Allgemeinmedizin – der Reiz der Vielseitigkeit

ARZT & PRAXIS: Herr Dr. Horvatits, wo sehen Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit als niedergelassener Allgemeinmediziner?
Dr. Horvatits: Ich bin seit 1988 als niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin in der Gemeinde Kobersdorf im Burgenland tätig. Mein Hauptschwerpunkt ist im Prinzip die Primärversorgung im ländlichen Raum, die eine ganz andere Zugangsweise als im städtischen Raum erfordert. Ergänzend zur normalen schulmedizinischen Behandlung biete ich in meiner Ordination Akupunktur und Ernährungsberatung an. Ich führe relativ viele Vorsorge-, aber auch Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen durch. Letzteres ist wohl der dörflichen Struktur geschuldet, wo die entsprechenden Fachärzte oft ein bisschen weiter entfernt sind. Aber das ist eben auch positiv: So bekommen wir in unserer Praxis ein buntes Spektrum an Patienten zu sehen. In den hausärztlichen Tätigkeitsbereich fällt natürlich auch die Langzeitbetreuung chronisch kranker Menschen, wie beispielsweise Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, Hypertonie oder Diabetes. Das Burgenland ist hier in der speziellen Situation, dass das Disease-Management-Programm „Therapie Aktiv“ von der Burgenländischen Gebietskrankenkasse nicht finanziert wird. In allen anderen Bundesländern gibt es diese Abrechnungsmöglichkeit mit den Gebietskrankenkassen. Diabetes-Schulungen finden jetzt nur mehr in Krankenhäusern und nur in ganz wenigen Ordinationen auf private Initiative hin statt, sodass man sagen muss: Das Burgenland ist hinsichtlich Diabetes momentan suboptimal versorgt. Und das, obwohl wir im Burgenland mit dem vom leider so früh verstorbenen OA Dr. Gerhard Cerny (KH Eisenstadt) initiierten „Modell Burgenland“ eines der ersten strukturierten Diabetes-Schulungsprogramme und -Betreuungsmodelle vorweisen konnten, das auch flächendeckend im ganzen Land umgesetzt wurde. Das „Modell Burgenland“ wurde 2013 leider eingestellt, das Land und die Gebietskrankenkasse haben sich auf die Umsetzung der Diabetes-Schulung in den Spitälern geeinigt.

Was schätzen Sie besonders am Beruf des Allgemeinmediziners?

Auf jeden Fall die Vielseitigkeit. Ich finde es wirklich spannend und herausfordernd, wenn man manches Mal von einer Minute zur anderen – oder vielmehr von einem Patienten zum anderen – in ein völlig anderes Fachgebiet gelenkt wird. Was ich außerdem sehr schätze, ist die Möglichkeit der kontinuierlichen Langzeitbetreuung der Patienten sowie der generalistische Blick. Viele meiner Patienten kenne ich jetzt bereits fast 30 Jahre. Da weiß man dann schon auch viel über die Krankengeschichte, die Familienanamnese, die jeweiligen psychosozialen Verhältnisse, die ja oft für die gesundheitliche Situation nicht unwesentlich sind. Eine lang andauernde, konstante Arzt-Patienten-Beziehung ist für beide Seiten sehr positiv. Auch das Begleiten und Koordinieren bei Spitalsoder Facharztüberweisungen und das „Übersetzen“ von Fachbefunden in eine für meine Patienten verständliche Ausdrucksform halte ich für eine sehr wichtige und schöne Aufgabe.
Das bringt mich auf die derzeit diskutierte Zentrenversorgung: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der typische Patient am Land sich freut, wenn er bei jedem Arztbesuch ein anderes Gesicht sieht. Die Primary-Health-Care-Zentren mögen ein geeignetes Konzept für Ballungsräume sein, für den ländlichen Raum dagegen weniger. Aber natürlich müssen wir auch im ländlichen Raum die Vernetzung weiter ausbauen, Öffnungszeiten besser untereinander abstimmen und das Angebot für Patienten noch weiter verbessern. Als positives, gut funktionierendes Beispiel möchte ich hier das styriamed.net nennen. Im Burgenland wurde mit dem pannoniamed.net eine vergleichbare Struktur geschaffen. Zwar gibt es noch ein paar Startschwierigkeiten, aber in unserem Bezirk beispielsweise funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Fachärzten und Allgemeinmedizinern wirklich sehr gut.

 

 

Trotz der von Ihnen geschilderten schönen Seiten des Berufes gibt es zu wenig junge Allgemeinmediziner, vor allem im ländlichen Bereich. Warum ist das so?

