„Ohne Zuwendung ist alles nichts“

Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung

Der Medizinethiker und Philosoph Univ.-Prof. Dr. med. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg: „In der Behandlung von kranken Menschen kommt es nicht allein auf die Technik oder die Anwendung einer bestimmten Methode an, sondern vor allem darauf, in welchem Beziehungsgeschehen Therapien erfolgen. Ärztliche Hilfe ist in einem wesentlichen Sinne als Resultat einer Interaktion zu verstehen, die unabdingbar auf eine personale Zuwendung angewiesen ist. So kann es bei der Behandlung hilfsbedürftiger Menschen nicht allein um das Anbieten von Sachleistungen gehen oder um das Anpreisen neuester Behandlungsmethoden. Hilfe ist kein Konsumgut und keine erwerbbare Fertigware – konkrete Hilfe ist vielmehr etwas, das sich im Dialog nach und nach herauskristallisieren muss. Erst, wenn der Arzt sich auf die Lebenswelt des Hilfesuchenden einlässt, wenn er sich für die unverwechselbare Besonderheit des Anderen öffnet und sich von ihr leiten lässt, kann deutlich werden, wohin die gemeinsame Reise gehen kann.“
Speziell den Hausärzten komme in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle zu: „In dieser Beziehung zum Patienten liegt das Besondere und das Erfüllende der Allgemeinmedizin, denn am Ende ist es auch und gerade der Arzt, der durch das Geben der Zuwendung am meisten zurückerhält, nämlich Vertrauen.“

 

Einfühlsamkeit, Empathie und Erfahrungsreichtum

Die Allgemeinmedizin sei, so Maio, von ganz eigenem Wert und verfüge über eigene spezifische Kompetenzen. „Es geht in der Allgemeinmedizin nicht nur darum, Menschen am Leben zu halten, sondern noch mehr darum, sie im Leben zu halten, weil Allgemeinmediziner es vor allen Dingen mit chronisch kranken Menschen zu tun haben, mit Menschen, die durch ihre Krankheit erst aus dem Rahmen der Normalität herausfallen und nach und nach lernen müssen, sich wieder neu zu orientieren und ihre Krankheit als Teil ihrer Biografie anzuerkennen. Der Allgemeinarzt hat hier eine entscheidende Aufgabe, weil es von der Begleitung seiner Patienten abhängt, ob sie befähigt werden, nicht nur gegen die Krankheit zu kämpfen, sondern vor allen Dingen mit ihr zu leben.“ Dies sei ein allmählicher Entwicklungsprozess, bei dem die Patienten nicht alleingelassen werden dürften. Es sei die zentrale Aufgabe der Allgemeinmedizin, nicht nur die Krankheit zu sehen, sondern vielmehr das Kranksein als Entwicklungsaufgabe zu sehen, als Auftrag, sein Leben neu auszurichten, neu zu gestalten und als Aufgabe, dem Patienten dabei zu helfen, sich der Krankheit gerade nicht ausgeliefert zu fühlen, sondern seine Freiheitsgrade auch im Kranksein neu zu entdecken.
Maio: „Die Allgemeinmedizin leistet jeden Tag mehr als das System sehen möchte, sie leistet mehr als man dokumentieren kann, und sie leistet mehr als Gesundheitspolitiker wahrhaben wollen, weil die eigentliche Leistung die Leistung der gelingenden Interaktion ist, die Leistung nicht nur des Machens, sondern vor allem des Begleitens. Dazu bedarf es der Wissenschaftlichkeit in Verbindung mit der Zwischenmenschlichkeit. Diesen Brückenschlag schafft die Allgemeinmedizin jeden Tag, und niemand macht sich bewusst, wie herausfordernd, verausgabend und zugleich erfüllend es ist, sich mit den Patienten individuell auseinanderzusetzen. Die Allgemeinmedizin ist eine Disziplin, die Enormes leistet, indem sie nicht weniger tut, als sich um die Patienten zu kümmern. Das Kümmern ist der Weg zur Therapie; die Ärzte kümmern sich, indem sie sich auf die Probleme ihrer Patienten einlassen und dabei versuchen, jeweils Lösungen zu finden, die man eben nicht im Lehrbuch findet, sondern die man sich im Gespräch mit dem Patienten erarbeiten muss, kreativ erschließen muss. Die Allgemeinmedizin entwickelt nicht weniger als eine Problembewältigungskompetenz, die eben nicht nur auf formalem Wissen beruht, sondern vor allem auf Werten wie Einfühlsamkeit, Empathie und Erfahrungsreichtum.“
Die Allgemeinmedizin könne eben nur als eine Beziehungsmedizin bestehen und sei nicht anders als andere Disziplinen der Medizin, aber doch in ganz besonderer Weise, auf integratives, ganzheitliches Denken ausgerichtet.
Die entsprechenden Werte, auf die die Medizin und die Allgemeinmedizin insbesondere angewiesen bleibt, sind folgende:

Wert der Sorgfalt

„Unter dem produktionstechnischen Paradigma findet heute eine Negativierung der Zeit statt. Die Ärzte werden dazu angehalten, schneller zu arbeiten, die Patienten schneller durchzuschleusen. Wer sich heute in der Medizin Zeit nimmt, gerät automatisch in den Verdacht der Verschwendung, in den Verdacht der Ineffizienz. Den Ärzten wird heute implizit nahegelegt, die Patienten schneller abzufertigen, als ob man ihnen sagte, sie sollten doch gefälligst schneller zuhören, damit der sogenannte Produktionsaufwand minimiert wird. Niemand wagt es, diese industrielle Brille abzulegen, denn legte man sie ab, so würde man sofort erkennen können, dass in der Medizin die Zeit, die man mit dem Patienten verbringt, gerade nicht den negativen Charakter eines lästigen und zu minimierenden Aufwandes hat. Unter einer medizinischen Brille ist die Kontaktzeit genau das Gegenteil, sie ist nämlich kein Verbrauch, sondern sie ist die zentrale Investition, denn erst über die Kontaktzeit kann eine gute Therapie realisiert werden, weil nur über die Kontaktzeit der Patient am Therapieprozess beteiligt werden kann, mitgenommen werden kann, motiviert werden kann. Spart man unter einer produktionslogischen Perspektive an der Kontaktzeit, so spart man am Kern der Medizin“, so Maio. Dies sei daher keine Steigerung von Effizienz, sondern ein Abbau der Ermöglichungsbedingungen von Medizin. „Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der eigentliche Wert der Medizin nicht dier Schnelligkeit ist, sondern die Sorgfalt, die Gewissenhaftigkeit, das genaue Hinschauen, die innere Ruhe und gerade die Geduld.“

Wert der Freiheit

Den Ärzten wird heutzutage suggeriert, dass sie umso effizienter und qualitätsvoller arbeiten, je mehr sie sich an die vorgegebenen Algorithmen und an die dafür vorgesehenen normierten Abläufe halten und je mehr sie ihre Therapie nach festen Schemata vorausplanen. Logische Konsequenz sei, dass der einzelne Patient diesem Plan unweigerlich untergeordnet und somit normiert werde. Die Abläufe werden also nicht am Patienten ausgerichtet, sondern der Patient den vorgegebenen Ablaufschemata angepasst.
Maio: „Wird die Individualisierung zur Verschwendung und zur Ineffizienz umstilisiert und die Routinisierung zum Ideal erhoben, so ist das nicht weniger als ein Ansatz zur sukzessiven Demotivierung der Ärzte, weil sie für so einen Umgang mit Menschen nicht angetreten sind. Stattdessen muss den Ärzten eine Freiheit zurückgegeben werden, eine Freiheit, die für sie eine Verpflichtung bedeutet, sich für den Patienten einzusetzen, eine Freiheit, die bedeutet, dass der Arzt einen Beurteilungsspielraum braucht, um dem Patienten gerecht zu werden. Eine Freiheit, die ihm erlaubt, innerhalb von Ermessensspielräumen Empfehlungen auszusprechen, weil es in der Medizin und insbesondere in der Allgemeinmedizin oft um Unwägbarkeiten, um Wahrscheinlichkeiten geht, bei denen die Lösungen nicht so eindeutig sind, wie das System es sich wünscht.“

Wert des Erfahrungswissens

Die Herausforderungen, vor denen die Ärzte stehen, können nicht durch detaillierte Regelvorgaben oder Anweisungen gemeistert werden, „und so kann auch nicht in Vorschriften das gefasst werden, was gute Medizin ausmacht. Die eigentliche Leistung der Ärzte besteht darin, dass sie sich jeden Tag durch das Sich-Einlassen auf den Patienten und sein Umfeld erfahrungsgesättigte singuläre Lösungsvorschläge ausdenken müssen, die nicht vorgegeben sein können und die nicht algorithmisch im Sinne eines zweckrationalen Planens einfach abgeleitet werden können, sondern die man sich im Dialog mit dem Patienten und seinem Umfeld nach und nach hermeneutisch-kommunikativ erarbeitet.“
Diese Arbeit bleibe im System oft unerkannt, weil diese tagtägliche Mühe und das damit zum Einsatz gebrachte Erfahrungswissen, aber auch das notwendige Fingerspitzengefühl und der Feinsinn als notwendige Bedingung und eigentliche Qualitätsvoraussetzung, vom produktionstechnisch denkenden System schlichtweg nicht anerkannt werden.

Wert der situativen Kreativität

„Ärztliche Behandlung muss sich unhintergehbar innerhalb einer Begegnung realisieren, und die Medizin ist unweigerlich mit etwas konfrontiert, das sehr wenige andere Disziplinen in dieser Form zu bewältigen haben, nämlich dem Phänomen der nicht restlosen Planbarkeit. Ärztlich zu arbeiten bedeutet gerade nicht ein striktes Umsetzen eines vorgegebenen Plans, sondern es bedeutet, eine unmittelbare und passende Reaktion auf die Befindlichkeit des Patienten zu finden, auf seine Gemütslage, auf seine Bedürfnisse in seiner Situation des Hier und Jetzt,“ meint Maio. Medizin sei daher ein Prozess der immer wieder neuen Adaptation. Sie sei jederzeit gefordert, sich der Besonderheit des Patienten, seiner Situation, seines Umfeldes anzupassen.

Wert der direkten Wahrnehmung

Maio: „Wir erleben ein sukzessives Sich-Lösen von der direkten Wahrnehmung des Patienten und eine zunehmende Hinwendung zur reproduzierbaren Verobjektivierung von Befunden. Dies führt zu einer Flut von möglichen Untersuchungen und zu einer Überfülle an Information. Der direkte Kontakt mit dem Patienten wird unterbewertet und mit dem vermeintlichen Makel des Subjektiven versehen.“ Damit verbunden sei eine Glorifizierung des Laborparadigmas, die Hochpreisung des statistischen Mittelwertes unter Preisgabe der Erkundbarkeit des Patienten mit den eigenen Sinnen. Echtes Wissen habe mit der gekonnten Selektion von Wissen zu tun und nicht mit der Addierung von Wissensgehalten. „Dies kann nur gelingen, wenn der Arzt sich dem Patienten direkt zuwendet, ihn körperlich untersucht, ihn berührt, sich ihm mit eigenen Sinnen zuwendet. Gerade die Allgemeinmedizin ist von daher ein Berührungsberuf par excellence, weil die direkte Wahrnehmung so zentral ist.“

Wert der Behutsamkeit

„Bedachtsamkeit und Umsicht müssen wieder die Leitwerte der Medizin werden. Umsicht, die sich auch darin ausdrücken kann, zu wissen, wo man auf Behandlungen verzichten muss“, meint Maio. Nur durch die Grundhaltung der Behutsamkeit und der Wiedererkennung des Werts des Gedeihen-Lassens könne die Tendenz zum Aktionismus abgeschwächt und eine Denkweise eingeführt werden, die den Unterschied zwischen Medizin (als Sorge) und Industrie (als Produktionsstätte) noch deutlicher hervortreten lässt.

Wert des ganzheitlichen, integrativen Denkens

Medizin sei, so Maio, ein Gebiet, das schon von seinem Adressatenkreis her eine Ganzheitlichkeit beanspruche. „Wenn es um das Ganze des Lebens geht, dann wird sofort klar, dass der Arzt selbst an das Ganze denken und das rein Technische unweigerlich übersteigen muss, weil er sich in das zukünftige Leben dieses Patienten hineinversetzen muss. Und so ist der Arzt auf einen ganzen Blick angewiesen, ist ihm doch zu sehr bewusst, dass die primär medizinische Versorgung allein nicht ausreicht, um dem Patienten zu helfen. Die gute medizinische Versorgung muss eben gekoppelt werden an eine gute Betreuung zuhause, an die Kombination von Medizin, familiärem Beistand und vor allem sozialer Anerkennung.“ Es gehe somit in der Medizin immer um das Erfassen des gesamten Problemzusammenhangs, und dieser Zusammenhang mache ein integratives Denken notwendig, ein Denken, das die Vielfalt der Aspekte zusammenführen könne.

Zuwendung als tiefe Form der Wertschätzung

Die Begegnung mit dem kranken Menschen stehe auch deshalb im Zentrum der Heilung, weil man nur innerhalb einer Begegnung echte Zuwendung schenken könne.
Maio: „Die Zuwendung holt den anderen aus der Anonymität und macht ihn zu etwas Besonderem – und zwar in erster Linie vor sich selbst. Allein dadurch, dass wir durch unsere Zuwendung zum Ausdruck bringen, dass er so sein darf wie er ist, lernt er, sich selbst (in seiner Krankheit) anzunehmen. Begegnung und verstehende Zuwendung stellen eine tiefe Form der Wertschätzung dar, die den Patienten selbst verändert.“

 

Bürokratie und Sparen gefährden Zuwendung in der Medizin
Zentrale Qualitätskriterien des Arztberufes wie Zuwendung und Wertschätzung geraten in den modernen Gesundheitssystemen
zunehmend unter Druck. Der Trend, Menschen als möglich effizient zu behandelnde Humanressource zu sehen, hat auch vor der Medizin nicht halt gemacht. Ökonomen und Bürokraten übernehmen immer mehr die Prinzipien der industriellen Produktionstechnik des Taylorismus und übertragen diese möglichst 1:1 auf die Gesundheitsversorgung. Und man setzt auf Einsparungen bei gleichzeitiger Produktionssteigerung – bloß, so funktionieren weder Ärzte noch die Medizin. Auf den Punkt gebracht: Kein Arzt kann seinen Patienten schneller zuhören.
Dass heute in der Medizin die Zuwendung oft zu kurz kommt, ist nicht individuelles ärztliches Fehlverhalten, sondern ein Systemfehler. Das sich ausbreitende ökonomische Kalkül im Gesundheitssystem und seine negativen Auswirkungen lassen mich persönlich als Arzt und politisch als Ärztevertreter nicht kalt. Ich beschäftige mich unvergleichlich lieber mit meinen Patienten, als mit einem PC. Und wer mag schon das unangenehme Gefühl, dass einem Bürokraten und Controller bei der Arbeit über die Schulter schauen.
Eine Medizin, die durch Gewinnoptimierung, Sparprogramme, Standing Operation Procedures, Krankenkassen- oder Krankenhaus-Vorgaben letztlich dazu führt, dass der individuelle Patient nicht mehr zu seinem Recht kommt, bedarf dringend einer Kurskorrektur.
Der Schlüssel dazu ist unter anderem der Erhalt der ärztlichen Freiberuflichkeit. Dass wir aufgrund unserer besonderen Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig Leistungen erbringen können, wird jedoch zunehmend in Frage gestellt. Aktuell geschieht das durch die im Dezember beschlossenen Art. 15a-Vereinbarungen. Auf deren Basis soll jetzt zum Beispiel gesetzlich geregelt werden, dass niedergelassene Kassenärzte in Versorgungszentren arbeiten müssen, wenn die Gesundheitspolitik das wünscht. Zusätzlich soll die Ärztevertretung aus Entscheidungsprozessen, die die niedergelassene Versorgung betreffen, ausgeschlossen werden. Praktisch würde das für betroffene Ärztinnen und Ärzte bedeuten, dass sie durch staatliche Institutionen, Krankenkassen oder gewinnorientierte Konzerne kontrolliert werden. Das wäre eine Breitseite gegen die Freiberuflichkeit mit gravierenden Folgen für eine Zuwendungs-orientierte Versorgung.
Darum geht es auch bei den aktuellen Konfrontationen zwischen der Ärztekammer und der Politik. Wir bekämpfen diese politischen Vorhaben nicht etwa um Stillstand zu prolongieren, sondern weil es wichtig und richtig ist dagegen aufzutreten. Bitte unterstützen Sie uns dabei.
Dr. Johannes SteinhartÖÄK-VP