„Wir werden Fehlentwicklungen konsequent aufzeigen“

Ärzte Krone: Welche Herausforderungen sehen Sie auf das Gesundheitswesen allgemein und die Ärzte im Besonderen zukommen?

Johannes Steinhart: Mehr Herausforderungen als je zuvor, weil derzeit einige negative Entwicklungen in unserem Gesundheitssystem zusammentreffen. Um nur einige zu nennen: Moderne Medizin kostet wegen des technischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung natürlich immer mehr Geld, doch die Politik verschreibt sich einer „Kostendämpfung“, und die Kassen jubeln jedes Mal, wenn sie mehr eingespart haben als geplant. Die Menschen zahlen Versicherungsbeiträge und haben ein Anrecht auf diese Leistungen, doch gleichzeitig wird gedeckelt, was das Zeug hält. Das spüren Ärzte und Patienten. Weitere Stichwörter sind die Ärzteknappheit, die Abwanderung junger Ärzte, die mangelnde Attraktivität vieler Kassenverträge, unsere Belastung durch Bürokratie, die Bedrohung der ärztlichen Freiberuflichkeit und nicht zuletzt die mangelnde Wertschätzung, die manche Vertreter der Politik und der Kassen uns Ärztinnen und Ärzten entgegenbringen. Es besteht also kein Risiko, dass Standespolitikern die Themen ausgehen.

Wie sollten die Ärzte diesen Entwicklungen begegnen?

Indem wir solche Fehlentwicklungen konsequent aufzeigen, über die negativen Auswirkungen problematischer gesundheitspolitischer Entscheidungen aufklären, konstruktive Gegenvorschläge machen und der Politik unsere Kooperation anbieten. Informieren im großen Maßstab werden wir zum Beispiel am 15. März um 18 Uhr bei unserem „Krisengipfel der Ärzte“ im Wiener MuseumsQuartier, bei dem es um die katastrophalen Auswirkungen des vorliegenden Entwurfs zum „Primärversorgungseinheitsgesetz“ gehen wird, sollte dieser tatsächlich Gesetz werden. Manchmal gehört aber auch auf einen groben Klotz ein grober Keil. Wenn die Politik das unbedingt will, kann sie auch das von uns haben.

In der breiten Öffentlichkeit wurden die Ärzte zuletzt oft als Bremser gesehen – warum ist es so schwer, inhaltliche Sorgen verständlich zu machen?

Das mit dem Bremser sehe ich nicht als Einschätzung durch die Öffentlichkeit, sondern das gehört zum Stehsatz jener, die uns unsägliche „Reformen“ zumuten wollen und unserer berechtigten Kritik daran den Wind aus den Segeln nehmen möchten. Wenn man der Kritik nichts entgegenzuhalten weiß, versucht man eben den Kritiker zu diskreditieren. Ohne unseren argumentierten Widerstand hätten wir zum Beispiel längst eine unbrauchbare ELGA und E-Medikation, Versorgungszentren mit weitgehend entrechteten Ärzten auf Kosten einer wohnortnahen Versorgung, keinen Gesamtvertrag, keine Rückerstattung für Wahlarzt-Leistungen, ein Nebenverdienstverbot für Spitalsärzte als Wahlärzte etc. Im richtigen Moment zu bremsen ist nicht nur im Straßenverkehr und beim Sport, sondern auch in der Politik etwas Grundvernünftiges. Das mediale Echo auf unsere Informationsarbeit ist jedenfalls sehr gut.

Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt (Stichwort: Automatisierung) und im Gesundheitswesen (Stichwort: Digitalisierung und künstliche Intelligenz) werden die Finanzierung der Sozialsysteme und das Gesundheitswesen nach Ansicht von Experten grundlegend verändern. Was wird das für die medizinische Versorgung bedeuten? Weniger medizinisches Personal? Zwei-Klassen-Medizin?

Auch ohne die von Ihnen genannten technischen Fortschritte gehen Europa die Gesundheitsdienstleister aus. Studien zeigen, dass bis zum Jahr 2020 eine Million Ärzte, Pflegepersonen und Angehörige anderer Gesundheitsberufe fehlen werden. Wer also darauf setzt, ärztliche Tätigkeiten zunehmend durch Nichtärzte durchführen zu lassen, verschlechtert nicht nur die Versorgungsqualität, sondern will eine Knappheit durch eine andere Knappheit ersetzen, was unrealistisch wäre. Hier ist die Politik gefordert, für Nachwuchs zu sorgen. E-Health ist nicht aufzuhalten und kann großen Nutzen bringen, wenn moderne technische Methoden Ärztinnen und Ärzte unterstützen, nicht jedoch verdrängen oder ersetzen. Eine „Medizin ohne Ärzte“ kann nicht funktionieren, weder mit noch ohne E-Health.

Wie kann man beispielsweise Landarztpraxen für Ärzte wieder attraktiver machen?