Dafür gibt es sicherlich mehrere Ursachen. Zum einen wird unser Berufsbild leider nicht besonders attraktiv geschildert, vielleicht haben wir auch selbst manches Mal zu viel gejammert. Auch wird den Allgemeinmedizinern von den Kollegen in Krankenhäusern oft nicht besonders viel Wertschätzung entgegengebracht – das ist im Einzelfall sicher unterschiedlich, aber generell kann man das so sagen, denke ich.
Ein ganz wesentlicher Punkt für mich ist, dass die Studenten in ihrer Ausbildung an der Universität eigentlich viel zu wenig über Allgemeinmedizin erfahren. In Graz und Innsbruck wird – mehr als in Wien – zunehmend versucht, allgemeinmedizinische Inhalte in den Unterricht einzubringen, aber es gibt noch großen Verbesserungsbedarf. In Deutschland ist es mehr oder weniger Standard, dass es an jeder medizinischen Universität auch allgemeinmedizinische Institute gibt. Da haben wir noch viel aufzuholen.
Wenn wir schon bei der Ausbildung sind, so halte ich auch die Ausweitung der Lehrpraxis für ganz wesentlich. Nach der neuen Ausbildungsordnung muss jeder Allgemeinmediziner eine sechsmonatige Lehrpraxis absolvieren. Die Frage der Finanzierung der Lehrpraxis ist aber noch ungeklärt. Es ist zwar einerseits eine schöne Aufgabe, als Lehrpraxisleiter seine Erfahrungen weiterzugeben, andererseits aber auch eine nicht unerhebliche finanzielle und zeitliche Belastung für eine Ordination. Da schon nächstes Jahr die ersten jungen Kollegen in der neuen Ausbildungsordnung so weit sein werden, dass sie in die Lehrpraxis kommen, wäre es wichtig, hier rasch eine Lösung zu finden, damit es dann auch genug Lehrpraxisangebote gibt.

Welche Maßnahmen könnten helfen, das Berufsbild Allgemeinmedizin attraktiver zu machen?

Eine Verbesserung der Nachtdienstregelungen im ländlichen Raum wäre beispielsweise ein wichtiger Punkt. In ihrer momentanen Form sind die Bereitschaftsdienste sicher für viele jungen Kollegen ein Problem; hier sollte man versuchen, neue Modelle zu erarbeiten. Im Burgenland haben wir eine sehr dichte Nachtdienstversorgung: So sind im Bezirk Oberpullendorf mit ca. 35.000 Einwohnern jede Nacht drei Kollegen in Bereitschaft. Das ist im Vergleich zu anderen Bundesländern oder auch Deutschland sehr viel und vielleicht nicht wirklich notwendig.
Durch mehr Vernetzung unter den Ärzten könnten die Arbeitsbedingungen weiter verbessert werden. Wenn man in einem koordinierten Netzwerk zusammenarbeitet, ist es nicht nötig, dass jede einzelne Ordination bis 19 Uhr geöffnet hat. Natürlich muss man diese Versorgungsmöglichkeit auch entsprechend kommunizieren, damit die Patienten wissen, dass es eine Alternative zur Ambulanz gibt.

Sie engagieren sich auch kammerpolitisch – welche Funktionen üben Sie hier aus?

Meine wichtigste bzw. zeitintensivste Aufgabe in der Ärztekammer (ÄK) für Burgenland ist die des Fortbildungsreferenten. Außerdem fungiere ich als Qualitätssicherungsreferent und Lehrpraxisreferent.
Daneben engagiere ich mich seit vielen Jahren in der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM). Ich bin Präsidiumsmitglied und seit sieben Jahren Tagungsleiter der ÖGAM-Wintertagung – eine mittlerweile gut etablierte Veranstaltung, die heuer bereits zum 16. Mal stattgefunden hat.

Was sind Ihre Aufgaben als Fortbildungsreferent der ÄK für Burgenland?

