Volkskrankheit Diabetes – Bedarf an spezialisierten Ärzten steigt

Herr Professor Wascher, die ÖDG ­erwartet einen Anstieg der Diabetiker­zahlen in Österreich von derzeit ca. 600.000 Betroffenen auf 800.000 im Jahr 2030. Sind wir darauf vorbereitet?

Wascher: Ja und nein. Nein, weil man sich als Gesundheitssystem allein auf eine Volkskrankheit dieses Ausmaßes nicht vorbereiten kann. Ja insofern, als dass es in den letzten Jahren enorme therapeutische Fortschritte gegeben hat, insbesondere die Spätkomplikationen betreffend. Der individuelle Patient hat heute wesentlich bessere Chancen, ­keine Sekundärkomplikationen zu erleben, als vor 30 Jahren und ich gehe davon aus, dass sich diese Chancen in den ­kommenden Jahren weiter verbessern ­werden. Wir sind also von den Mitteln her vorbereitet, nicht aber auf das ­Ausmaß des Problems.

Spitalsambulanzen spielen ­hierzulande traditionell eine wichtige Rolle in der Diabetesversorgung. Sollte man den niedergelassenen Bereich stärker ­einbinden?

Kaser: Ein Teil der Diabetesmedizin sollte auf jeden Fall in der Peripherie ablaufen, das ist von den Ressourcen her gar nicht anders möglich. Ein Problem sind die immer spezielleren Diabetestherapien. Adäquate Schulung und Ausbildung sind die Basis für eine gute Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Zentren und niedergelassenen Ärzten – in erster Linie vermutlich Allgemeinmedizinern –, die letztlich die breite Versorgung übernehmen sollen.

Luger: Ein striktes Entweder-oder ist sicher nicht zielführend, denn natürlich brauchen wir auch in den Krankenhäusern Patienten aus dem gesamten ­Spektrum der Diabetologie für die Ausbildung junger Ärzte sowie für Forschung und Lehre. Für die Ausbildung ist es wesentlich, einen Querschnitt von Patienten zu haben und nicht nur solche mit weit fortgeschrittener Erkrankung. Umgekehrt ist die Intention, alles in Spitalsambulanzen zu verlagern, auch nicht sinnvoll. Die Kapazitäten sind dort nicht gegeben und in vielen Bereichen ist der niedergelassene Bereich dafür bestens geeignet.

Inwieweit verschärft das neue Arbeitszeitgesetz die Situation?

Luger: Gerade in der Inneren Medizin und der Diabetologie ist es wesentlich, dass man Patienten kontinuierlich sieht. Die vielen Abwesenheiten und die dadurch beeinträchtigte Kontinuität stellen sicherlich ein Problem dar, vor allem auch für die Ausbildung. Es ist ­schwierig, die bisher für die Ausbildung vorge­sehenen Zeiten aufrechtzuerhalten.

Steht grundsätzlich genug qualifiziertes Personal zur Verfügung, um immer mehr Diabetespatienten zu behandeln?

Luger: Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Endokrinologen und Diabetologen es in diesem Land geben müsste, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten. Das ist für mich erstaunlich, weil man jetzt eine neue Ausbildungsordnung gemacht hat und eigentlich nicht weiß, wie viele Diabetologen gebraucht werden.

Wascher: Dazu ein paar Zahlen der ­Wiener Gebietskrankenkasse: In Wien bekommen ca. 125.000 Menschen eine antidiabetische Medikation. Davon werden 12.000 in sogenannten Zentren (= Spitalsambulanzen) behandelt, die restlichen werden im niedergelassenen Bereich versorgt. Ich glaube einerseits nicht, dass nur 9 % der Diabetiker eine Spezialversorgung brauchen, und ­andererseits nicht, dass für die Basis­versorgung der restlichen Patienten genug da ist. Es fehlt eine Mittelstufe zwischen Basis- und High-End-Versorgung. Anzumerken ist noch, dass Wien mit seinen vielen Zentren privilegiert ist; in vielen Bundesländern gibt es nur einige wenige Zentren, was die Anreise kompliziert und zeitintensiv machen kann.

Für eine nachhaltige und gute Diabetestherapie fordert die ÖDG engagierte und entsprechend ausgebildete Ärzte. Was passiert konkret in diesem Bereich?

