Inkontinenz: neuromuskuläre Harmonie wiederherstellen

Die 23. Jahrestagung der Medizinischen Gesellschaft für Kontinenzhilfe Österreich (MKÖ) fand heuer am 18./19. 10. wieder im bewährten Kongresslokal des Ländlichen Fortbildungsinstituts in Linz statt. Aufgrund der Jahrestagung der Kontinenz- und Stomaberaterinnen am 17.10. ergab sich eine dreitägige Abfolge konzentrierter Wissensvermittlung für all jene, denen das Tabuthema Inkontinenz ein Anliegen ist. Dies sind vor allem einschlägig spezialisierte Angehörige des Pflegedienstes, Physiotherapeuten und Ärzte.
Die Tagung unter der Leitung von DGKS Martina Steinbeiß (KH der BHS, Linz) und Prim. Dr. Christoph Kopf (Abteilung für Chirurgie, KH Schärding) mit dem Titel „Kontinenz dank neuromuskulärer Harmonie“ war vorzugsweise Betroffenen mit neurologischen Defiziten gewidmet. Deshalb wurden wesentliche Vorträge auch von Experten von Rehabilitationszentren für Querschnittsgelähmte gehalten. Die Vorträge im Referateband finden sich unter www.kontinenzgesellschaft.at.

Sexualität und Inkontinenz

Zum Themenkreis „Sexualität und Inkontinenz“ befasste sich das erste Referat mit Potenz nach radikaler Prostatektomie, die nach beidseitig nervenerhaltender Operation in bis zu 86% der Fälle erhalten sein kann. Neben der Operationstechnik gibt es wesentliche Faktoren für den funktionellen Erfolg: die präoperative Potenz, Alter und Komorbiditäten, wie z.B. Diabetes mellitus; maßgeblich beteiligt an der postoperativen erektilen Dysfunktion ist auch die Neuropraxie, d.h. die intraoperative Läsion der Nerven trotz schonendster Operationstechnik. Therapie im Falle einer postoperativen Potenzstörung ist das Schwellkörpertraining, welches der Fibrosierungstendenz entgegenwirkt.
Vielschichtiger sind die Ursachen sexueller Funktionsstörungen nach koloproktologischen Eingriffen. Nicht nur können Rektumresektionen und Strahlentherapie die Nervi praesacrales schädigen, sondern es können morphologische Veränderungen, wie z.B. eine Vaginalstenose nach ausgedehnter anorektaler Resektion, Kohabitationen unmöglich machen. Verständlicherweise wird die Sexualität nach Anorektalchirurgie auch durch Schmerzen und eitrige Sekretion bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder lokalen septischen Komplikationen beeinträchtigt. Hinzu kommt die psychologische Hemmung aufgrund von Inkontinenz und Stoma. Wegen der Tabuisierung ist es besonders wichtig, Patienten aktiv zu befragen und mit ihnen gemeinsam eine therapeutische Strategie zu entwickeln.
Für das Problem einer radiogenen Vaginalstenose wurde im KH der Barmherzigen Schwestern in Linz durch interdisziplinäre Kooperation ein Ratgeber entwickelt. Dieser informiert Patientinnen schon vor der Strahlentherapie über mögliche Folgen und deren Behandlungsoptionen.
Wertvolles Wissen zu den komplexen Beziehungen zwischen Nervensystem, Organen und Muskulatur des kleinen Beckens vermittelten die Workshops zur „Basisinformation zu neurogener Blasen- und Darmstörung“ und zu deren „Therapie und Rehabilitation“, beginnend mit der Einführung in Pathophysiologie und Diagnostik bei der Blase, die zwei Aufgaben hat: Speicherung und Entleerung. Bei normaler Detrusorfunktion ist die Blase ein Niederdruckreservoir, welches Füllungsempfinden und Harndrang vermittelt, und somit die Kontinenz gewährleistet. Die normale Entleerung erfolgt willkürlich durch den physiologischen Druck ohne Zuhilfenahme der Bauchpresse, mit einer zügigen und restharnfreien Miktion dank der Synergie des kontrahierenden Detrusors und des gleichzeitig erschlaffenden Blasensphinkters.
Dyssynergien ergeben sich aus Störungen in den verschiedenen Niveaus des Nervensystems (NS): zentral – das pontine Miktionszentrum im Hirnstamm sowie Gyri, welche die Entscheidungen für die willkürliche Entleerung treffen; spinal – Abschnitte des Rückenmarks von Th12–L2 und S2–S5; peripher – die Nervi hypogastrici (Sympathikus – stellt die Blase ruhig), die Nervi pelvici (Parasympathikus – für die Entleerung) und der somatische Nervus pudendus. Suprapontine Läsionen führen zur „cerebral enthemmten Blase“ mit Detrusorüberaktivität (z.B. nach Insult, bei Demenz, M. Parkinson). Spinale Läsionen können mit Inkontinenz einhergehen, beispielsweise nach Rückenmarksverletzung oder bei multipler Sklerose (MS).

Neurogene Darmstörung oder MS?