Als Fortbildungsreferent für das Burgenland bin ich für die DFP-Approbation von regionalen ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen zuständig. Regional bedeutet, dass sich die Fortbildungen, was das Einzugsgebiet anbelangt, an Ärzte aus einem Bundesland, konkret aus dem Burgenland, wenden.
Ich überprüfe, ob die eingereichten Fortbildungen den Qualitätsanforderungen der Verordnung über ärztliche Fortbildung entsprechen, und gebe die entsprechenden DFP-Punkte dazu frei. Allein 2016 gab es im Burgenland 255 Fortbildungsveranstaltungen, darunter zahlreiche Bezirksärztefortbildungen, Schulungen in Krankenhausabteilungen, Qualitätszirkel, Supervisionen sowie Seminare und Kurse, die als Tagesveranstaltungen oder längere Veranstaltungen organisiert waren. Acht dieser Veranstaltungen wurden direkt von der ÄK für Burgenland, also meinem Team, organisiert, darunter der Burgenländische Ärztetag, die Aushängeveranstaltung der Kammer für das ganze Bundesland. Es gibt also im Burgenland erfreulicherweise ein umfangreiches Angebot an Fortbildungen. Meines Erachtens ist es wichtig, Fortbildungsmöglichkeiten in Wohnortnähe anzubieten, damit man nicht immer nach Wien oder Graz fahren muss.

Wie wird das Angebot angenommen?

Das ist natürlich immer veranstaltungsabhängig, aber im Großen und Ganzen wird das Veranstaltungsangebot gut angenommen. Im vergangenen Jahr sind die Teilnehmerzahlen noch einmal mehr angestiegen, was sicher auch daran lag, dass mit 1. September 2016 der Fortbildungsnachweis erbracht werden musste. Neben dem Fortbildungsaspekt unterstützt der Besuch von Veranstaltungen auch die Kommunikation und Vernetzung. In diesem Zusammenhang halte ich die Bezirksärztefortbildungen für sehr wichtig.

Sie haben den Fortbildungsnachweis erwähnt – gibt es hier schon Ergebnisse?

Konkrete Zahlen wird es in Kürze geben, ein Bericht dazu ist in Vorbereitung. Was man aber schon jetzt sagen kann, ist, dass die Kollegen ihrer Verpflichtung zur regelmäßigen Fortbildung in hohem Maße nachgekommen sind. Zwischen den einzelnen Bundesländern wie auch zwischen niedergelassenen und angestellten Ärzten gibt es keine wesentlichen Unterschiede. Unter den wenigen säumigen Kollegen sind beispielsweise bereits pensionierte Kollegen, die noch einen Wohnsitzarzt gemeldet haben. Insgesamt wurde der Fortbildungsnachweis gut angenommen und ist in meinen Augen eine sinnvolle Sache.

Ein Teil der DFP-Punkte kann über E-Learning erworben werden. Was halten Sie von diesem Fortbildungsformat?

Ergänzend zu Präsenzveranstaltungen stellt das E-Learning inklusive Literaturstudium eine wichtige Säule der Fortbildung dar. Besonders für Kollegen im ländlichen Raum, wo man doch manches Mal nicht so leicht wegkommt, aber auch für Kollegen aus kleineren Sonderfächern, in denen es nicht so viele fachspezifische Veranstaltungen gibt, ist E-Learning sehr sinnvoll. Ich glaube, dass dieses Angebot in den nächsten Jahren noch weiter ausgebaut werden wird. Derzeit können knapp zwei Drittel der für das DFP-Diplom erforderlichen Punkte auf diese Weise absolviert werden. Die Regelung, dass nicht alle DFP-Punkte über E-Learning gesammelt werden können, dass also auch Präsenzfortbildungen besucht werden müssen, halte ich für richtig und wichtig.

Ein Fixpunkt im Veranstaltungskalender ist der bereits erwähnte Burgenländische Ärztetag. Welches Konzept wird hier verfolgt?

Unser Ziel ist es, ein möglichst breites Publikum anzusprechen: angestellte und niedergelassene Ärzte, Ärzte für Allgemeinmedizin sowie Fachärzte und Ärzte in Ausbildung. Jedes Jahr wird ein aktuelles Schwerpunktthema gewählt. Im letzten Jahr wurden die neue Ärzteausbildungsordnung und ihre Auswirkungen auf das burgenländische Gesundheitswesen thematisiert. Im Rahmen der neuen Ausbildungsordnung wurden ja einzelne kleine Fächer wie Augenheilkunde, Urologie, Dermatologie, HNO und Neurologie als Wahlfächer festgelegt. Diese Neuerung haben wir zum Anlass genommen, diesen Sonderfächern einen ganzen Tag zu widmen.
Beim diesjährigen Ärztetag ging es um die Vielseitigkeit des Schmerzes. Dieses Thema hat wirklich ein breites Publikum angelockt, etwa 80 Mediziner nahmen an der ganztägigen Veranstaltung am 22. April in Deutschkreutz teil. Die Vorträge setzten sich mit den wichtigsten Schmerzentitäten, aber auch dem chronifizierten Schmerzsyndrom und der sinnvollen Bildgebung der Wirbelsäule auseinander.
Das Thema für 2018 steht noch nicht fest, das werden wir in den nächsten Wochen gemeinsam im Team des Fortbildungsreferats erarbeiten und festlegen.

