Gendermedizinin der täglichen Praxis

Die Gendermedizin entwickelte sich ursprünglich aus der Frauenrechtsbewegung in Amerika in den 1980er-Jahren1 und befasste sich zunächst vor allem mit Frauengesundheit, wobei die Frauengesundheitsberichte als Vorlage für die ersten Männergesundheitsberichte dienten (Abb. 1).
Die ersten Themen betrafen neben Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper vor allem die Kardiologie und die Psychiatrie sowie den Bereich Public Health. Die Gendermedizin ist dann erst mit Beginn der Jahrhundertwende in Europa richtig bekannt geworden und mittlerweile in den meisten europäischen Ländern zumindest universitär in den wichtigsten Disziplinen eingebunden. Besonders hervorzuheben sind hier das Karolinska-Institut in Stockholm, die Charité in Berlin und in Österreich die Medizinischen Universitäten Wien und Innsbruck. 2007 wurde die Österreichische Gesellschaft für Gendermedizin gegründet2 und 2010 der erste Lehrstuhl für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien besetzt.

 

 

Der interdisziplinäre, wissenschaftliche Zugang der Gendermedizin erforscht biologische und psychosoziale Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen, die sowohl das Gesundheitsbewusstsein als auch die Entstehung und Wahrnehmung von Krankheiten betreffen wie auch den Umgang mit diesen. Sie basiert auf dem „biopsychosozialen Gesundheitsmodell“.
Untersucht werden die Unterschiede der normalen menschlichen Biologie zwischen Männern und Frauen – und wie die Symptome, Mechanismen und die Behandlung in Abhängigkeit vom sozialen Geschlecht variieren3. Es ist ein integrativer Gesundheitsansatz von körperlichen, Umwelt-, Erfahrungs- und Gesellschaftsfaktoren. Evolutionsbiologisch haben sich die physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen weiterentwickelt und über die Zeit verfestigt, um die beste Überlebensstrategie zu ermöglichen: Die biologische Basis bilden Unterschiede in den Genen, den Geschlechtschromosomen sowie den Sexualhormonen, und diese zeigen sich in der Anatomie, den Geschlechtsorganen, aber auch in Unterschieden in allen Organsystemen und Zellen. Daneben berücksichtigt die Gendermedizin aber eben auch immer die soziokulturelle Dimension. Das ist sehr wichtig, da soziokulturell geprägte Phänomene wie Lebensstil, Stress oder Umwelt über das Epigenom die Biologie und somit die medizinischen Grundlagen beeinflussen.
Die korrektere Bezeichnung wäre somit eigentlich „Sex- und Gendermedizin“, oder eben im deutschen Sprachgebrauch „geschlechtsspezifische Medizin“, da die aus dem angloamerikanischen Raum kommende Benennung Gender Medicine oft verwirrt: Mit „gender“ ist ja primär das soziale Geschlecht, mit „sex“ das biologische bezeichnet. In der Gendermedizin geht es aber eben um beides, wobei sich die biologischen und Umwelteinflüsse wechselseitig beeinflussen und in der Praxis oft kaum voneinander zu trennen sind (Abb. 2).4

 

 

Endokrinologie: die ideale Grundlage

Da die Hormone einen wesentlichen Einfluss auf Krankheitsentstehung und -progression haben, ist die Endokrinologie die ideale Grundlage für alle Bereiche der Gendermedizin; auch der fächerübergreifende Ansatz und die Interdisziplinarität sind bei beiden Bereichen wichtig. Der Glukose- und Fettstoffwechsel sowie der Energiehaushalt unterscheiden sich bei gesunden Frauen und Männern – besonders auch bei verschiedenen Störungen wie Adipositas und Diabetes. Diesen stark zunehmenden Gesundheitsproblemen werden deshalb auch die nächsten beiden Ausgaben gewidmet sein.
Ziel der Gendermedizin ist jedenfalls, die Lebensqualität über die gesamte Lebensspanne zu erhalten und eine optimale medizinische Versorgung zu ermöglichen, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen in der Prävention, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation berücksichtigt werden. Die geschlechtsabhängigen Unterschiede sind teilweise augenfällig, teilweise subtil und in vielen Bereichen noch wenig bekannt. Durch ihre Komplexität und Interdisziplinarität trägt die Gendermedizin daher zu einem umfassenderen Verständnis und damit zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Männern sowie Frauen bei.
Unterschiede finden sich in der Prävalenz und Inzidenz, im Altersgipfel, im klinischen Erscheinungsbild und im Schweregrad bei vielen Erkrankungen.
Ab der Pubertät leiden Frauen vermehrt an Essstörungen, Angststörungen, Depressionen, Schmerzzuständen (von Reizdarmsyndrom, Migräne bis zum PMS), rheumatischen Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen (von Schilddrüsenfunktionsstörungen bis zur multiplen Sklerose). Postmenopausal nehmen dann bei Frauen die NCD zu, im hohen Alter leiden sie öfter an Osteoporose, Alzheimer und geriatrischen Syndromen. Männer hingegen haben schon perinatal eine viel höhere Sterblichkeit und versterben in jungen Jahren öfter an externen Todesursachen sowie im mittleren Lebensalter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Tumoren.
Gendermedizin unterstreicht die Diversität der Menschen in der Medizin, zielt auf Chancengleichheit in der Medizin ab, in dem Sinne, dass jede und jeder die für ihn bestmögliche differenzierte Gesundheitsförderung und Behandlung bekommt. Die Lebensqualität soll verbessert und die Spanne der gesunden Lebensjahre bei Männern und Frauen verlängert werden. Da besteht in Österreich für beide Geschlechter ein Aufholbedarf im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, am stärksten ist der Unterschied aber bei den Frauen. Es geht dabei in der Gendermedizin aber nicht um einen feministischen politischen Hintergrund, sondern um einen sachlich-wissenschaftlichen Diskurs. Gendermedizin ist auch nicht Frauenmedizin. Tatsächlich sind sowohl die Frauen- als auch die Männergesundheit wichtige Teilgebiete der Gendermedizin, auch in der Männergesundheitsforschung gibt es noch viele offene Fragen und wenig untersuchte Bereiche.
Dennoch, da die Medizin lange Zeit männerzentriert war und das weibliche Geschlecht in allen Studienphasen und -arten ungenügend eingeschlossen war und ist, fehlen gerade bei Frauen evidenzbasierte Empfehlungen, und es besteht bei vielen Erkrankungen ein großer wissenschaftlicher Aufholbedarf, insbesondere aufseiten der Frauen. Frauengesundheit ist deshalb weiterhin ein Schwerpunkt der Gendermedizin.

