt direkt die Primärversorgung und die niedergelassenen Allgemeinmediziner. Maier: „Die Daten unserer Studie zeigen, dass die Patienten die Gesundheitseinrichtungen häufig in beliebiger Folge und unkoordiniert aufsuchen; damit kann die Primärversorgung ihren Kernaufgaben gar nicht nachkommen.“
Sowohl die „umfassende Versorgung von häufig vorkommenden Gesundheitsstörungen der Bevölkerung“ sowie gegebenenfalls – wenn medizinisch notwendig – die gezielte Überweisung zu höheren Versorgungsebenen und „die Koordination der Versorgung durch Kommunikation mit allen Versorgungsebenen inklusive zentraler Dokumentation“ könnten so nicht adäquat erfüllt werden. Die Abstimmung und Integration der verschiedenen Versorgungsvorschläge oder Maßnahmen der Fachärzte oder Ambulanzen kämen dabei ebenso unter die Räder wie schlichtweg die Versorgungsgerechtigkeit.
Maier: „Das trifft besonders auf Menschen aus vulnerablen Bevölkerungsgruppen zu: auf Patienten mit psychischen Erkrankungen, Multimorbidität, notwendiger Polymedikation, Sprachproblemen und Migrationshintergrund.“ Fazit: Eine Primärversorgung, die durch das System daran gehindert wird, ihre fachspezifischen Kapazitäten und Kompetenzen zu entwickeln und umzusetzen, wird wohl immer das schwächste Glied in der Versorgungskette bleiben. Das wird zum Nachteil der Patienten und des Gesundheitssystems. Maier: „Wenn der Hausarzt wirklich die Koordination der medizinischen Versorgung des Patienten übernimmt und bei ihm die Informationen zusammenlaufen, dann erfüllt er alleine dadurch zum Beispiel auch einen beträchtlichen Teil der Funktionen, die man mit ELGA etc. einmal abdecken will.“
Wenn man bedenkt, dass die medizinisch oft nicht notwendige Inanspruchnahme von Spitalseinrichtungen durch „ungelenkte“ Patienten auch direkte Risiken für die Patienten bringt, wird die Angelegenheit noch problematischer. Maier: „Bei 8–12% der Patienten kommt es im stationären Bereich in der EU zu unerwünschten Vorkommnissen oder Zwischenfällen.“

Was die Hausärzte brauchen

Die Verantwortlichen im Gesundheitssystem agieren oft vom grünen Tisch aus und glauben, mit der einen oder anderen kleinen Änderung die politische Absichtserklärung nach einer Stärkung der Primärversorgung zu erfüllen. Dass dies nicht funktioniert, zeigt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Was die Primärversorgung bzw. die österreichischen Hausärzte wirklich brauchen würden hat Maier erst vor Kurzem in einem Editorial im European Journal for General Practice zusammengefasst.

Hier die wichtigsten Punkte:

  • Eine Stärkung der Primärversorgung kann nur erreicht werden, wenn die Hausärzte tatsächlich eine starke Position im Gesundheitssystem haben, indem sie den Zugang zur Sekundär- und Tertiärversorgung koordinieren. Wenn Patienten – wie dies in Österreich der Fall ist – für sich selbst entscheiden können, welche Ebene der Gesundheitsversorgung sie für ihr Gesundheitsproblem wählen, führt dies zu einer hohen Hospitalisierungsrate von Patienten mit Anliegen, die sehr wohl auch ambulant im Primärversorgungsbereich zufriedenstellend versorgt werden können, und die Position der Primärversorgung wird unterminiert.
  • Die in der Primärversorgung tätigen Hausärzte brauchen Anerkennung und Respekt in der Öffentlichkeit, bei Politikern und auch in der Kollegenschaft – eben wie es ihrer Bedeutung im Gesundheitssystem entspricht.
  • Die Honorierung der Hausärzte muss ihrer Bedeutung im Gesundheitswesen entsprechen. Noch immer ist sie in Österreich niedriger als in anderen Ländern oder als jene anderer Ärzte.
  • Die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsmöglichkeiten müssen den Anforderungen an eine starke Primärversorgung entsprechen (moderne Medikation, moderne Diagnosemöglichkeiten etc.).
  • Zeitgemäße und praxisorientierte universitäre Ausbildung für alle Studierenden mit verpflichtender angemessener Beteiligung der Allgemeinmedizin und der Miteinbeziehung von angeschlossenen Lehrpraxen.
  • Spezifische Weiterbildung und adäquates Training, damit alle Absolventen die Kompetenz zu Versorgung nicht vorselektionierter Patienten aufweisen (Lehrpraxis)
  • Förderung der Forschung im Bereich der Primärversorgung (auch: Versorgungsforschung).