Welche interessanten Veranstaltungen wird es heuer noch geben?

Bis Ende Juni 2017 waren bereits 127 Veranstaltungen im Burgenland approbiert, darunter Supervisionen, Interviews, Qualitätszirkel, zahlreiche Schulungen in Krankenhäusern und viele Fortbildungsveranstaltungen in den Bezirken. Im Juni wird in Eisenstadt u. a. ein Notarzt-Grundkurs stattfinden sowie ein interessantes Seminar zum Thema „Wege zum Spitzengedächtnis“. Im Herbst wird ein Notarzt-Refresher- Kurs in Rust angeboten und wir werden auch sicher noch ein Lehrpraxisleiter- Seminar abhalten, damit es genug qualifizierte Lehrpraxisleiter gibt, wenn nächstes Jahr die ersten jungen Kollegen im neuen Ausbildungssystem so weit sind, mit ihrer Lehrpraxis zu starten.

Ein immer wiederkehrendes Thema bei der ärztlichen Fortbildung ist das Industriesponsoring. Bei der ÖGAM-Wintertagung für Allgemeinmedizin wurde 2017 erstmals komplett darauf verzichtet. Ihr Resümee dazu?

Ich glaube, es entspricht sehr dem Zeitgeist, hier eine klare Transparenz zu schaffen. In vielen Ländern ist es bereits seit längerem Usus, pharmafreie Kongresse zu organisieren; so sind z.B. die DEGAM-Kongresse schon seit Langem völlig unabhängig. Auch die SAGAM, VGAM und TGAM (Landesorganisationen der ÖGAM) haben bereits einige Kongresse ohne Industriesponsoring abgewickelt.
In der ÖGAM haben wir beschlossen, 2017 erstmals bewusst auf jegliches Industriesponsoring zu verzichten – nicht zuletzt, um dem zentralen Grundsatz der Unabhängigkeit Rechnung zu tragen. Nur für die Basisausbildung zu „Therapie Aktiv – Diabetes im Griff“, einem Disease-Management-Programm für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, haben wir das Angebot der Unterstützung durch die Steiermärkische Gebietskrankenkasse angenommen. Der Vorteil besteht eindeutig in der völlig freien Programmplanung, der Nachteil dieser Strategie liegt auf der Hand: Für die Teilnehmer einer Fortbildung wird es teurer. Erfreulicherweise gab es trotz der deutlich höheren Teilnahmegebühren keinen Rückgang bei den Teilnehmerzahlen der diesjährigen ÖGAM-Wintertagung. Der allgemeine Tenor war sehr positiv und die ÖGAM wird diesen Weg weitergehen.

Und wie hält es die ÄK für Burgenland mit dem Thema Industriesponsoring?

Beim Burgenländischen Ärztetag gibt es eine kleine Industrieausstellung, bei der die Firmen eine Gebühr für ihren Stand bezahlen und die Veranstaltung so unterstützen. Mit der Programmgestaltung sollen die Firmen aber keinesfalls zu tun haben, das heißt, Satellitensymposien gibt es beispielsweise nicht. Für die Zukunft würde ich mir für die Zusammenarbeit mit der Industrie Sponsoring-Pools wünschen, die als „Unrestricted Educational Grants“ zur Verfügung gestellt werden. Meiner Meinung nach hat die Industrie schon die Verantwortung, unabhängige Fortbildung zu unterstützen und nicht nur Produktplatzierungen zu finanzieren.

Was ist Ihnen persönlich bei einer Fortbildung wichtig?

Persönlich bevorzuge ich Präsenzfortbildungen. Da ich ohnehin in die Organisation vieler Veranstaltungen eingebunden bin, ergibt es sich fast zwangsläufig, dass ich dann auch oft selber hingehe. Unterstützend dazu halte ich auch E-Learning für sehr wichtig, weil man es bequem und zeitlich flexibel von zu Hause ausmachen kann. Eine gute Fortbildung sollte unabhängig, spannend, abwechslungsreich, interaktiv und praxisnah sein. Letzteres ist besonders aus allgemeinmedizinischer Sicht wichtig: Wir brauchen praxisrelevante Daten und Informationen, die wir im Alltag in der Ordination direkt umsetzen können; wir brauchen aber auch Informationen über die neuesten Trends, über rezente Forschungsergebnisse – und das möglichst prägnant und attraktiv präsentiert.

 

Foto: Oliver Miller-Aichholz