Mehr Geld für die Versorgung

„Die Sicherung und der Ausbau der wohnortnahen hausärztlichen Versorgung durch freiberufliche Ärztinnen und Ärzte haben oberste Priorität, das hat anscheinend auch der Kanzler nun erkannt.“ Mit diesen Worten begrüßte auch Dr. Johannes Steinhart, Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Wien, die Vorschläge von Christian Kern (SPÖ), die Rücklagen der Krankenversicherungen auflösen zu wollen und das Geld „den Versicherten zukommen zu lassen“.
Zwar haben diese Pläne seines Zukunftspapieres keinen Eingang in den Regierungsplan gefunden, die Linie ist aber klar und sorgt innerhalb der Ärzteschaft für Wohlwollen. Konkret geht es um einen Betrag von 2,65 Milliarden Euro. Im Gesundheitsministerium hieß es dazu, Ziel sei es, die gesamten freien Rücklagen der Kassen aufzulösen und den Versicherten zugutekommen zu lassen. Die heimischen Krankenversicherungsträger verfügen über 3,7 Milliarden Euro an Rücklagen, davon 2,65 Milliarden Euro in Form liquider Mittel. Im Büro von Gesundheitsministerin Dr. Sabine Oberhauser (SPÖ) hieß es dazu, es handle sich dabei um Beiträge der Versicherten. Das Geld solle deshalb den Versicherten zurückgegeben werden.

Angleichung der Leistungen

Ein Teil dieser Mittel soll in die Angleichung der unterschiedlichen Leistungen der Kassen fließen. Diese Unterschiede reichen „von der gynäkologischen Ultraschalluntersuchung, die von einzelnen Kassen nicht bezahlt wird, über unterschiedliche Selbstbehalte und Zuschüsse bei Zahnleistungen bis hin zu unterschiedlichen Zuschüssen bei Psychotherapie von 21,80 bis 50 Euro. Mit dem Argument, dass es für gleiche Beiträge auch gleiche Leistungen geben solle, steht das Gesundheitsministerium auch voll und ganz hinter diesem Plan“. Welches Modell dafür gewählt wird, und welche Kasse welche Leistungen übernehmen soll, müsse noch geprüft werden. Klar sei aber, dass es keine Angleichung nach unten geben soll, sondern Mehrkosten sollen einkalkuliert werden. Abgeschafft werden sollen auch die Selbstbehalte. Derzeit zahlen die Selbstständigen beim Arztbesuch 20% dazu, die Beamten zehn Prozent, die Eisenbahner sieben Prozent, und die Bauern haben eine Pauschale von 9,61 Euro pro Behandlungsfall und Quartal. Von einer Abschaffung könnten gut zwei Millionen Anspruchsberechtigte profitieren.10
Weiters will Kern Terminservicestellen für dringende MRT/CT-Untersuchungen bei den Kassen einrichten, wobei nach medizinischer und diagnostischer Dringlichkeit differenziert werden soll. Bis 2018 solle es Termine für CT binnen zwei Wochen, für MRT binnen vier Wochen geben, bei hochakuten Fällen sofort. Tatsächlich finden sich sowohl der Ausbau der MRT/CT-Kapazitäten wie auch der Ausbau der Psychotherapiestellen auch im Koalitionspapier.
Die Gesundheitsversorgung im niedergelassenen Bereich brauche attraktive Rahmenbedingungen, fordert Steinhart angesichts der Diskussion erneut: „Die Modelle der Ärztekammer für eine moderne und vernetzte hausärztliche Versorgung liegen auf dem Tisch, wir sind jederzeit zu Gesprächen bereit.“ Die Ärztekammer vermisst allerdings nach wie vor eine klare Absage des Kanzlers und der Bundesregierung an die Versorgung durch Großkonzerne im Fall der Primärversorgungszentren sowie die Einschränkung eigener Einrichtungen der Sozialversicherungen, die sich auf ihr Kerngeschäft der Versicherung zurückziehen sollten. Der Vorschlag Kerns, kasseneigene Einrichtungen auszubauen, könne nur „Plan X, Y oder Z sein. Denn wie dem Kanzler sicher bekannt ist, sind diese Einrichtungen die teuerste Variante und für den Patienten mit ihrer Anonymität und Zentrenbildung weder wohnortnah noch kostengünstig“, stellt Steinhart fest. Tatsächlich ist Kerns Plan Balsam auf den Wunden der zuletzt für ihre ablehnende Haltung kritisierten Ärztekammer, die Kürzungen fürchtet und eine Entmachtung durch die neuen Primärversorgungszentren.

