Praxisverändernde Studien in der Onkologie

Zervixkarzinom: Prävention und Therapie

Ein Höhepunkt am Weltkongress für Onkologie ist die Präsentation ausgewählter Studien in der Plenarsitzung, die ein gemeinsames Prädikat haben: Sie sind praxisverändernd. Dabei sind zwei Studien zur Prävention und Therapie von Zervixkarzinomen aufgefallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

In Indien: Essigsäure-Screening statt PAP-Abstrich: Die erste Studie wurde in Mumbai/Indien durchgeführt, gesponsert vom National Institute of Health und von Non-Profit-Organisationen. In Indien ist alles kostenprohibitiv, was in westlichen Ländern als Norm gilt, und entsprechend lesen sich die Zahlen: Zervixkarzinome sind häufiger als Mammakarzinome und haben bei indischen Frauen die höchste Mortalitätsrate. Ein Drittel aller Zervixkarzinome weltweit und ein Drittel aller weltweiten Zervixkarzinom-Todesfälle ereignet sich in Indien. Ein PAP-Screening ist mangels Infrastruktur, geschultem Personal und aufgrund zu hoher Kosten nicht durchführbar. Mit diesen Voraussetzungen wurden 150.000 Frauen aus Slumgebieten in Mumbai in eine Präventionsstudie aufgenommen. Gescreent wurde mit einem Essigsäuretest, der leicht von nichtmedizinischem Personal durchgeführt werden kann und dessen Ergebnisse – durch visuelle Inspektion des Genitals – sofort und ohne Anforderungen an ein Labor verfügbar sind. Essigsäurepositive Läsionen zeichnen sich als Weißreaktion ab und sind in bestimmter Form und Ausprägung hinweisgebend für präkanzeröse Läsionen. Frauen, die aus Slumgebieten kommen und im Kastenwesen Indiens am untersten Rand der Gesellschaft stehen, waren – quer durch religiöse Ethnien – an Maßnahmen zur Vermeidung einer tödlichen Erkrankung dermaßen interessiert, dass eine im europäischen Kontext nur schwer erreichbare Compliance-Rate von mehr als 90% über mehrere Jahre möglich war. Eine allfällige Therapie wurde zur Verfügung gestellt, ohne das Gesundheitssystem von Mumbai zu belasten, das in einer der weltgrößten Metropolen dafür keine Ressourcen hat. Nach zwölf Jahren zeigte sich, dass mit einem alle zwei Jahre viermal durchgeführten Essigsäuretest sehr viele präinvasive Tumoren auffindbar waren. Es gab praktisch keine Überdiagnosen, invasive Tumoren hatten eine geringere Ausdehnung (Downstaging durch Frühauffindung), die zervixkarzinomassoziierte Mortalität wurde um ein Drittel reduziert, und die Gesamtmortalität war geringer (wenngleich nicht signifikant). Laut Studienärzten lassen sich mit dieser Methode in Indien jährlich mehr als 22.000 Zervixkarzinom-Todesfälle verhindern, global wären in Entwicklungsländern 72.000 Todesfälle pro Jahr zu vermeiden.

Längeres Überleben mit dem VEGF-Antikörper Bevacizumab: Es gibt effektive Maßnahmen, die Zervixkarzinome erst gar nicht aufkommen lassen. In Österreich werden sie einerseits wahrgenommen (PAP-Screening), andererseits nicht refundiert (HPV-Impfung), sodass die Therapie immer noch als Eckpfeiler eines prinzipiell vermeidbaren Tumors gelten kann oder muss. In dieser Hinsicht war eine Studie mit dem VEGF-Antikörper Bevacizumab interessant. Rationale für diese Therapieoption ist die Beobachtung, dass HPV-Onkoproteine vaskuläre Wachstumsfaktoren (VEGF) hochregulieren. Im Ergebnis wurde das Gesamtüberleben von Zervixkarzinompatientinnen durch die Zugabe des VEGF-Antikörpers zur Chemotherapie um vier Monate verlängert. In der Schlussfolgerung wurde festgehalten, das Bevacizumab die erste zielgerichtete neue Therapie ist, die bei einem gynäkologischen Tumor das Gesamtüberleben verbessert.