Problem der geschlechtsneutralenMedikamentenforschung

Gendermedizin ist auch bei der personalisierten Medizin der Zukunft nicht außer Acht zu lassen5, und geschlechtsspezifische Aspekte sind sowohl in der Grundlagenforschung als auch translational in der angewandten klinischen Forschung wichtig! Immer werden neben biologischen Fakten, Genvarianten und Biomarkern auch seelische und soziale Gegebenheiten bei Männern und Frauen, das Geschlecht neben Alter, Gewicht und Lebensstil beachtet werden müssen! Kulturelle Besonderheiten in Geschlechterrollen, Lebensmodellen und Gesundheitsverhalten sind zunehmend durch Migrationsbewegungen auch bei uns relevant.
Ein besonderes Problem ist eine geschlechtsneutrale Medikamentenforschung und -verordnung. Nach wie vor ist eine zu geringe Zahl an Frauen in klinische Studien eingeschlossen, und der Hormonstatus bleibt meist unberücksichtigt. Insofern verwundert es nicht, dass weiterhin der Großteil der Medikamentennebenwirkungen bei Frauen verzeichnet wird. Gerade bei älteren Frauen findet man oft eine Polypharmazie und gefährliche Medikamenteninteraktionen.
Mittlerweile ist Gendermedizin in Österreich im Medizinpflichtstudium in Wien und Innsbruck fix integriert. Zudem gibt es bereits viele fachspezifische Fortbildungsangebote. An der Medizinischen Universität Wien wird seit 2010 ein berufsbegleitendes Masterstudium in Form eines zweijährigen postgraduellen Universitätslehrgangs angeboten.6 Die Medizinischen Universitäten Wien und Innsbruck bieten außerdem gemeinsam mit der Ärztekammer die Möglichkeit einer vertieften Ausbildung in Gendermedizin in Form eines österreichischen Ärztekammerdiploms an7, das Ärztinnen und Ärzten der Allgemeinmedizin sowie aller anderen Fachbereiche die Möglichkeit gibt, aktuelle Erkenntnisse in ihren klinischen Alltag zu integrieren und selbst geschlechtssensitiv zu (be-)handeln.
Letztlich sind schließlich die Umsetzung der Erkenntnisse in den klinischen Alltag und Anwendungserfolge entscheidend!
Ein Modell der praktischen Umsetzung bei Frauen ermöglichen Frauengesundheitszentren sowie das Frauengesundheitsressort la pura, das in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien basierend auf neuesten Erkenntnissen der Gendermedizin innovative Konzepte für frauenspezifische Prävention und Gesundheitsprobleme anbietet und laufend weiterentwickelt.
Woran es derzeit aber insgesamt neben weiterführender Genderforschung noch am meisten fehlt, ist die flächendeckende praktische Umsetzung des bereits vorhandenen und täglich mehr werdenden Wissens um geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin. Das können teilweise kleine Anpassungen sein, teilweise sind aber auch neue Ansätze erforderlich.
Es geht jedenfalls nicht um einen Kampf der Geschlechter, sondern darum, gemeinsam optimierte individuelle Lösungen zu finden. Schon um 1900 sagte Rosa Mayreder, eine Pionierin der Frauenbewegung, die sich gegen die Tyrannei der Norm von Männer- und Frauenrollen, für die Individualität und Bildung einsetzte: „Die beiden Geschlechter stehen in einer zu engen Verbindung, sind voneinander zu abhängig, als daß Zustände, die das eine treffen, das andere nicht berühren sollten.“

 

Literatur:

1 Kautzky-Willer A, Tschachler E, Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. 1. ed. Wien: Orac 2012

2 Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. [cited 05. Februar 2015]; available from: http://www.gendermedizin.at/

3 Thomas A, Kautzky-Willer A, Gender Medizin. In: Drink B, Nagelschmidt I, editors. Gender Glossar/Gender Glossary. Leipzig: Universität Leipzig 2015. p. 7 Absätze

4 Kautzky-Willer A, Gendermedizin. Geschlechtsspezifische Aspekte in der klinischen Medizin. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2014; 57(9):1022–30

5 Kautzky-Willer A, Gendermedizin. 1. ed. Wien, UTB 2012

6 Medizinische Universität Wien. Universitätslehrgang Gender Medicine. 2010 [updated 07. März 2017; cited 24. April 2017]; available from: https://www.meduniwien.ac.at/hp/ulg-gendermedicine/

7 Akademie der Ärzte. ÖÄK-Diplom Gender Medicine. 2014 [cited 24. April 2017, 17. September 2014]; available from: https://www.arztakademie.at/oeaeknbspdiplome-zertifikate-cpds/oeaek-spezialdiplome/gender-medicine/