Neue Serie Geriatrie: Jeder will alt werden, keiner die Zeichen des Alter(n)s erleben

Die Geriatrieentwicklung folgt in Österreich dem demografischen Wandel. Immer mehr Menschen erleben den 80. Geburtstag in relativer Gesundheit, autonom und sozial integriert. Die Gruppe der über 100-Jährigen wird kontinuierlich größer. Dennoch steigt mit dem Alter das individuelle Risiko für altersassoziierte, häufig chronische Erkrankungen mit funktionellen Beeinträchtigungen sowie rezidivierende Stürze und Frakturen.
Die sich daraus ergebenden Herausforderungen sind vielfältig: sozial, medizinisch und rehabilitativ, pflegerisch und palliativ.

Die österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) versteht sich als multiprofessionelle und interdisziplinäre Gruppe von Geriatern und Gerontologen.
Durch den kontinuierlichen Gedankenaustausch, interdisziplinäre Forschungsprojekte und Tagungen fördert sie die Weiterentwicklung der medizinischen und pflegenden Strukturen im Sinne einer alternden Bevölkerung.

In der aktuellen Artikelserie wollen wir Ihnen einige Aspekte näherbringen:

1. Wer sind Geriater

Geriater setzen sich mit der Vielfalt von alterstypischen Erkrankungen und funktionellen Einschränkungen auseinander. Seit 2010 können Allgemeinmediziner, Internisten, Neurologen, FA für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie FA für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, die eine weiterführende Ausbildung absolvieren, das Additivfach Geriatrie erwerben. Im Moment gibt es in Österreich etwa 1.300 Kollegen mit Additivfach Geriatrie.

Geriater finden sich vor allem in Abteilungen für Akutgeriatrie und Remobilisation, in langzeitmedizinischen Abteilungen sowie in medikalisierten Pflegeheimen. Selbstverständlich gibt es auch im niedergelassenen Bereich die bereits erwähnten Kollegen mit Additivfach Geriatrie.

Die dreijährige Zusatzausbildung kann nach Anerkennung durch die Ärztekammer in den oben erwähnten Strukturen absolviert werden.

Gleichzeitig wird das Geriatriediplom der Österreichischen Ärztekammer weiter angeboten. Hier können auch Kollegen anderer Fachrichtungen, aber auch Ärzte in Ausbildung in sechs Zweitageskursen erste Einblicke der „Supraspezialität“ Geriatrie erwerben.
Ähnliche Sonderausbildungen gibt es auch in den anderen Berufen, wie zum Beispiel in der Pflege, die einen wesentlichen Teil des geriatrischen Teams darstellen.

In den letzten Jahren konnte sich die Geriatrie auch an den Universitäten etablieren.
Es gibt Lehrstühle an den Medizinischen Universitäten in Wien und Graz, sowie an der Privatuniversität Salzburg und an der Donau-Universität in Krems. Gleichzeitig gibt es im Bereich der Pflegewissenschaften Lehrstühle an den Universitäten.

2. Prävention und Gesundheitsförderung

Lebensstil – neben den gängigen Verhaltensempfehlungen wie Nikotinkarenz, ausgewogene Ernährung, ausreichend Flüssigkeitszufuhr und Bewegung, fördert lebenslanges Lernen und soziale Integration die kognitive Kompetenz und Teilhabe.

Da Frailty – Gebrechlichkeit – zu den häufigsten Syndromen der letzten Lebensphase zählt, ist die Prävention und die frühzeitige Risikoabschätzung besonders wichtig. Wenn Mangelernährung, Einschränkung der Mobilität und des Antriebes parallel fortschreiten, besteht ein hohes Risiko für Pflegeabhängigkeit. Daher müssen Gesundheitsförderungsprogramme an allen drei Ebenen ansetzen.

Auf Grund der abgeschwächten Immunantwort sind hochbetagte Menschen besonders anfällig für Infektionserkrankungen, insbesondere für Grippe, Pneumokokken und Herpes. Daher nehmen Impfungen älterer Menschen selbst, aber auch von deren Angehörigen und Pflegepersonen eine wichtige Rolle in der Prävention ein.

3. Diagnostik und Kuration

Mit dem Alter nimmt das Risiko für chronische Erkrankungen zu. Bestehen mehrere gleichzeitig, beeinflussen diese einander negativ. Dies gilt auch für die evidenzbasierte Therapie: Mit der steigenden Zahl an Diagnosen, steigt auch die Zahl der Medikamente und somit das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen und Interaktionen.

