Primary Health Care: Ist die Katze aus dem Sack?

Der Ablauf: In der Regierungserklärung ist von der Stärkung des Hausarztes die Rede. Unmittelbar nach Beschluss des Regierungsübereinkommens wurde via Gesundheitsministerium und Sozialversicherung ein „Board“ zur Entwicklung eines Konzeptes für Primary Health Care gegründet. Unter Verschwiegenheitspflicht. Laut dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger waren auch vier Repräsentanten der Ärzteschaft vertreten.
Am 19. Mai gab es einen „Arbeitsentwurf“. Am 2. Juni folgte dann – plötzlich – die Ergänzung des Konzeptes durch Pläne zu „rechtlichen Rahmenbedingungen“. Primäre Versorgungszentren sollen offenbar die Hausärzte zumindest teilweise ablösen. Die Zentren sollen Einzelverträge mit den Krankenkassen abschließen.

Rasinger: „Striktes Nein“

VP-Gesundheitssprecher Dr. Erwin Rasinger: „Es ist relativ simpel: 90% der Österreicher sind mit dem Hausarzt zufrieden. Die Hausärzte arbeiten unter sehr schlechten Bedingungen. Da gibt es eine Regierungserklärung, der zufolge der Hausarzt gestärkt werden soll. Und dann lädt der Minister drei Tage später zur Entwicklung eines Primary-Health-Care-Programms ein, das vielleicht für Tansania passt, aber nicht für uns. Was nicht o.k. ist: dass man zwangsweise die Hausärzte durch kollektive Versorgungsmodelle ruiniert. Ich sage strikt nein. Das trage ich nicht mit. Da rennt Gesundheitsminister Stöger gegen eine Betonwand“, sagte Rasinger gegenüber der Ärzte Krone.
Das „Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung in Österreich“ könnte bei niedergelassenen Ärzten schon von Start weg auf heftige Kritik stoßen. Die als Ausgangspunkt formulierte Mängelliste: „Unsicherheit der Patienten bei der Orientierung“, „unzureichende Zugänglichkeit zur Primärversorgung“, „mangelnde Koordinierung der Versorgung“ und „unzureichendes Patientenmanagement von chronisch Erkrankten“ etc., etc.
In Zukunft sollten primäre Versorgungsstrukturen (PV-Strukturen) Ärzte für Allgemeinmedizin, diplomiertes Krankenpflegepersonal und Ordinationsassistenten umfassen. Erreichbarkeit von Montag 7.00 Uhr bis Freitag 19.00 Uhr, Vertretungsregelungen regional (24 Stunden/7 Tage) etc. Dokumentation, Vernetzung, ELGA, Abstimmung mit mobilen Diensten, Teamsitzungen, Vernetzungstreffen, Qualitätszirkel, Barrierefreiheit, Qualitätsstandards, „lebenslanges Lernen als Kultur“ – alle „Wünsch-Dir-was“-Themen, die man sich denken kann, sind darin enthalten, ebenso die Zusammenarbeit mit Fachärzten und Therapeuten über fixe Verträge.
Ein Mitglied des Gremiums: „Uns gelang es wenigstens noch, in das Papier hineinzubringen, dass die Kernkompetenzen von PV-Strukturen ‚entweder vor Ort oder dezentral durch berufsrechtliche Personen abgedeckt‘ werden können.“ Damit wären auch Ärzte-Netzwerke (z.B. Styriamed.net) möglich.
Doch das ist nur die eine Seite in der brisanten gesundheitspolitischen Diskussion. Beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger verweist man darauf, dass das Primary-Health-Konzept bis auf das letzte Kapitel mit den möglichen Vertragsbedingungen für die geplanten PV-Strukturen mit den Mitgliedern des „Boards“ klar abgestimmt worden sei.
Es sei zunächst darum gegangen, die Funktionen und die Aufgaben der Primärversorgung zu definieren. Dann sei es darum gegangen, die Beteiligung der verschiedenen Berufsgruppen an den Primärversorgungsstrukturen festzulegen. Fazit: In Zukunft sollten in Österreich sowohl die bisherigen Hausärzte als auch andere Strukturen die Primärversorgung zu besseren Bedingungen als jetzt betreiben.

Die „Lunte“: Vertragsbedingungen

Doch die „Lunte“ legte nicht das „Board“, sondern jemand anderer an das Projekt: die Verfasser der mit dem PV-Konzept geplanten „rechtlichen Rahmenbedingungen“. Vorgesehen:

  • zunächst Aufbau von PV-Strukturen freiwillig für „bestehende Anbieter mit Kassenverträgen durch Anreize“.
  • „mittel- bis langfristig Planstellen für Allgemeinmediziner nur im Rahmen von PV-Strukturen“.
  • nur noch PV-Strukturen in Stadterneuerungsgebieten.
  • „Die konkrete Honorierung ist zwischen dem Rechtsträger der PV-Struktur und den zuständigen Krankenversicherungsträgern zu vereinbaren.“
  • „Die Honorierung (…) sollte von der Erbringung einzelner Leistungen und auch von der persönlichen Inanspruchnahme möglichst abgekoppelt sein, um angebotsinduzierte Mengenausweitung zu vermeiden.“