Wascher: Man muss zwischen ärztlicher Aus-, Weiter- und Fortbildung unterscheiden. Erstere ist in der neuen Ausbildungsordnung geregelt. Das Fach heißt nun Endokrinologie und Diabetologie. In Zukunft wird es also ausgebildete Endokrinologen/Diabetologen geben, allerdings handverlesen wenige, die nie in der Lage sein werden, eine Massenversorgung sicherzustellen. In der Ausbildung zum ­Allgemeinmediziner oder Internisten kommt Diabetes zu wenig vor, um eine Diabetesspezialisierung zu bieten. Daher muss es im Bereich der Weiter- und Fortbildung Aktivitäten geben, die einen Allgemeinmediziner oder Internisten in die Lage versetzen, eine Diabetesbetreuung auf einem qualifizierteren, über die reine Ausbildung hinausgehenden Niveau anzubieten.

Konkret – was soll einer können, was soll er wissen?

Kaser: Ein Arzt im niedergelassenen Bereich sollte mit möglichen Komplikationen von Diabetes gut vertraut und imstande sein, eine Insulintherapie zu beginnen. Die Insulintherapie ist sicher eine spezielle Form der Therapie, in der man geschult sein muss. Im Bereich der oralen Antidiabetika hat sich so viel getan, dass das „One-fits-all“-Prinzip nicht mehr angebracht ist, ­sondern vielmehr ein individualisiertes Vorgehen. Wenn man auf diesem Gebiet arbeiten will, ist es notwendig, sich ständig fortzubilden und mit dem Krankheitsbild Diabetes vertraut zu sein.

In welcher Rolle sieht sich die ÖDG, was die Weiter- und Fortbildung betrifft?

Wascher: Die ÖDG ist bestrebt, eine für Allgemeinmediziner und Internisten geeignete Weiterbildung anzubieten, um das Diabeteswissen und die entsprechenden Fertigkeiten zu vertiefen. Wie diese Weiterbildung letztlich ­ausschauen wird, ist noch offen. Das könnte ein Universitätslehrgang oder auch ein Diplom der Österreichischen Ärztekammer sein. Die inhaltliche Verantwortung für eine solche Weiterbildung sollte die ÖDG haben, sinnvollerweise müssen Diabetologen ausbildend tätig sein.
Ein solches Angebot allein reicht aber nicht. Die Einstellung auf Insulin ist relativ aufwendig und wird zurzeit nicht entsprechend honoriert. Das Angebot der Kompetenzsteigerung und die Schaffung von Verrechnungspositionen ­müssen Hand in Hand gehen. Sonst steigert man zwar die Kompetenz der Leute, aber dies wird im Alltag der Patientenversorgung nicht umgesetzt.

Wie können Universitäten zur ­Weiterbildung beitragen?

Luger: Die Universitäten können diese Aufgabe nicht alleine übernehmen, sollten aber ganz wesentlich beteiligt sein. Meiner Meinung nach sollten das die großen Zentren und etablierten Universitäten in die Hand nehmen, weil sie über die entsprechende Expertise, aber auch genügend Patienten verfügen. Ein rein theoretisches Lernen halte ich gerade im Hinblick auf die späteren, schwerwiegenden Komplikationen für wenig geeignet.
Im Rahmen der neuen Ausbildungsordnung gibt es die Möglichkeit, bei den Sonderfächern auch Module mit einem speziellen Fokus anzubieten. Das könnte man eventuell auch für Diabetes machen. Die Rahmenbedingungen und damit die Möglichkeit der Umsetzung sind hier aber noch zu unklar.

Sie haben im letzten Jahr die DIABETES AKADEMIE gegründet. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Wascher: Dahinter verbirgt sich eine gemeinsame Initiative von MedUni Wien, ÖDG und der Firma Novo ­Nordisk.

Kaser: Die DIABETES AKADMIE ist eine Fortbildungsplattform für junge, engagierte Ärzte, die es den Teilnehmern erlaubt, wichtige Aspekte des Diabetes mit mehr Tiefe abzuhandeln, als dies im Rahmen konventioneller Abendveranstaltungen möglich ist.