Ähnliches gilt auch für manche diagnostische Maßnahme – wenn das Risiko einer Untersuchung größer ist als der zu erwartende therapeutische Benefit, sollte man auf diese verzichten. Allerdings sollte diese Entscheidung transparent gemacht werden.
Die häufigsten Krankheitsbilder sowie die Polypharmazie werden dargestellt.

4. Rehabilitation

Vor allem nach hüftgelenksnaher Femurfraktur ist der positive Effekt der Rehabilitation im multiprofessionellen Team nachgewiesen. Sie trägt dazu bei, die Autonomie zu erhalten und die Pflegeabhängigkeit zu verzögern. Da die Datenlage für andere rehabilitative Ansätze noch nicht eindeutig ist, aber die Expertenmeinung und vor allem die Erfahrungen der Betroffenen überaus positiv sind, sollte der Grundsatz Rehabilitation vor Pflege berücksichtigt werden.

Neben den konventionellen Formen der Rehabilitation gibt es Pilotprojekte, die neue Wege gehen – die tagesklinische, aber auch die aufsuchende Rehabilitation. Diese Projekte werden später vorgestellt.

5. Palliative Care und Hospiz

Palliative Care ist zu einem wichtigen Schlagwort in der Onkologie geworden. Gleichzeitig erleben geriatrische Patienten ebenfalls die letzte Lebensphase mit komplexen Beschwerden und Einschränkungen ohne Erwartung auf Heilung. In einem palliativen Ansatz werden die Erwartungen der Patienten und deren Angehörigen erfasst, soviel Unterstützung wie nötig, aber sowenig Einschränkungen wie möglich angeboten. Das Angebot des mobilen Hospizes für geriatrische Patienten liegt noch weit hinter dem tatsächlichen Bedarf. Auch wenn noch vieles in Entwicklung ist, wollen wir Erfahrungen mit Ihnen teilen.

6. Grundlagenforschung

Die alternde Zelle, aber auch Mikroorganismen dienen seit vielen Jahren als Modelle für Alterungsprozesse. Die Grundlagenforschung in Österreich ist international anerkannt und trägt Wesentliches zum Verständnis von komplexen Veränderungen im Alter bei. Inflammaging hat nicht nur eine Basis in der Grundlagenforschung gefunden. Es trägt auch zum klinischen Verständnis des Alter(n)s bei.

Immer öfter gelingt es, die Erkenntnisse der Grundlagenforschung in die Praxis überzuführen.
Unter anderem zeigt sich das in der ausgezeichneten Kooperation bei Impfprojekten.

7. Sozialgerontologie

Die Veränderung der Demografie, nicht nur die der Überalterung per se, sondern auch die der neuen Biografien, trägt zum Wertewandel bei. Die Zunahme der Singlehaushalte und der Patchworkfamilien stellen die herkömmlichen Betreuungsmodelle für die älteren Familienangehörigen in Frage. Der Generationenvertrag, wie er für die heute Hochbetagten gegolten haben mag, gilt nicht mehr. Neue Betreuungs-und Pflegemodelle werden entwickelt. Neben der Planung, Evaluierung und Umsetzung, müssen auch neue Finanzierungsmodelle entwickelt werden.

Besonderes Forschungsinteresse gilt neben neuen Betreuungsformen auch den pflegenden Angehörigen. Dabei geht es nicht nur um die Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringen, sondern auch darum, ob sie selbst durch die Mehrfachbelastung schaden nehmen könnten.

8. Überschneidungen

Gerade nach sturzbedingten Frakturen und nach Rehabilitation im Rahmen des Entlassungsmanagements wird klar, wie komplex die ideale Entlassungsvorbereitung ist. Wie kann der Weg vom Schnittstellenmanagement zum Nahtstellenmanagement begleitet werden. Hier geht es nicht nur um die perfekte medizinische Versorgung, sondern auch um die Antizipation des zu erwartenden Betreuungs- oder Pflegebedarfes, der Schaffung eines möglichst „fallenlosen“ Umfeldes und Gewährleistung der sozialen Inklusion.

9. Qualitätssicherung

Die Weiterentwicklung der geriatrischen Prozesse und Betreuung im multiprofessionellen Team bedarf einer reflektierenden Begleitung. Neben den etablierten Prozessen des Benchmarking Geriatrie, des NQZ für Pflegeheime, wurden nun auch Prozesse, die in die Geriatrie führen, in einem Handbuch festgelegt.

Vieles bleibt noch zu sagen. Sie sind herzlich eingeladen sich zu beteiligen. Ich freue mich auf Ihre Anregungen und Beiträge.