Selbstbehalte trotz Rücklagen?

Kritik an den Kanzlerplänen kommt aber vor allem von den ÖVP-dominierten Sozialversicherungen und dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger. So lehnen die Beamtenversicherung und die Sozialversicherung der Gewerblichen Wirtschaft (SVA) die Vorschläge strikt ab. Wirtschaftskammer-Experte Martin Gleitsmann lehnt eine Abschaffung des Selbstbehalts ab, weil dieser „ein vernünftiges Instrument“ sei und „eine gewisse Kontrolle“ erlaube. SVA-Vizeobmann Alexander Herzog kritisierte, dass Kern „nicht über die SVA-Versicherten drüberfahren“ dürfe – „bei der Urbefragung zum Thema ‚Selbstbehalte‘ haben sich 80% für ein Beibehalten des Systems ausgesprochen, und diese Willensäußerung der Versichertengemeinschaft muss die Richtung vorgeben“, so Herzog. Kritisch äußerte sich auch die Vorsitzende im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Mag. Ulrike Rabmer-Koller, zu den Plänen von Bundeskanzler Kern und Gesundheitsministerin Oberhauser. „Die Rücklagen in der Sozialversicherung sind die eiserne Reserve der Versichertengemeinschaft – damit muss verantwortungsvoll und weitsichtig umgegangen werden. Derzeit verfügen gerade einmal sechs von 14 Krankenkassen über den gesetzlich vorgeschriebenen von nicht einmal 200 Euro pro Österreicher und Österreicherin. Wenn die Politik will, dass man für den Krisenfall einer Epidemie nicht mehr gerüstet ist, muss man das offen bekennen“, so Rabmer-Koller. „Wenn jetzt das Vermögen unserer Versicherten mit der Gießkanne ausgeschüttet wird, fehlen uns die Mittel für die Leistungen von morgen und die langfristige Absicherung der Gesundheitsversorgung für künftige Generationen.“ Zustimmung kommt hingegen auch von der Pharmaindustrie. Es könne nicht sein, dass ein einziger Wirtschaftszweig, nämlich die Pharmawirtschaft, das Plus der Kassen finanziere und gleichzeitig Rücklagen angehäuft würden, betonte Pharmig-Generalsekretär Jan Oliver Huber.

WGKK mit Studie gegen Selbstbehalte

Mit einer neuen Studie schaltete sich dann auch die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) in die Debatte um Selbstbehalte bei Arztbesuchen ein. Selbstbehalte würden die Sozialversicherung infrage stellen und zu einer Entsolidarisierung führen, sagte WGKK-Obfrau Mag. Ingrid Reischl. Die Ökonomin und Studienautorin Mag. Agnes Streissler-Führer untersuchte Gesundheitskosten in mehreren europäischen Ländern. Das Ergebnis: In Österreich sind die selbst zu tragenden Kosten mit 17% bereits jetzt höher als etwa in Deutschland oder Frankreich. Aus Sicht der WGKK hat ein Selbstbehalt auch keinen positiven Lenkungseffekt. Im Gegenteil: In Deutschland habe die mittlerweile wieder abgeschaffte Praxisgebühr dazu geführt, dass ärmere Leute etwa Kontrolltermine ausgelassen haben. Streissler-Führer warnte deshalb vor erheblichen Folgekosten durch auf ein im ersten Blick sparsameres Verhalten. Die WGKK hat sich zudem ausgerechnet, dass von einem Selbstbehalt ab einem Nettoeinkommen von 1.250 Euro monatlich nur 40% der Versicherten betroffen wären. Die Kasse würde dadurch im Jahr 20 Millionen Euro mehr einnehmen, gleichzeitig aber um 15 Millionen Euro höhere Verwaltungskosten haben. Reischl: „Die finanziellen Auswirkungen sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dafür riskieren wir, dass der Solidaritätsgedanke der gesetzlichen Krankenversicherung ausgehöhlt wird.“