Neue Optionen beim Ovarialkarzinom

Multikinasehemmer Pazopanib als Erhaltungstherapie: Als Late-breaking Abstract wurde die Zulassungsstudie mit Pazopanib für Patientinnen mit Ovarialkarzinom vorgestellt. Ovarialkarzinome waren über Jahrzehnte eine Domäne der Chemotherapie, bis Ende 2011 der VEGF-Antikörper Bevacizumab als erste neue Substanz in dieser Indikation zugelassen wurde. Die Optionen dürften sich in der nächsten Zeit um den VEGF-wirksamen Multikinasehemmer Pazopanib erweitern. Pazopanib wurde im Anschluss an die First-Line-Chemotherapie verabreicht und konnte auf diese Weise das progressionsfreie Überleben um 5,6 Monate verlängern und die Notwendigkeit einer Second-Line-Chemotherapie entsprechend hinauszögern. Insgesamt bestätigt sich der – nicht ganz unumstrittene – Wert einer Antiangiogenesestrategie beim Ovarialkarzinom, und es werden sich in Zukunft mehrere Optionen zur Therapieindividualisierung anbieten.

Mammakarzinom: zehn Jahre Tamoxifen

Lange Zeit galt das Paradigma, dass postmenopausale Brustkrebspatientinnen fünf Jahre mit Tamoxifen behandelt werden sollen, nachdem eine längere Therapiedauer mehr Nebenwirkungen, aber keine weitere Risikoreduktion bringt. Dieses Paradigma wurde erstmals im Jahr 2012 durch die ATLAS-Studie umgestoßen. Das britische Pendant ist die heuer am ASCO vorgestellte aTTom-Studie, die diese neue Sichtweise bestätigt und als optimale Dauer der adjuvanten Therapie mit Tamoxifen zehn Jahre festhält. Rezidivrate und Brustkrebsmortalität lassen sich damit markant verringern. Es gibt eine Schattenseite mit einer höheren Rate an Endometriumkarzinomen und endometriumkarzinomassoziierten Todesfällen, die aber in sämtlichen Interpretationen den klinischen Nettobenefit nicht aufwiegen können. Die Ergebnisse sind insofern richtungsweisend, als die Hälfte aller Rezidive bei hormonrezeptorpositivem Brustkrebs nach den ersten fünf Jahren einer Tamoxifen-Therapie auftritt – womit Spätrezidive eines der wesentlichen Probleme sind. Auf der anderen Seite sind die Ergebnisse für postmenopausale Patientinnen heute nicht mehr wirklich brisant, nachdem Tamoxifen weitgehend durch Aromatasehemmer verdrängt wurde. Die optimale Dauer der adjuvanten endokrinen Therapie mit Aromatasehemmer ist derzeit offen und wird von der Austrian Breast & Colorectal Cancer Study Group, ABCSG, in der SALSA-Studie mit Anastrozol untersucht. In der Zwischenzeit könnte sich eine verlängerte adjuvante Tamoxifen-Therapie bei jenen Patientinnen anbieten, bei denen Aromatasehemmer nicht indiziert sind (z.B. bei prämenopausalen Patientinnen).

