Gesundheitssysteme krisenfest machen

Wie Europas Gesundheitssysteme angesichts der zum Teil dramatischen Auswirkungen von Wirtschaftskrise und Sparprogrammen auf Gesundheitsbudgets und die Gesundheit der Menschen krisenfest gemacht werden können: Diese Frage stand im Fokus des 16. European Health Forum Gastein vom 2. bis 4. Oktober 2013 in Bad Hofgastein. Werden Sparprogramme zu einem Risiko für das Gesundheitswesen, werden gesellschaftliches Wohlergehen und Entwicklung gefährdet, warnte EHFG-Präsident Prof. Dr. Helmut Brand. Daher brauche es eine auf Resilienz und Innovation zielende Gesundheitspolitik.
Gesellschaftliche Strukturprobleme wie Arbeitslosigkeit, Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Ängste einer „generation jobless“, Einkommenseinbußen bei steigenden Lebenserhaltungskosten oder Budgetkürzungen im Bildungs- und Sozialbereich wirken sich negativ auf die Gesundheit der Menschen aus, so Brand. „In Ländern, die besonders unter der Wirtschaftskrise leiden, ist ein Zusammenhang zwischen einer drastischen Austeritätspolitik und der Verschlechterung des Gesundheitszustandes, der Zunahme psychischer Gesundheitsprobleme oder einer steigenden Rate von Infektionserkrankungen wie HIV besonders deutlich.“
Die Gesundheitssysteme brauchen zwar effizientere und schlankere Strukturen, um die beschränkt verfügbaren Ressourcen bestmöglich auf die Bedürfnisse und das Wohl der Menschen ausrichten zu können, so der EHFG-Präsident. „Aber hier sind innovative Zugänge gefragt. Kürzungen im Spitalsbereich ohne Aufbau adäquater ambulanter Kapazitäten, einschneidende Einsparungen beim medizinischen Personal oder die Einführung bzw. Erhöhung von Patienten-Zuzahlungen vermindern de facto Zugangsmöglichkeiten, Effizienz, Produktivität und Qualität des Gesundheitssystems.“
Im spanischen Katalonien ist etwa in der ersten Jahreshälfte 2011 die Zahl der Operationen um 6% zurückgegangen, bei gleichzeitigem Anstieg der Wartelisten um 23% – 17.000 Menschen waren betroffen. In Irland stieg unmittelbar nach Ausbruch der Wirtschaftskrise die Zahl der auf Wartelisten Eingetragenen um 9%.

Kontraproduktive Einsparungen im Personalbereich

Dass unbedachte Sparmaßnahmen dem Gesundheitsbereich Schaden zufügen und langfristig die Kosten erhöhen, anstatt zu senken, zeigen etwa Kürzungen im Personalbereich. „In Rumänien hatten massive Gehaltskürzungen um 25% im Jahr 2010 einen Exodus von etwa 2.500 Ärzten zur Folge.“

Um auch in Zeiten begrenzter Budgets den aktuellen Anforderungen entsprechen zu können, müssten Europas Gesundheitssysteme dringend krisenfest gemacht werden. „Gleichzeitig müssen in Zeiten von Wirtschaftskrise, Armut und psychischen Belastungen der Platz und die finanziellen Mittel für Innovationen sichergestellt werden. Investitionen in Gesundheit sind auch Investitionen in das soziale Wohlergehen, den Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung. In keinem anderen Bereich ziehen die Bürger mehr direkten Nutzen aus Innovation.“

Innovation auf dem Gesundheitssektor soll Kosten dämpfen

Trägheit, Starre und Innovationsfeindlichkeit sind zentrale Probleme der Gesundheitssysteme vieler Industrienationen. Sollen diese Systeme finanzierbar bleiben, müssen sie Beweglichkeit entwickeln, so der US-Ökonom Prof. Uwe Reinhardt. Gefragt seien kreative und radikale Lösungen, um ökonomische Privilegien auf dem Gesundheitssektor neu zu verteilen, etwa Innovationen in der Finanzierung und Verwaltung, aber auch mehr Eigenverantwortung der Menschen mit geeigneten Anreizen und Strafen.
„Die Entscheidungen auf dem Gesundheitssektor werden von einer Handvoll Leute getroffen, die nicht zuletzt davon leben, dass alles so weitergeht wie bisher. Deshalb werden entscheidende Fragen nicht gestellt, zum Beispiel: Was bekommen wir eigentlich für unser Geld?“, so Reinhardt. „Es fällt auf, dass es in Deutschland sehr viel mehr Ärzte gibt als in Großbritannien und es dennoch in Sachen Gesundheit gar nicht so gut abschneidet. In Skandinavien sind die Menschen gesünder als in Deutschland, und das bei viel niedrigeren Gesundheitsausgaben“, sagte Reinhardt.
Ursache der suboptimalen Ergebnisse manche Systeme sei deren Starre: „Zum Beispiel eine scharfe Trennung zwischen intra- und extramuraler Versorgung. In Zukunft müssen wir flexibler werden. In vielen europäischen Staaten stehen dem sehr rigide Institutionen entgegen. Benötigt werden phantasievolle, kreative und radikale Lösungen („disruptive innovation“), die dazu beitragen, ökonomische Privilegien auf dem Gesundheitssektor neu zu verteilen und die Ansprüche dieses Sektors an die staatlichen Ressourcen besser zu kontrollieren“, so Reinhardt: „Innovation wird oft nur als Kostentreiber wahrgenommen. Doch sie bezieht sich nicht nur auf Technologie mit oft exorbitanten Kosten. Sie soll auch die Finanzierung und Verwaltung der Gesundheitssysteme betreffen. Anders wird es nicht gehen. Wir brauchen Innovation nicht nur bei Medikamenten und Devices, sondern beispielsweise auch bei der Art der Verrechnung medizinischer Leistungen.“

Die wichtigste Innovation werde sein, Patienten dazu zu bewegen, ihre Gesundheit vermehrt selbst in die Hand zu nehmen. „In der Gesundheitsproduktion war der Patient bislang ein sehr passiver Faktor. Das sollte man auch mit finanziellen Anreizen und durchaus auch mit finanziellen Sanktionen unterstützen“, so Reinhardt. Allerdings benötige man auch Information, wie man einen gesunden Lebensstil gestalten kann: „Daher sollte in die Forschung zu Ernährung und Bewegung auch mehr Geld investiert werden, auch öffentliches Geld.“

„Mehr privat, weniger Staat“

Effizienzsteigerungen alleine werden für öffentlich finanzierte Gesundheitssysteme nicht ausreichen, um anhaltenden Spardruck zu bewältigen, sagte US-Experte Prof. Richard B. Saltman, Professor für Gesundheitspolitik und Management an der Rollings School of Public Health, Emory University, Atlanta, USA. Nachdem in Europa die öffentliche Hand jahrzehntelang den Großteil der Gesundheitsfinanzierung getragen habe, sei jetzt ein neuer Gesellschaftsvertrag notwendig. Die Rolle des öffentlichen Sektors müsse neu definiert werden. „Neue, nichtöffentliche Gelder müssen gefunden werden, und einige von der öffentlichen Hand erbrachte Leistungen werden durch informelle Pflege von Familienangehörigen oder privaten Stellen übernommen werden müssen.“
Solch eine grundlegende Neuausrichtung müsse den Kern der Absicherungsfunktion eines Wohlfahrtsstaates beibehalten. Das bedeute finanzielle Unterstützung für einkommensschwache Gruppen, aber alle anderen müssten wesentlich mehr Eigenverantwortung übernehmen. Eine solche Entwicklung erfordere einen neuen Gesellschaftsvertrag, der sich von der sozialen Logik des Nachkriegseuropa deutlich unterscheide, die vom Staat sowohl finanzielle Stabilität als auch einen gleichberechtigten Zugang aller zur Gesundheitsversorgung eingefordert habe, so Saltman.

Europas mobiler Gesundheitsmarkt boomt

Mehr als 97.000 mobile Apps aus dem Bereich Gesundheit und Fitness sind derzeit auf dem Markt. Ein Großteil dient Anwendern dazu, Vital-Parameter zu beobachten, viele bieten auch Basisinformationen und Tipps für einen gesünderen Lebensstil. Einer aktuellen Marktstudie von Research2Guidance zufolge soll der einschlägige Markt in den kommenden Jahren deutlich wachsen. Allein von den Top-Ten-Gesundheits-Apps sollen täglich bis zu 4 Millionen gratis und 300.000 bezahlt heruntergeladen werden. Bis zum Jahr 2017, so die Prognose, dürften bis zu 50% aller User von Mobilgeräten Gesundheits-Apps verwenden. Der europäische mHealth-Markt boomt, bis 2017 soll er Schätzungen zufolge ein Volumen von 5,4 Milliarden Euro erreichen.

Problematischer Alkoholkonsum macht Volkswirtschaften krank

Problematischer Alkoholkonsum verursacht nicht nur enorme gesundheitliche Schäden, sondern wirkt sich krankmachend auf Europas Wirtschaft aus. Die ökonomische Produktivitätseinbußen betragen 74 Milliarden Euro. „Krankenstände und Arbeitsausfälle, die auf gesundheitsschädigenden Alkoholkonsum zurückzuführen sind, sind zu einer massiven volkswirtschaftlichen Belastung geworden“, sagte Don Shenker, Direktor des britischen Alcohol Health Network.
Dabei fehlt es nicht an wirkungsvollen, leicht zugänglichen und zugleich kosteneffizienten Möglichkeiten, Alkoholprobleme und dessen Ausmaße am Arbeitsplatz zu identifizieren. „Dazu gehört der noch zu wenig genutzte AUDIT-Alkohol-Selbsttest, der als rascher und flexibler, international standardisierter Screening-Test eine Grundlage für den gezielten Einsatz von Kurzinterventionen bietet“, so Shenker. In Europa sind mehr als 7% aller Erkrankungen und frühzeitige Todesfälle auf problematischem Alkoholkonsum zurückzuführen. Beinahe die Hälfte der durch Alkoholprobleme verursachten volkswirtschaftlichen Kosten geht auf Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz zurück. „Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass Früherkennungs- und Kurzinterventionsprogramme am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle bei der Lösung dieses Problems spielen müssen“, so Shenker. Auf politischer Ebene müsse der Prävention von Alkoholproblemen am Arbeitsplatz noch mehr Priorität eingeräumt werden, forderte der Experte.

Präventionsprojekt ausgezeichnet

Jede Woche taucht eine neue psychoaktive Substanz im Internet auf. Wirkungen und Gesundheitsrisiken dieser Drogen sind kaum bekannt. Das multinationale Projekt ReDNet (Recreational Drugs European Network) widmet sich der Identifizierung und Erforschung dieser gefährlichen Chemikalien und stellt evidenzbasierte Informationen zur Verfügung. Das innovative Projekt wurde im Rahmen des European Health Forum Gastein mit dem mit 10.000 Euro dotierten renommierten European Health Award ausgezeichnet.
ReDNet generierte Ausgangsdaten über Verfügbarkeit und Missbrauch von mehr als 700 neuen psychoaktiven Substanzen und Produkten, die solche enthalten.