Vorsicht: Wechselwirkung!

Der Anstieg der Lebenserwartung ist eine der größten Herausforderungen für unser Gesundheitssystem. Auf etwa 20 Prozent der Versicherten entfallen 80 Prozent der gesamten Ausgaben, sagen die Krankenkassen. Der Großteil dieser 20 Prozent sind naturgemäß ältere und betagte Menschen. Tatsächlich steigen die Pro-Kopf-Ausgaben mit zunehmendem Alter deutlich an. Gesundsheitsökonomen sprechen von einer höheren Krankheitsneigung im Alter.

Dass nicht alle der wachsenden Ausgaben für alte Menschen nötig und unvermeidbar sind, ist bekannt. Das dies für die medikamentöse Therapie gilt, ebenfalls. Die Krankenkassen haben das nun sogar mit Zahlen untermauert. „In Österreich bekamen in einem Quartal rund 700.000 Menschen mehr als fünf Wirkstoffe verschrieben, rund 158.000 Menschen mehr als zehn“, rechnete Mag. Alexander Hagenauer, Stellvertretender Generaldirektor im Hauptverband der Sozialversicherungsträger, bei einem Pressegespräch in Wien vor. In der ersten Gruppe sind 75 % der Betroffenen älter als 60 Jahre, in der zweiten 80 %. Generell sind Frauen mit einem Anteil von fast zwei Drittel vom Phänomen der Polypharmazie weitaus häufiger betroffen als Männer.

Mit der Zahl der speziell für multimorbide Patienten verschriebenen Wirkstoffe steigt auch das Interaktions- und Nebenwirkungsrisiko. Bereits vor einigen Jahren haben Salzburger Mediziner und Wissenschafter die Medikation älterer Patienten untersucht und bei mehr als 36 % von ihnen verzichtbare Medikamente gefunden. Weitere 30 % der Wirkstoffe waren für alte Menschen schlicht inadäquat. Passiert ist nach dieser Studie wenig. Die E-Medikation wurde getestet, entwickelt und wird dennoch erst 2016 und damit nach dem Start der Elektronischen Gesundheitsakte kommen.

Doch jetzt preschen die Krankenkassen plötzlich vor und wollen nun bei Patienten, Ärzten und Apotheken für mehr Problembewusstsein sorgen. Erreichen wollen sie das über eine Informationskampagne mit Broschüren und Foldern, die von den einzelnen Länderkassen regional gestreut werden. Erstellt wurden sie unter dem Slogan „Vorsicht Wechselwirkung“ gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie und mit der Österreichischen Pharmakologischen Gesellschaft. Was die Verantwortlichen der ELGA GmbH genauso überrascht wie die Apothekerkammer und selbst Teile des Hauptverbandsmanagements ist die Art der Kampagne: Alle Allgemeinmediziner bekommen in naher Zukunft erstmals ein Schreiben mit ihrer persönlichen Polypharmaziequote – sprich: dem Anteil ihrer Patienten mit mehr als zehn Wirkstoffverschreibungen. Die Arztschreiben sollen nicht als Drohung oder Ankündigung von Kontrollen, sondern als Mittel dienen, in der täglichen Praxis mehr Augenmerk auf das Problem zu legen, erklärten Mag. Andreas Huss, Obmann der Salzburger Gebietskrankenkasse, und Dr. Klaus Klaushofer, beratender Arzt des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und Ärztlicher Leiter des Wiener Hanusch-Krankenhauses.

Vor allem aber bekommen die Hausärzte neu gestaltete Arzneimittelpässe, die sie ähnlich wie einen Impfpass oder einen Mutter-Kind-Pass den Patienten geben sollen und in die diese alle ihre Medikamente eintragen sollen. Startet damit tatsächlich die E-Medikation analog in Papierform? „So ist es“, bestätigt Hauptverbandspressesprecher Dieter Holzweber am Rande der Pressekonferenz. Die „Medikamenten-Checkliste“ fragt die Patienten auch Folgendes: „Gibt es außer Medikamenten andere Möglichkeiten, meine Krankheit zu behandeln?“ Und weiters: „Verträgt sich das Medikament mit den anderen Medikamenten, die ich einnehme?“ „Und passt es auch zu den rezeptfreien oder pflanzlichen Mitteln aus der Apotheke, die ich einnehme?“ Dass das auch das Medikationsmanagement vorwegnimmt, glaubt Apothekerkammerpräsident Mag. pharm. Max Wellan nicht. „Der Hauptverband fokussiert hier primär die rezeptpflichtigen Produkte, die von den Kassen erstattet werden. Das Medikationsmanagement, wie wir es verstehen, hat einen viel breiteren Ansatz und stellt den Patienten in den Mittelpunkt.“ Wellan begrüßt grundsätzlich den Vorstoß, wundert sich allerdings ähnlich wie die Elga GmbH, dass man hier nicht von Beginn an gemeinsam vorgehe. „Es wird sicher die Aufgabe der Zukunft sein, alle Aktivitäten unter einen Hut zu bringen.“

Während der Apothekerpräsident die Aktion primär als Informationskampagne sieht, arbeiten die Krankenkassen schon an mehr: Jeder Allgemeinmediziner werde in den kommenden Tagen ein Startpaket mit Informationsmaterial und fünf Pässen zugesandt bekommen, erklärt Mag. Edith Brandner, Leiterin der Abteilung Medizinische Behandlungsökonomie der Wiener Gebietskrankenkasse. Man sehe das als Test, könne aber rasch und unbürokratisch sofort mehr Pässe liefern, wenn dafür Bedarf bestehe. Warum die Apothekerkammer nicht in die Kampagne eingebunden wurde? Brandner: „Wir sehen die medikamentöse Therapie in der Verantwortung des Arztes. Deshalb geht das auch nur an Ärzte.“ Das Ziel sei, das Arzt-Patienten-Verhältnis dadurch zu verbessern.Vor allem wolle man aber die Polypharmazie einbremsen. In Wien betrifft das etwa fünf Prozent der Patienten, die zehn oder mehr Präparate erhalten. „Unser Ziel ist es, hier gegenzusteuern – mit Hilfe der Ärztinnen und Ärzte und im Sinne der Patientensicherheit“, sagt Brandner und betont, dass Allgemeinmediziner nicht das Problem sind, sondern dessen Lösung sein können. Oft seien zu lang ausgefallene Arzneimittelverschreibungen nach Spitalsaufnahmen und nicht koordinierte Verschreibungen verschiedener Fachärzte die Ursache. Dazu kommt, dass hochbetagte Menschen oft vergessen, manche, kurzzeitig verordnete Medikamente abzusetzen.

Wellan sieht sich hier in seiner Einschätzung bestätigt: „Das ist jetzt ein Beitrag zur Sensibilisierung der Ärzte. Unser Medikationsmanagement stellt den Patienten in den Mittelpunkt. Die Apothekerinnen und Apotheker helfen den Kunden und Patienten dabei, alles, was sie einnehmen, besser zu strukturieren und abzugleichen. Dabei erfassen wir in der Apotheke alle rezeptfreien und rezeptpflichtigen Arzneimittel – egal ob privat oder auf Krankenkasse – und auch die Nahrungsergänzungsmittel, um ein gesamtes Bild zu erhalten und die Menschen umfassend betreuen zu können.“