Von einem Gesamtvertrag zwischen Ärztekammer und Sozialversicherung ist nicht mehr die Rede. Das ließ schließlich die Wiener Ärztekammer handeln und die Pläne auffliegen. Das Gremium, welches das Primärversorgungskonzept erstellte („Board“), hat die zusätzlichen Anmerkungen zur zukünftigen Vertragsgestaltung laut Ärztevertretern nie gesehen.
Beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger wies man darauf hin, dass die neu hinzugekommenen Teile (Vertragsrecht) noch nicht abgestimmt seien. Dies würde bis 30. Juni geschehen.
Die Affäre kam jedenfalls nicht aus dem sprichwörtlichen „Blauen“. Schon bei den Ärztetagen in Grado hatte es geheißen: „Da kommt sicher was.“ Am 3. Juni sprach Gesundheitsministeriums-Sektionsleiter Dr. Clemens Martin Auer bei einem Workshop in Wien davon, dass man nicht in bestehende Verträge der Ärzteschaft eingreifen werde, aber neue Regelungen vorsehen müsse.
Im ORF-Radio ruderte Auer gegen die aufkommenden Wellen: Es gibt einen von Technokraten vorgelegten Arbeitsentwurf für ein Konzept der Neuausrichtung der Primärversorgung in Österreich. (…) Wer in diesem Land glaubt, dass diese Primärversorgungsstrukturen außerhalb von Gesamtvertragsstrukturen stattfinden könnten, irrt.“ „Die Technokraten“ hätten wahrscheinlich „Bilder im Kopf“, die nicht politiktauglich seien. Und übrigens: „Die Politik“ hätte das Papier noch nie gesehen. Freilich, im Hintergrund hieß es, speziell die Anmerkungen zu den Kassenverträgen seien „von ganz oben“ gekommen.

Ärzte umgangen?

Das klingt laut dem Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer, Dr. Artur Wechselberger, nach Plan und Strategie: „Zunächst hat man den ‚Bundes-Zielsteuerungsvertrag‘ für die Gesundheitsreform erstellt. Da stand nichts drin. Dann hat man dieses Konzept geschrieben; und das kommt nur noch in die Bundes-Zielsteuerungskommission – und da sitzen nur noch die Zahler (Bund, Bundesländer, Sozialversicherung; Anm.) drinnen.“
Wechselberger vehement: „Jetzt haben sie sich geoutet. Sie wollen das bestehende Vertragssystem zerstören. Wir sind nicht 2008 für die Gesamtverträge auf die Straße gegangen, um deren Abschaffung 2014 durch die Hintertür zu bekommen. Wir wollen eine Stärkung der niedergelassenen Ärzte und der Allgemeinmedizin – auf dem Boden des bestehenden Gesamtvertrages.“ Das Konzept erlaube aber gar den Umbau aller Spitalsambulanzen zu PV-Zentren. Dabei seien die Krankenkassen schon längst über das ASVG zur Bereitstellung der notwendigen Mittel verpflichtet.

Aufstand droht

Niedergelassenen-Bundeskurienobmann Dr. Johannes Steinhart äußerte sich ähnlich: „Das ist ein Modell der 1970er-Jahre. Was will man in der Stadt mit solchen Zentren, wo die betagten Patienten den für sie wichtigen Hausarzt in Gehnähe benötigen? Die Gesundheitspolitik bereitet derzeit die Abschaffung der niedergelassenen Ärzte vor. Aber die Vertragsgeschichte war jetzt endgültig der Auslöser für unseren Protest. Wenn das wirklich umgesetzt werden soll, gibt’s einen Aufstand. Die Katze ist aus dem Sack.“
Dr. Gert Wiegele, Bundeskurienobmann-Stellvertreter der niedergelassenen Ärzte, sieht die Sache strikt: „Ich halte das für die Kriegserklärung der Gesundheitspolitik an die Ärzte. Das ist völlig inakzeptabel. Das ist auch der Tod der Freiberuflichkeit. Wir haben mit unseren Vertragspartnern seit 30 Jahren zusammengearbeitet. Und jetzt stellt man das in Frage.“

Ende des derzeitigen Sozialversicherungssystems

„Ich halte das Papier von Inhalt und Stil her für schlecht und oberflächlich. Wenn man den ‚Vertragsteil‘ so umsetzt, ist das das Ende des derzeitigen Sozialversicherungssystems in Österreich. Da werden die Ärzte aus dem Kassensystem rausgehen und niemand mehr hinein. Die Gesundheitspolitik lebt offenbar noch immer in der Vorstellung, dass die Ärzte ‚auf den Bäumen wachsen‘ und man sie versklaven kann“, sagte Wiens Ärztekammerpräsident Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres.