Ringen um individualisierte Osteoporose-Zugänge

„Auf diesem Kongress kristallisiert sich immer deutlicher der interdisziplinäre Konsens heraus, dass der Knochen alle etwas angeht. Wir haben hier die unterschiedlichsten Fachrichtungen mit an Bord, die gemeinsam daran arbeiten, die Knochengesundheit zu verbessern: von Gynäkologen, Internisten bis zu Unfallchirurgen, Orthopäden und vor allem Allgemeinmedizinern“, verweist Tagungspräsidentin Univ.-Doz. Dr. Astrid Fahrleitner-Pammer stolz auf den breit gestreuten fachlichen Hintergrund der zahlreichen Teilnehmer und der Vortragenden beim diesjährigen Osteoporoseforum St. Wolfgang, der traditionellen Frühjahrs-Fortbildungsveranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Knochen und Mineralstoffwechsel (ÖGKM).

Dass die Perspektive zwangsläufig eine interdisziplinäre sein muss, argumentierte Univ.-Prof. DDr. Johannes Huber, Wien, mit einer Vielzahl an neuen Studienergebnissen, welche die komplexe Verwobenheit des Knochenstoffwechsels mit vielen anderen biologischen Regelkreisen zeigt: Fett- und Kohlenhydratstoffwechsel, Energiehaushalt der Zelle, Mikrobiota des Darms, Fortpflanzung bei der Frau, Testosteronproduktion im Hoden etc.
Allerdings: Gemeinsam ist allen Ärzten, die tagtäglich Patienten mit unterschiedlichsten Erkrankungen und Dispositionen sehen, auch, dass sie eine individuelle Therapieentscheidung vor dem erschwerenden Hintergrund einer bis dato unzureichend gelösten Frakturrisikostratifizierung treffen müssen. Die Knochendichte (BMD) als Therapieentscheidungsparameter wurde im letzten Jahrzehnt exzessiv relativiert, man muss bei der Knochenbruch-Krankheit von einem Dilemma aus Untertherapie und Übertherapie ausgehen: Fast die Hälfte der Frakturen ereignen sich schon bei osteopenischer BMD, und andererseits würden viele spezifisch Behandelte auch ohne Therapie nie eine Fraktur erleiden.

Wie viele Risikoscores brauchen wir?

Größte Anstrengungen werden deshalb zurzeit in die Entwicklung von Risikoscores gesteckt, welche die Wahrscheinlichkeit eines Fraktureintritts auch beim individuellen Patienten verlässlich einschätzen helfen sollen.
Derzeit stehen sogar mehrere Online-Berechnungstools zur Verfügung, die von ihrem Grundkonzept jedoch nur bedingt vergleichbar sind: Dem FRAX®-Tool (das anhand von relativ wenigen, aber gut validierten Risikoparametern ein Zehn-Jahres-Frakturrisiko berechnet) und dem britischen QFracture®-Tool (das mit einer deutlich ausgeweiteten Palette von ca. 30 Risikofaktoren dem Einzelpatienten gerechter wird, immerhin das Frakturrisiko für ein bis zehn Jahren angibt und bei dem die Knochendichte überhaupt keine Rolle spielt) stellte Prof. Dr. Claus-Christian Glüer, Kiel, den Therapiealgorithmus Osteoporose des DVO gegenüber. Glüer versprach noch bis Jahresende eine überarbeitete Fassung: u.a. mit deutschen – potenziell auch österreichischen bzw. schweizerischen – Daten als Validierungsgrundlage, einer Therapieempfehlung bei hohem Risiko auch ohne DXA-Messung, robusterer Datengrundlage für Männer und einem adaptierbaren Ausbau von Risikofaktoren, die auch nach geringem, moderatem und starkem Risiko unterschiedlich gewichtet werden. Für Glüer die wichtigste Änderung: Das Frakturrisiko wird nicht mehr auf zehn Jahre, sondern nur auf ein Jahr bezogen. Im Gegensatz zum FRAX®, der die altersbezogene Mortalität zur Relativierung des Risikos heranzieht und die sinkende Lebenserwartung Älterer mit einem Scoreabschlag „bestraft“, sollen dadurch Patienten nicht mehr aufgrund ihres Alters in ihrer Therapiewürdigkeit benachteiligt werden. Glüer: „Durch komplexe Berechnungen gelingt dem DVO-Tool eine enorme Aufspreizung des Patientengutes. Damit soll es besser gelingen, Patienten mit einem geringeren Risiko herauszufiltern und Patienten mit einem hohen Risiko verstärkt einer Diagnostik bzw. Therapie zuzuführen.“
Auch der President-elect der ÖGKM, Univ.-Prof. Dr. Hans Peter Dimai, Graz, kann sich für die Praxisrelevanz des DVO-Tools erwärmen: „Als einziges Online-Hilfsmittel verbindet es eine Risikoberechnung auch mit einer Therapieempfehlung.“
Glüer, auf das psychologische Problem der „kleinen Zahlen“ bei Ein-Jahres-Risiko-Angaben in der Therapieargumentation gegenüber den Patienten angesprochen: „Wie immer die Zahlen konkret aussehen mögen: Wir haben Mortalität in Zusammenhang mit Frakturen und können rechnerisch zeigen, dass die Therapieschwelle bei Osteoporose mit dem gleichen Mortalitätsrisiko gerechtfertigt werden kann, wie etwa die Therapieschwelle bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen – und sind damit weder zu konservativ noch zu großzügig im Vergleich zu anderen Volkskrankheiten.“
Der Geist hinter diesem Unterstützungstool wird auch die von Prof. Dr. Andreas Kurth, Frankfurt, ebenfalls noch vor Jahresablauf in Aussicht gestellte und von der Community mit Spannung erwartete Generalüberholung der DVO-Leitlinien zur Osteoporose prägen: Auch diese sollen das persönliche Ein-Jahres-Risiko für eine Wirbel- oder Schenkelhalsfraktur als diagnose- und therapieeinleitendes Kriterium fokussieren.

Individualisierung der Substanzwahl

Ein vergleichsweise geringeres Problem stellt bei entschiedenem Bedarf nach einer spezifischen Osteoporosetherapie die individuelle Auswahl aus einer reichhaltigen Palette an Substanzen dar: Leitlinien sollten, so Kurth, die Unterschiede einzelner Präparate in den Wirkmechanismen, der Pharmakokinetik, aber auch in der Wirkung auf verschiedene Frakturarten und der langfristigen Fraktursenkung bei kontinuierlicher oder diskontinuierlicher Einnahme reflektieren. In eine individualisierte Auswahl der Medikamente sollten die möglichen Neben- und Zusatzwirkungen, nachgewiesene Wirkungsdauer auch nach Absetzen des Präparats, die Kosten und die Einnahmemodalität einbezogen werden.
ÖGKM-Präsident Univ.-Prof. Dr. Peter Pietschmann, Wien, verwies in diesem Zusammenhang auf den wichtigen translationalen Beitrag der Fortschritte in der Grundlagenforschung. Der wissenschaftliche Blick werde immer differenzierter, um spezifische Wirksamkeitsvorteile einzelner Substanzen herausarbeiten zu können: „Substanzen haben etwa unterschiedliche Affinitäten zu den biomechanisch unterschiedlichen Kompartimenten Spongiosa und Kortikalis. Für eine Vielzahl von Präparaten gibt es zwar trabekuläre Daten. Mit hochsensitiven Strukturanalysemöglichkeiten ist es heute jedoch auch möglich, das Ausmaß der kortikalen Porosität nichtinvasiv darzustellen, um wichtige Informationen zur Wirksamkeit auf die besonders in höherem Alter zum klinischen Problem werdende Schwächung der Kortikalis zu erhalten.“ Woraus sich hypothetisch eine Möglichkeit mehr zur Therapieindividualisierung eröffnet.
Neuentwicklungen sollen auch Lücken in der heute verfügbaren Versorgung schließen, etwa bei anabol wirksamen Therapien. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Resch präsentierte zum in Entwicklung befindlichen monoklonaler Antikörper gegen Sclerostin tierexperimentelle Studien, die dessen Anwendung in orthopädischen Settings speziell bei verzögerter Frakturheilung und auch bei Knochendefekten mit großem Frakturspalt rational erscheinen lassen.

Vitamin D und Kalzium modifiziert

„Eine Substitution von Vitamin D im Rahmen der allgemeinen Empfehlungen ist mehr als gerechtfertigt“, zeigte sich Prim. Dr. Peter Bernecker, Wien, von der gesundheitsfördernden Wirkung des Vitamin-D-Hormons überzeugt und präsentierte Daten, die Vitamin D nicht nur für den Knochenstoffwechsel Key-Player-Qualität zuweisen, sondern darüber hinaus bei Mangel auch eine erhöhte Empfänglichkeit für verschiedene Erkrankungen, wie etwa tabakassoziierte Malignome oder eine TBC-Infektion nahelegen. Auch Univ.-Prof. Dr. Harald Dobnig, Graz, stellt sich hinter die aktuellen Leitlinien-Empfehlungen mit einer 800–2.000 IE pro Tag entsprechenden Dosierung von Vitamin D, um für eine größtmögliche Patientenanzahl in den gewünschten Serumspiegelbereich von > 20 ng/ml bei langfristiger Sicherheit zu kommen. Beide raten zur Vorsicht bei höheren Dosierungen – außer bei individuellem Bedarf in speziellen Situationen –, da immer mehr Daten, wie etwa aus der NHANES-Studie, eine Mortalitätszunahme ab Spiegeln um 40 ng/ml zeigten. Diese U-förmige Benefit-Kurve lasse sich auch für andere Bereiche wie den Zusammenhang mit der physischen Performance reproduzieren, so Dobnig. Zur Diskussion um ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko im Kontext von hohen Kalzium-Supplementierungsdosen betonte Bernecker den Unterschied einer Primärprävention bei Gesunden – hier rät er bei ausreichender alimentärer Ca-Zufuhr von Kombinationspräparaten ab – zur nach wie vor unstrittigen Supplementierung im Rahmen der Osteoporose-Basistherapie, zumal alle Studienerfolge der spezifischen Osteoporosemedikamente ausschließlich unter Integration einer Ca-Vit.-D-Kombination erfolgten.

Osteoporose-App der ÖGKM

Dr. Christian Muschitz, Wien, präsentierte im Rahmen des Osteoporoseforums auch die neu entwickelte Osteoporose-App „OsteoGuide“, mit der die ÖGKM als erste Fachgesellschaft Österreichs ihre Leitlinien für Smartphones und Tablets verfügbar macht (kostenloser Download unter: www.medmedia.at/apps/osteoguide/). Highlight der App ist ein interaktiver Algorithmus zur medikamentösen Therapie, der die differenzialtherapeutischen Überlegungen intuitiv erfahrbar machen soll.

 

Information und Unterstützung für Ihre Osteoporose-Patienten

Die Diagnose Osteoporose bedeutet für die Betroffenen eine umfassende und dauerhafte Veränderung ihres Lebensstils. Das ist eine große Herausforderung im Alltag, und es braucht eine Menge an Informationen, um die Therapie nachhaltig und konsequent einzuhalten.
Selbsthilfe als Brücke zwischen Arzt und Patient: In Österreich gibt es über 30 qualitätsgesicherte Osteoporose-Selbsthilfegruppen, die Betroffene und deren Angehörige mit Rat und Tat unterstützen. Sie organisieren medizinische Fragestunden, Kochkurse, Osteoporoseturnen und ermöglichen einen regen Austausch mit anderen Betroffenen. www.osteoporose-selbsthilfe.org
Sichere Informationen statt „Dr. Google“: Das Internet entwickelt sich zu einer bedeutenden Informationsquelle in Gesundheitsfragen – nicht immer zur Freude der behandelnden Ärzte und Ärztinnen.
Sichere und unabhängige Informationen bietet: www.aktiongesundeknochen.at. Diese Website ist mit dem internationalen Qualitätszertifikat für vertrauenswürdige Gesundheitsinformationen, dem Hon-Code, ausgezeichnet und verfügt über ein moderiertes Internetforum „Osteolink“ zum Informationsaustausch. Osteolink kam auf die Shortlist des European Health Award 2011.
Werbefreie und qualitätsgesicherte Patientenbroschüren für das Wartezimmer:
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