Phytopharmaka in der Urologie

Phytopharmaka – seien es Arzneitees oder industriell hergestellte Extrakte – haben als Vielstoffgemische pleiotrope Wirkungen: Für die etwa 30 in der Urologie verwendeten Pflanzen sind durch Untersuchungen in vitro, aber auch in vivo, u.a. antiphlogistische, spasmolytische, enzymhemmende (Aromatase, 5α-Reduktase, Prostaglandinsynthetase), antibakterielle (antiadhäsive, antiinvasive) und aquaretische Wirkungen belegt. Dies erklärt die oft gute Wirksamkeit gerade bei multifaktoriell bedingten Erkrankungen, bei denen die Ätiologie nicht oder nur ungenügend bekannt ist.
Die Einführung von α-Blockern und 5α-Reduktasehemmern in den 1990er-Jahren brachte neue Therapiemöglichkeiten in der Urologie. Damit schien die Anwendung von Phytopharmaka rasch obsolet zu werden. Aber nicht alle Erwartungen wurden von den neuen Synthetika erfüllt, sodass pflanzliche Arzneimittel nach wie vor einen hohen Stellenwert bei der Behandlung urologischer Krankheitsbilder besitzen. Das geringe Nebenwirkungspotenzial der Phytopharmaka kommt zudem dem häufigen Patientenwunsch nach „natürlichen“ vs. synthetischen Arzneimitteln entgegen.

Harnwegsinfekte, Rezidivprophylaxe

In leichteren Fällen, aber auch zusätzlich zu einer Antibiotikatherapie und zur Vorbeugung und Nachbehandlung bei Neigung zu Rezidiven empfiehlt sich die Anwendung von Adhäsionshemmern/Antiinvasiva, Harndesinfizienzien und Aquaretika.

Adhäsionshemmer/Antiinvasiva: Untersuchungen des Saftes der Cranberry (Vaccinium macrocarpon) zur Aufklärung des Wirkmechanismus und der Inhaltsstoffe haben ergeben, dass die Adhäsion, aber auch das Eindringen von Bakterien in das Epithel durch die enthaltenen oligomeren Procyanidine („OPC“, auch Proanthocyanidine: „PAC“) gehemmt werden. Darüber hinaus verhindern OPC die Expression von P-Fimbrien uropathogener E.-coli-Stämme.
In-vivo-Studien an Patienten zeigten die Wirksamkeit von Cranberry- und/oder Preiselbeersaft (Vaccinium vitis-idaea) bzw. daraus hergestellten Extrakten bei leichten akuten Infekten und zu deren Prophylaxe. Gut verträgliche Präparate stehen als Nahrungsergänzungsmittel in Form von Saft, Trinkgranulat, Tabletten und Kapseln zur Verfügung; bei der Auswahl sollte auf entsprechende Qualität (Hersteller, Droge-Extrakt-Verhältnis, DEV) geachtet werden.

Harndesinfizienzien: Die Wirksamkeit von Bärentraubenblättern (Uvae ursi folium) und Preiselbeerblättern (Vitis-idaeae folium) ist auf deren Gehalt an Phenolglykosiden (Arbutin u.a.) zurückzuführen. Die früher empfohlene Alkalisierung des Harnes (z.B. durch gleichzeitige Gabe von Natriumhydrogencarbonat) erscheint nach neueren Untersuchungen über den Wirkmechanismus nicht notwendig. Bärentraubenblätter enthalten beträchtliche Mengen Gerbstoffe, sodass sich bei magenempfindlichen Personen die Herstellung eines Kaltauszuges empfiehlt. Preiselbeerblättertee ist wegen des niedrigeren Gerbstoffgehaltes bekömmlicher, muss aber wegen des niedrigeren Gehaltes an Phenolglykosiden höher dosiert werden. Die beiden Teedrogen werden entweder alleine zur Teeherstellung verwendet oder auch mit Aquaretika kombiniert. Im Handel finden sich entsprechende Teemischungen und neuerdings auch Extrakte.
Für individuelle Verschreibungen sei auf die Teerezepturen der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie (ÖGPhyt) hingewiesen.

Aquaretika: Zum Unterschied von synthetischen erhöhen pflanzliche Diuretika die Harnmenge fast ausschließlich durch vermehrte Wasserausscheidung (Wasserdiurese), ohne den Elektrolythaushalt wesentlich zu beeinflussen. Diese Aquaretika eignen sich daher zur Ausschwemmung von Keimen und Toxinen und zur Durchspülungstherapie.
Angewendet werden die Teedrogen Birkenblätter (Betulae folium), Brennesselblätter (Urticae folium), Goldrutenkraut (Solidaginis herba, Solidaginis virgaureae herba), Schachtelhalmkraut (Equiseti herba), Orthosiphonblätter (Orthosiphonis folium, „Java-Tee“), Wacholderbeeren (Iuniperi pseudofructus), Hauhechelwurzel (Ononidis radix) u.a. Je nach Arzneidroge kommen zusätzlich zur aquaretischen Wirkung auch noch antiphlogistische, spasmolytische und keimhemmende Wirkungen zum Tragen. Empfohlen werden etwa drei bis fünf Tassen Tee pro Tag, meist in Teemischungen, in Fertigtees und auch als Extrakte.

LUTS, Reizblase, Prostatabeschwerden

Auch bei imperativem Harndrang, Schmerzen oder Brennen beim Harnlassen, Pollakisurie, Nykturie, Schmerzen im Unterbauch (Lower Urinary Tract Symptoms, LUTS), Symptomen bei Reizblase, aber auch bei irritativen oder obstruktiven Prostataerkrankungen, die multifaktoriell bedingt sein können und über deren Ursachen und Genese vielfach zu wenig bekannt ist, können pflanzliche Arzneimittel angewendet werden. Mit Erfolg kann man hier nebenwirkungsarme Phytopharmaka einsetzen, auch wenn über deren Wirkstoffe und Wirkmechanismen noch viel zu wenig ausgesagt werden kann. Zu nennen sind hier Pollenextrakte, Sterolgemische, Pygeum- und Granatapfelextrakte u.a. Einige Beispiele sind im Folgenden angeführt.

Granatapfelextrakte: In den letzten Jahren wurden verschiedenste Granatapfelfraktionen im Tierversuch, aber auch in vitro an unterschiedlichen Prostata-(Krebs-)Zelllinien untersucht. Die bisher publizierten Ergebnisse mit komplex zusammengesetzten Extrakten (und einzelnen Reinsubstanzen) lassen Granatapfelprodukte sicher interessant erscheinen, weitere Studien sind abzuwarten.

Kürbissamen: Die Samen von Cucurbita pepo wurden 2012 ebenso wie das daraus hergestellte Kürbiskernöl und die Trockenextrakte von der EMA (European Medicines Agency) in einer Monografie als traditionelle pflanzliche Arzneimittel empfohlen. Als Indikationen werden LUTS, BPH und Reizblase angeführt. Dosierung: 2,5–7,5 g Samen (etwa 1–2 EL) zweimal tgl., Öl: 1–1,2 gdreimal tgl., Trockenextrakt: 105 mg dreimal tgl. Darin spiegeln sich lange Erfahrung und die Ergebnisse von Studien wider, die Erfolge bei guter Verträglichkeit und Compliance, auch bei Dauergebrauch von Kürbissamen, belegen. Ebenfalls gute Behandlungserfolge sind bei Harnwegsinfektionen, Miktionsbeschwerden bei BPE, Stressinkontinenz bei postmenopausalen Frauen, Nykturie und Algurie beschrieben.

Goldrutenkraut: Virgaureae herba (Echtes Goldrutenkraut von Solidago virgaurea), ähnlich Solidaginis herba (S. canadensis, S. gigantea), werden nicht nur in Teemischungen als Aquaretika verschrieben; für das Echte Goldrutenkraut liegen gute Erfahrungen und eine Studie mit Trockenextrakt vor, die Besserung von dysurischen Beschwerden, besonders der Tenesmen bei Reizblase, belegen.

Sägepalmenfrüchte, Brennesselwurzel: Extrakte aus den Früchten der Sägepalme (Serenoa repens = Sabal serrulata) und aus den Rhizomen und Wurzeln der Brennessel (Urtica dioica) zeigen als Monopräparate, besonders aber auch in Kombination gute Wirksamkeit bei BPE. Gegenüber Standardtherapeutika (z.B. Tamsulosin, Finasterid) konnte in vielen Studien vergleichbare Wirksamkeit betreffend IPPS und Qmax ohne Wirkung auf PSA oder Volumen, bei z.T. deutlich geringeren Nebenwirkungen, v.a. im sexuellen Bereich, belegt werden. Auch verschiedenen urologischen Leitlinien zufolge stellt daher die Behandlung des BPS mit diesen Phytopharmaka bei geringen bis mäßigen Beschwerden ohne Obstruktion und Progressionsparameter eine günstige Behandlungsmöglichkeit dar. Dem Nachteil eines verzögerten Wirkungseintrittes steht der Vorzug geringer bis fehlender unerwünschter Wirkungen gegenüber, was im Allgemeinen zu einer hohen Akzeptanz und guter Compliance beim Patienten führt.

Weidenröschen: Die aus der Volksmedizin bekannte Anwendung der Teedroge Weidenröschenkraut (Epilobii herba) hat durch die Auffindung wirksamer Inhaltsstoffe eine gewisse Erklärung gefunden: Flavonoide (Myricetinglucuronid) wirken hemmend auf die Prostaglandinsynthetase, Oenotheine hemmen Aromatase und 5α-Reduktase.
Bei urologischen Beschwerden steht eine Reihe pflanzlicher Präparate – seien es einfache Teedrogen und Teegemische, Fertigtees, Arzneispezialitäten oder andere Produkte – zur Verfügung, die alleine oder adjuvant zur Behandlung und Prophylaxe sinnvoll eingesetzt werden können. Alte Erfahrung findet vielfach durch Arbeiten zu Wirkstoffen und Wirkmechanismen sowie durch klinische Studien ihre wissenschaftliche Erklärung und Bestätigung.