In die Ambulanz ohne Zuweisung

„Primary Health Care ist durch den Erstkontakt zwischen Hausarzt und Patienten, eine umfassende Betreuung, Koordinationstätigkeit für den Betroffenen und langfristige medizinische Versorgung charakterisiert. Das macht diesen enorm wichtigen Sektor des Gesundheitswesens aus“, sagte Univ.-Prof. Dr. Thomas Dorner vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien im Gespräch mit der Ärzte Krone.
Im European Journal of Public Health und in der Wiener Medizinischen Wochenschrift sind in der jüngsten Vergangenheit gleich zwei Studien der Experten des Public-Health-Zentrums Wien erschienen, in denen untersucht wurde, welche Patienten in Österreich die Betreuung durch den Hausarzt bevorzugen und welche hingegen häufiger ohne Überweisung zum Facharzt gehen bzw. als „Selbstzuweiser“ die Spitalsambulanzen frequentieren.
Dorner: „Wir haben die Daten des Austrian Health Interview Survey untersucht. Dabei wurden 15.474 Personen befragt. Es wurde auch erhoben, wie oft die Menschen im Jahr zuvor zum Hausarzt, Facharzt oder in die Krankenhausambulanz gingen bzw. ob sie stationär aufgenommen worden waren.“
Fazit: Wer angab, in den vorangegangenen zwölf Monaten eine Ambulanz, einen Facharzt oder gar das Spital aufgesucht zu haben, ohne zum Hausarzt gegangen zu sein, wurde quasi als „Selbstzuweiser“ qualifiziert.

Die Hauptergebnisse:

  • 78,8% der Befragten hatten zumindest einmal im vorangegangenen Jahr einen Hausarzt besucht, 67,4% einen Facharzt und 18,6% eine Krankenhausambulanz. 22,8% waren zumindest einmal im Spital stationär aufgenommen worden. Letzteres spricht deutlich für die oft kritisierte „Spitalslastigkeit“ im österreichischen Gesundheitswesen.
  • 15,1% der Befragten hatten einen Facharzt ohne Zuweisung durch den Hausarzt besucht, 8,5% eine Spitalsambulanz. 8,1% waren ohne Überweisung stationär aufgenommen worden. Auch das deutet ganz in die Richtung jener Vorarlberger Studie, die belegt hat, dass der Großteil der Ambulanzpatienten als „Selbstzuweiser“ eigentlich am besten beim Hausarzt aufgehoben wären.

Je gebildeter, desto eher direkt zum Facharzt

Drei Charakteristika sind offenbar besonders dafür ausschlaggebend, dass manche Österreicher die Betreuung durch den Hausarzt umgehen. Dorner: „Je älter die Menschen sind, desto eher gehen sie zum Hausarzt. Je höher der Bildungsstandard, desto eher gehen die Personen direkt zum Facharzt. Das Geburtsland ist ebenfalls ein bestimmender Faktor. Frauen, die in der Türkei geboren worden sind, nehmen sehr stark den Hausarzt in Anspruch. Männer mit dem Geburtsland Türkei hingegen frequentierten dreimal häufiger die Spitalsambulanzen und werden fünfmal häufiger im Krankenhaus aufgenommen.“
Skurril ist für den Wiener Experten der Umstand, dass besser Verdienende und Menschen mit höherer Bildung besonders häufig „Selbstzuweiser“ beim Spezialisten sind: „Sie glauben zu wissen, zu welchem Facharzt sie bei Beschwerden zu gehen hätten. Doch eigentlich sollten sie doch am ehesten erkennen können, dass sie beim Hausarzt mit 80% der Gesundheitsprobleme am besten aufgehoben sind. Es kann sogar gesundheitliche Nachteile nach sich ziehen, wenn man so beim falschen Facharzt landet.“ Es ist quasi eine „verkehrte Welt“, die sich diese Menschen aufbauen.
Der Vergleich der einzelnen Bundesländer zeigt ebenfalls zum Teil signifikante Unterschiede. Dorner: „Im Burgenland gehen nur 6,6% der Männer und 7% der Frauen zum Facharzt ohne Überweisung durch den Hausarzt. Vorarlberg und Wien sind anders. In Wien sind 16,7% der Männer und 21,5% der Frauen Selbstzuweiser, in Vorarlberg 20,3 bzw. 16,9%.“
Was die Public-Health-Experten ebenfalls belegen konnten: Die Dichte der Kassen-Hausärzte-Versorgung im jeweiligen Bundesland beeinflusst direkt die Frequenzen der Fachärzte und der Spitalsambulanzen. Dorner: „Wenn man den Primary Health Care-Sektor stärken will, bedarf es eines barrierefreien Zugangs, auch am Wochenende und in der Nacht. Die Hausärzte sollten die Patienten umfassend, auch als Koordinatoren und über lange Zeit hinweg betreuen können.“

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