Luger: Im Klinikalltag bleibt manchmal zu wenig Zeit, die Hintergründe und Therapiemöglichkeiten im Einzelnen zu diskutieren. Die Idee hinter der ­DIABETES AKADEMIE ist, sich für zwei Tage komplett zurückzuziehen, um in engem Kontakt mit den Lehrenden Problemfälle und Therapieoptionen im Detail zu beleuchten und ausgiebig zu diskutieren. Man kann nicht schnell für zwei Stunden ins Spital oder in die Ordination fahren, die Kolleginnen und Kollegen sind wirklich die ganze Zeit konzentriert vor Ort.

Die „Klausurtage Insulin“ sind der erste Kurs der DIABETES AKADEMIE. Was wird hier geboten?

Kaser: Prinzipiell sollen einmal alle Grundlagen das Insulin an sich betreffend vermittelt werden, das heißt: ­Welche Insuline stehen uns zur ­Verfügung? Wann wird welches Insulin gegeben? Natürlich geht es auch um die Frage der Dosierung sowie zentral auch um die Frage: Wann wird wer und wie insulinisiert? – All das erarbeiten wir anhand vieler Beispiele. Die Angst vor dem Insulin soll ­genommen und die Kollegenschaft dazu gebracht werden, diesen Schritt selbst zu tätigen. Die orale antidiabetische Therapie wird dabei natürlich nicht ausgeblendet. Es gibt eine bunte Diskussion darüber, für wen Insulin geeignet ist und für wen eine Kombination, welches Insulin sich eignet und wer vielleicht mehr von anderen Therapien profitieren würde. Unser Zielpublikum sind größtenteils junge, noch in Ausbildung befindliche Ärzte, die engagiert sind und sich für Diabetes interessieren.

Luger: Die „Klausurtage Insulin“ sind quasi der Basiskurs im Bereich der ­Insulintherapie. Heuer gibt es drei solche Veranstaltungen in verschiedenen Bundes­ländern. Die Gruppengröße von 25–30 hat sich bewährt und dabei ­werden wir bleiben. Insgesamt haben schon mehr als 100 Ärzte diese Fortbildung absolviert.

Wascher: Die Gruppe der Vortragenden besteht aus den zwei Gründungsmitgliedern, Prof. Luger und mir, sowie Prof. Kaser als zusätzliche Lehrkraft und einer Diabetesberaterin. An diesem Kernteam soll sich vorerst nichts ändern. Das hat auch den Vorteil, dass wir ­unsere Erfahrungen von einer Akademie zur nächsten mitnehmen können.

Und wie sind Ihre bisherigen ­Erfahrungen mit den Klausurtagen?

Luger: Das Format wird wirklich sehr gut angenommen. Die Teilnehmer schätzen, dass es nur wenige Frontalvorträge, dafür aber viel Raum für Diskussion gibt. Nach einer kurzen theoretischen Basis stehen praktische Dinge (z. B. Blutzuckermessung, Insulinapplikation), Diskussion und Meinungsaustausch im Fokus. Anfangs gibt es manchmal eine gewisse Zurückhaltung der Teilnehmer, spätestens am zweiten Tag ist jedoch die Diskussion mit den Vortragenden, aber auch untereinander unglaublich lebhaft. Das ist auch für uns Vortragende eine Bereicherung und ein großes Vergnügen.

Wascher: Das Feedback, das wir durch die Evaluationsbögen, aber auch direkt von den Teilnehmern oder den jeweiligen Abteilungsvorständen bekommen, ist sehr positiv und die Veranstaltung wird auch oft weiterempfohlen. Es darf nicht vergessen werden: Die Teilnehmer opfern ein ganzes Wochenende, tragen mit einem Selbstbehalt bei und fahren bis zu viereinhalb Stunden, wenn sie beispielsweise aus Kärnten kommen. Das allein zeigt schon den extrem hohen Motivationsgrad.

Wie soll das Projekt weitergehen?

