Kritik der Wiener Ärztekammer am Entwurf für Primärversorgung

Ärztekammer-Vizepräsident Dr. Johannes Steinhart: „Der Referentenentwurf lässt medizinischen Sachverstand geradezu schmerzlich vermissen.“ Der Entwurf sehe „eine völlig unrealistische Reduktion der Einzelordinationen“ vor.
Offen bleiben für Steinhart etwa die Fragen: Welchen Einfluss sollen Ärzte in Primärversorgungseinheiten haben? Welche Beteiligungsmöglichkeiten sind geplant? Wie sind die Zuständigkeiten bei Vertragsverhandlungen? Außerdem stößt der Ärztekammer auf, dass 40% der derzeit niedergelassenen Ärzte bis 2025 in Primärversorgungseinheiten arbeiten sollen.

Im Folgenden die zehn Kritikpunkte der Wiener Ärztekammer am PVE-Gesetz:

  1. Die Kündigungsmöglichkeiten von Kassenverträgen sind neu geregelt. So soll es etwa neue und erleichterte Kündigungsmöglichkeiten für Einzelverträge von Einzelärzten geben, wenn eine „Primärversorgungseinheit“ (PVE) in derselben Region gegründet wird. Das heißt, dass Ärztinnen und Ärzte, die ihre Ordination in der Nähe einer PVE führen, plötzlich ihren Kassenvertrag verlieren könnten. Somit ist ihre Existenz bedroht, und sie werden regelrecht dazu gezwungen, selbst eine Anstellung in einer PVE anzunehmen.
  2. Es ist ein neuer Gesamtvertrag geplant, der allerdings nicht die Honorierung der Ärztinnen und Ärzte regelt. Jedes PVE muss sich somit ohne Schutz durch die Ärztekammer den Vertrag mit der Kasse selbst ausmachen.
  3. Es gibt keinerlei Tarifregelung für Institute. Das würde bedeuten, dass ein Großkonzern weitaus bessere Tarife von den Krankenkassen bekommen könnte, als die einzelnen, freiberuflichen Ärztinnen und Ärzte. Dadurch droht eine Benachteiligung des gesamten niedergelassenen Bereichs! Der groß angekündigte Vorrang für den niedergelassenen Bereich wird somit völlig ad absurdum geführt.
  4. Die gesamte ausverhandelte Kaskade, dass bei Ausschreibungen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte vorrangig behandelt werden, ist ungenügend umgesetzt, da nur niedergelassene Ärztinnen und Ärzte aus derselben Region an der Ausschreibung teilnehmen können. Auf Spitals- und Wohnsitzärzte wurde offensichtlich bewusst verzichtet. Für Fachärzte ist der Vorrang überhaupt nicht vorgesehen und bleibt völlig ungeregelt. Somit ist im fachärztlichen Bereich den privaten Investoren Tür und Tor geöffnet.
  5. Ursprünglich wurde beschlossen, dass die Ärzteschaft zum überwiegenden Teil Eigentümer in Ambulatoriums-PVE werden soll. Diese zugehörige Ausschussfeststellung wurde aber nicht umgesetzt. Somit wird erneut der Wille des Parlamentes einfach ignoriert. Lediglich eine schwammige Formulierung ist vorgesehen, wonach der Ärztliche Direktor maßgeblich mitarbeiten muss. Wie genau diese „maßgebliche Mitarbeit“ aussieht, und wie die tatsächliche Umsetzung gewährleistet wird, ist noch völlig unklar.
  6. Die Kriterien zur Vergabe der PVE-Verträge werden der Ärztekammer nicht offengelegt. Das heißt, dass die Vertragsvergabe nach vollkommen unklaren und sichtlich willkürlichen Kriterien erfolgen kann. Damit kann nicht garantiert werden, dass es zu keiner Bevorzugung bestimmter Interessenten aus der Wirtschaft kommt. Derartige Verträge müssen aus Sicht der Ärztekammer transparent und gemäß gültigen Ausschreibungskriterien vergeben werden.
  7. Die Obergrenze für PVE ist aus Sicht der Ärztekammer viel zu hoch. Der aktuelle Entwurf sieht für Wien umgerechnet 40% aller Ärzte bis 2025 in neuen PVEs vor – nach derzeitigem Stand also knapp 400 Hausärzte! Das würde vor allem die Patientinnen und Patienten treffen, die einen Großteil ihrer Haus- und Vertrauensärzte – und somit ihre ärztliche Bezugsperson – verlieren würden.
  8. Es soll zu Bonuszahlungen für erreichte Leistungen kommen! Ein aus unserer Sicht äußerst unsozialer Vorschlag. Die Ärzteschaft hat in der Vergangenheit Bonus-Malus-Systeme in der Medizin aus ethischen Gründen immer abgelehnt. So soll es auch weiterhin bleiben, damit es zu keinem aufgezwungenen Konkurrenzdruck zwischen Ärztinnen und Ärzten kommt. Wir lehnen es ab, sowohl bei den Verschreibungen als auch den Zuweisungen, den Sparstift der medizinischen Vernunft vorzuziehen. Die Ärzte sind ohnehin seit jeher zur ökonomischen Arbeitsweise verpflichtet.
  9. Die Finanzierung ist nach wie vor völlig ungeklärt. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass NEUES Geld in die PVE investiert werden soll. Es ist lediglich immer von einer Umverteilung von Geldern die Rede, die gemäß den Vorstellungen des Ministeriums offensichtlich zuvor den niedergelassenÄrzten weggenommen werden.
  10. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass der Gesamtvertrag praktisch abschafft wird, die Hausärzte bei sonstigem wirtschaftlichen Ruin in PVE gezwungen werden und Großkonzernen in derAllgemeinmedizin sowie bei denFachärzten de facto keinerlei Schrankenmehr auferlegt werden.