Die Diagnostik neurogener Blasenstörungen hängt keineswegs von aufwändigen Apparaturen ab. Vielmehr sind Anamnese und klinische Untersuchung von höchstem Wert. Fragen wie „Spüren Sie Harndrang/Stuhldrang?“, die Führung eines Miktionstagebuches und die klinische Prüfung der Sensibilität in den Dermatomen S2 bis S5 können eine neurogene Störung ermitteln und sind einfaches Werkzeug – auch in jeder Ordination.
Die Pathophysiologie + Diagnostik beim Darm bringt neben dem zentralen und peripheren NS auch das ENS (Enterisches Nervensystem = „Bauchhirn“) ins Spiel, dessen 100 Millionen Neuronen mit den Regulatoren Sympathikus und Parasympathikus Verdauung, Peristaltik, Sekretion und Immunabwehr beeinflussen. Neurogene Darmstörungen manifestieren sich klinisch als chronische Obstipation oder fäkale Inkontinenz. In diesem Zusammenhang war eine besonders wichtige Botschaft, dass sich hinter den unterschiedlichsten Symptomen gelegentlich auch eine MS verbergen kann.
Die aktuellen Therapiekonzepte der Neuro-Urologie eines Schweizer Paraplegiker-Zentrums fokussieren auf letztlich lebensbedrohliche Aspekte bei neurogener Blasenfunktionsstörung (NBFS). Denn aus gestörter Speicher- und Entleerungsfunktion bei Patienten mit Querschnittslähmung resultieren Reflux, Abflussbehinderung und aufsteigende Harnwegsinfekte, die zu einer schweren Schädigung der Nierenfunktion führen können. Hinzu kommt die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Harninkontinenz. Hieraus folgt die klare Strategie, die Blase als Niederdruckreservoir wiederherzustellen – durch Dämpfung der Detrusorüberaktivität mittels Antimuskarinika oder Botox, wodurch auch Kontinenz erreicht wird.
Die Entleerung der Blase erfolgt dann durch intermittierenden Selbstkatheterismus (ISK). Verfahren zur Neuromodulation, Elektrostimulation oder Nervenregeneration als kausale Therapie sind noch im Stadium der Erprobung. Erster Schritt der neuro-urologischen Möglichkeiten in der Rehabilitation ist die Klassifikation der NBFS und die Evaluierung des Risikos für den oberen Harntrakt. Nach der Phase des spinalen Schocks ist die Urodynamik Grundlage für ein Rehabilitationskonzept, welches auch die mentalen und manuellen Einschränkungen der Betroffenen sowie ihr persönliches und zukünftiges berufliches Umfeld berücksichtigt – dies auf breiter interdisziplinärer Basis (Rehabilitationsmediziner, Urologe, Kontinenzschwester, Physio-, Ergotherapeutin u.a.). Während der Erstrehabilitation sind tunlichst keine irreversiblen operativen Eingriffe vorzunehmen, um später ein mögliches Regenerationspotenzial adäquat ausschöpfen zu können. Das Darmmanagement beim querschnittgelähmten Patienten befasst sich mit dem vordringlichen Problem der Stuhlinkontinenz wie auch mit einer fallweise ausgeprägten Obstipation. Wesentliche Ziele der Pflege sind geplante Darmentleerungen, idealerweise mit Suppositorien und Laxantien, diätetische Beeinflussung der Stuhlkonsistenz, insbesondere durch reichliche Flüssigkeitszufuhr. Eine gründliche Darmentleerung wird durch die transanale Irrigation mit Wasser erreicht, welche allerdings erst nach der Phase des spinalen Schocks zur Anwendung kommen darf. Zu ihren Kontraindikationen gehören naturgemäß chronisch entzündliche Darmerkrankungen.

Neue Substanzklasse für OAB

An dieser Stelle ist es sinnvoll, anhand der NBFS zu den letzten Vorträgen der Tagung überzublenden. Traditionsgemäß fallen diese in das Kapitel der aktuellen Information. Zunächst wurde für die überaktive Blase (OAB) eine neue Substanzklasse vorgestellt, und zwar in Form des Beta-3-Adrenozeptoragonisten Mirabegron, welcher die Blasenmuskulatur über den Sympathikus ruhigstellt. Dieses hat weniger Nebenwirkungen als Antimuskarinika, welche oft mit Mundtrockenheit, Verstopfung und Sichtbeeinträchtigungen einhergehen. Es folgten zwei Fallberichte von Patienten, die (wegen Fraktur von L1 bzw. MS) ihre Blase seit Jahren mittels ISK entleerten – u.a. mit der Imponderabilie von rezidivierenden Harnwegsinfekten. Im ersten Fall wurden Spontanmiktion und Kontinenz durch operative Blasenaugmentation und Sphinkterotomie, gefolgt von der Implantation eines künstlichen Sphinkters, erzielt, im zweiten Fall durch die Injektion von Botox in den natürlichen Sphinkter. Damit waren einige der zahlreichen Möglichkeiten, die neuromuskuläre Harmonie im kleinen Becken wiederherzustellen, exemplarisch illustriert.
Zwischen den hier resümierten Präsentationen waren weitere Highlights der Tagung: Basisseminare über Inkontinenz für Einsteiger, gedacht für Arztassistentinnen, zahlreich besucht von Interessierten aus anderen Berufsgruppen, dem Pflegedienst vor allem; Salons mit reger Diskussion; die praxisnahe Darstellung der klinischen Forschung in der Physiotherapie; Vorträge zum Beckenbodenprolaps.
Gesellschaftlicher Höhepunkt war der Festabend am Pöstlingberg mit Ernennung von Prof. Franz Böhmer, Geriater der ersten Stunden in der MKÖ, zu deren Ehrenmitglied.
Insgesamt wurde an diesen zwei Tagen eine Palette von Funktionsstörungen der Organe des kleinen Beckens geboten, umgeben von einer großzügig ausgerichteten Industrieausstellung, welche in den Pausen zum Schauplatz der lebhaft geführten ergänzenden Gespräche mit den Kongressteilnehmern wurden.