Wascher: Wir haben bereits Themen­wünsche für aufbauende Fortbildungen erhoben. Bedarf und Interesse sind da, aber natürlich ist es eine Frage der Ressourcen. Ich möchte noch einmal betonen, es geht nicht nur um den Einstieg in das Thema Insulin. Es geht natürlich stark in Richtung Typ-2-­Diabetes, aber es gibt auch den Wunsch, die Themen Typ-1-Diabetes, Diabetes bei Kindern, Spezialfälle oder Komplikationsmanagement zu behandeln. Wir werden ­schauen, ob wir das Angebot entsprechend ­erweitern können.

Was ist Ihre persönliche Motivation, sich im Bereich der ärztlichen Fortbildung zu engagieren?

Luger: Aus- und Fortbildung sind mir sehr wichtig. Ich habe bei uns an der Universität sowohl im operativen als auch im strategischen Bereich der ­Studentenausbildung gearbeitet. Als stellvertretender Curriculum-Direktor war ich viele Jahre für die Ausbildung im klinischen Bereich verantwortlich und organisiere auch die Lehre im ­Bereich der Inneren Medizin. Die Ausbildung von jungen Kolleginnen und Kollegen halte ich ebenso wie die Weiter­bildung für essenziell und bin nicht zuletzt deshalb Präsident der EU-weiten Sektion für Endokrinologie, die auch den Bereich Diabetes beinhaltet. ­Zentrale Themen sind hier die kontinuierliche Weiterbildung und professionelle Entwicklung, die Etablierung einer europa­weiten Facharztprüfung und von E-Learning mit dem Ziel, die Qualität der medizinischen Versorgung weiter zu ­verbessern. Und nicht zuletzt engagiere ich mich in eigenem Interesse, weil ich immer älter werde und von gut ausgebildeten Ärzten behandelt werden ­möchte.
Was die DIABETES AKADEMIE betrifft, so lerne ich selbst bei jeder dieser ­Veranstaltungen sehr viel dazu. Man ­bekommt einen ganz guten Überblick darüber, was sich in unserem Land im Bereich der medizinischen Versorgung abspielt.

Wascher: So richtig involviert in das Thema Fortbildung wurde ich während meiner ÖDG-Präsidentschaft, da haben wir auch das Projekt DIABETES AKADEMIE gestartet. Mir hat es einfach Spaß gemacht, etwas zu entwickeln, das kein Alltags-Weiterbildungsformat ist. Und jetzt freut es mich, zu sehen, wie gut es funktioniert und angenommen wird.

Kaser: Wir alle profitieren von Weiter- und Fortbildung, deswegen sehe ich es als eine Art Verpflichtung für jeden, der auf seinem Gebiet ein bisschen etwas weiß, das auch weiterzugeben. ­Warum ich speziell bei diesem Format ­mitmache? Weil ich mich freue, bei diesem Team dabei sein zu dürfen! Die Wochenenden sind zwar anstrengend, machen aber durchaus Spaß. Ein ganz wichtiger Faktor ist, dass es schwierig ist, in das Insulin-Thema reinzukommen. Es ist nicht wie ein einfaches Kochrezept, man braucht eine gewisse Übung und dieses Format ermöglicht einen guten Einstieg.

Wie bilden Sie sich persönlich am ­liebsten fort?

Wascher: Nach wie vor Face-to-Face und in Echtzeit. Es sind nicht Internet, Papier oder irgendwelche Webcasts von Kongressen. Ich schätze die persönliche Interaktion und die Möglichkeit, unmittel­bar Fragen zu stellen und zu diskutieren.

Kaser: Ich gehöre auch zu den Altmodischen. Mir ist die Präsenzfortbildung, z. B. ein Kongressvortrag, eigentlich am liebsten. Da nehme ich mehr mit als beim Literaturstudium oder E-Learning. Wenngleich Letzteres natürlich sehr zeit- und geldsparende Methoden der Fortbildung sind und deshalb sicher auch sehr sinnvoll und nicht mehr wegzudenken.

Luger: Am besten merke ich mir, was ich höre und persönlich diskutieren kann. Lesen spielt aber auch eine große Rolle und die Bedeutung von E-Learning wird in Zukunft weiter zunehmen. Das sage ich nicht, weil ich es als die idealste Methode ansehe, sondern weil ich ­glaube, dass Kongresse langfristig nicht in diesem Ausmaß und in dieser Form weiter bestehen werden.

 

 

ap0816