Malignes Melanom

Ähnlich wie das Nierenzellkarzinom galt das maligne Melanom lange Zeit als therapierefraktär. Optionen beschränkten sich überwiegend auf die Immuntherapie mit Interleukinen und Interferonen, bis dann ab dem Jahr 2011 Schlag auf Schlag neue Medikamente zugelassen wurden, die heute bei etlichen Patienten ein Langzeitüberleben ermöglichen. Der erste wirkliche Erfolg gelang mit dem Immunmodulator Ipilimumab, der die T-Zell-vermittelte antitumorale Aktivität potenziert; gefolgt von der Zulassung von Vemurafenib bei Patienten mit spezieller BRAF-Mutation. Am 1. Juli 2013 wurde mit Dabrafenib ein neuer BRAF-Inhibitor zur europäischen Zulassung empfohlen. Besonderheiten bestehen darin, dass die immunmodulierende Wirkung von Ipilimumab erst nach Wochen einsetzt, dafür aber Jahre halten kann, während BRAF-Inhibitoren sehr rasch eine hohe Ansprechrate erreichen, die aber von kürzerer Dauer ist. Deshalb wurden unter Ausnützung der Vorteile einer jeden Substanzklasse Kombinationstherapien initiiert, die auch in Österreich laufen. Eine weitere neue Therapieform sind MEK-Inhibitoren wie Trametinib, die sich ebenfalls als Kombinationspartner anbieten und in Österreich untersucht werden.

Neue Formen der personalisierten Krebstherapie

Neben all den Erfolgen läuft die eigentliche Revolution in der Krebstherapie derzeit eher noch im Hintergrund, ist aber für die Speerspitze der onkologischen Forschung heute schon zwingend: nämlich die Etablierung einer neuen Studiengeneration, mit der es möglich ist, die Erfolge zielgerichteter Therapien bei mehr Patienten in kürzerer Zeit umzusetzen. Es befinden sich heute mehr als 940 Substanzen in klinischer Entwicklung, die meisten davon zielgerichtete Therapien, die für Patienten in Frage kommen, deren Tumor durch ein bestimmtes genetisches Merkmal charakterisiert ist, mit dem die Ansprechwahrscheinlichkeit auf eine Therapie höher ist. Die Biomarkerforschung nimmt enorm zu, kann aber oft lange Zeit nicht in der Klinik genutzt werden – mit dem Resultat, dass sich in den meisten Fällen ein Biomarker für eine Therapie in einer Indikation anbietet, bis ein weiterer Biomarker zur besseren Patientenselektion beiträgt, was oft an den Lebenszyklus einer Substanz gebunden ist. Während die Krebsforschung bereits eine Lawine an tumorbiologischen Veränderungen charakterisiert hat, ist das Panel an klinisch etablierten Markern für entsprechende Therapien noch weitgehend überschaubar. Die Vision besteht darin, vorhandene Synergien besser zu nutzen und die verfügbaren Substanzen nicht mehr entsprechend einer anatomischen Tumorgrenze (z.B. das Mammakarzinom), sondern je nach zugrunde liegender Tumorbiologie (z.B. HER2-positives Mammakarzinom) gezielt einzusetzen – und zwar unabhängig davon, wo der Tumor lokalisiert ist: HER2-positive Magenkarzinome werden heute ebenfalls schon mit dem HER2-Antikörper behandelt. BRAF-Inhibitoren werden heute nicht mehr nur beim Melanom, sondern bei Patienten mit ganz unterschiedlichen Tumoren untersucht, die aber alle durch die besondere BRAF-Mutation charakterisiert sind. Dieser Trend wird sich massiv fortsetzen. Zur Realisierung dieser Vision werden neue Instrumentarien (CHIP-Technologie, Hochdurchsatz-Screening) und eine neue biostatische Herangehensweise (selbstlernende bayesische Statistik) benötigt. In führenden Institutionen werden neue Konzepte der personalisierten Medizin bereits erprobt. Am diesjährigen ASCO wurden sie am Beispiel der MOSCATO-Studie vorgestellt, die am Institut Gustave Roussy in Frankreich läuft. Gleiches soll mit der EXACT-Studie, federführend unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinski, auch an der MedUni Wien etabliert werden und eine neue Ära der personalisierten Medizin einleiten.

 

 

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