Indem man die Rahmenbedingungen der landärztlichen Tätigkeit attraktiv gestaltet. Wir brauchen familienfreundliche Arbeitsbedingungen für Landärzte, die Abgeltung der längeren Arbeitszeit durch ein leistungsgerechtes Honorarsystem, die Aufhebung der Limitierungen und Degressionen und das Recht auf das Führen einer Hausapotheke. In Deutschland und in der Schweiz hat man längst erkannt, dass man aktiv um Landärzte werben muss, und bietet dabei oft sehr attraktive Konditionen an.

Woran scheitert ein Ausbau der Lehrpraxen? Kritiker aus den Reihen der Ärzte sagen, dass Lehrpraxen-Leiter selbst zu wenig ausgebildet sind, um das Wissen weiterzugeben. Wie kann man gegensteuern?

Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Niedergelassene Ärzte sind sehr gut aus-, fort- und weitergebildet und haben immense praktische Erfahrung. Das Problem ist jedoch, dass es bis heute keinerlei öffentliche Finanzierung der Lehrpraxis gibt. Niedergelassene Ärzte können diese finanzielle Last nicht tragen, hier sind die Politik und die Kassen gefordert, Verantwortung zu übernehmen.

In öffentlichen Diskussionen hört man oft, dass bundesweite Honorierungsverträge mit Ärzten transparenter und besser wären als unterschiedliche Honorare auf Länderebene. Könnten Sie sich eine Vereinheitlichung vorstellen?

Ich kann mir vieles vorstellen, das zu einer Effizienzsteigerung, Verschlankung und Entbürokratisierung unseres recht wildwüchsig entstandenen Kassensystems beitragen kann. Allerdings muss dieses System auch seinen Zweck erfüllen, was auch eine gewisse Föderalisierung erforderlich macht. Regional unterschiedliche Zugänge haben schon ihre Berechtigung: Wien mit seinem Großstadtfaktor wird zum Beispiel eine andere Drogenproblematik zu bewältigen haben als ein Skigebiet, aber vielleicht Tarife für Skiunfälle nicht im gleichen Umfang benötigen. Ein gewisser fairer Ausgleich ist akzeptabel, eine generelle Orientierung an Bundesländern mit dem jeweils niedrigsten Tarif käme für uns nicht in Frage.

Woher kommt Ihrer Meinung nach der Druck der Krankenkassen auf die Ärzte, und wie würden Sie gegensteuern?

Unter anderem ist er Folge der Unterfinanzierung der Kassen. Dass es allerhöchste Zeit ist, alle GKK mit ausreichend Geld auszustatten, zeigt das Beispiel Wien. In Wien sind immer weniger Ärzte mit WGKK-Vertrag für immer mehr WGKK-Patienten zuständig. Derzeit warten rund 100 Gruppenpraxen auf eine WGKK-Zulassung. Die Politik belastet jedoch die WGKK zusätzlich, indem sie ihr „versicherungsfremde Leistungen“ wie den Mutterschutz aufbürdet, die teuer sind und der Gesundheit nichts bringen; Leistungen für Pensionisten sind nicht kostendeckend. Versicherte haben einen Anspruch auf bedarfsgerechte Versorgung, und die Kassen müssen diese auch bezahlen können, damit sie ihre Leistungen nicht konsequent zurückfahren. Deshalb: Weg mit den Deckelungen, weg mit den Belastungen der Kassen durch versicherungsfremde Leistungen, und für Wien mindestens 300 zusätzliche Kassenarzt-Praxen, für Österreich 1.400. Das wird die öffentliche Hand etwas Geld kosten, aber die Gesundheit der Bürger muss das wert sein. Mitunter herrscht aber bei manchen Kassen uns Ärzten gegenüber beinahe Feindseligkeit, ein Ausdruck davon ist das skandalöse „Mystery Shopping“.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Ergebnis derFinanzausgleichsverhandlungen?

Eine Breitseite sowohl gegen die Versorgungsbedürfnisse der Patienten als auch gegen die ärztliche Freiberuflichkeit und das Berufsverständnis von Ärzten. Die gesetzlich festgeschriebenen Ausgabendeckelungen entsprechen nicht der Entwicklung des realen Versorgungsbedarfs der Bevölkerung. Der auf den Artikel-15a-Vereinbarungen basierende Entwurf zu einem Primärversorgungseinheits- beziehungsweise PVE-Gesetz übertrifft unsere schlimmsten Befürchtungen. Das Papier ist ohne substanzielle Einbindung von Ärztevertretern entstanden, viele essenzielle Fragen bleiben unbeantwortet. Etwa: Welchen Einfluss sollen Ärzte in PVE haben? Welche Beteiligungsmöglichkeiten sind geplant? Wie sind die Zuständigkeiten bei Vertragsverhandlungen? Der Gesetzesentwurf sieht eine völlig unrealistische Reduktion der Einzelordinationen vor. Es besteht die Gefahr, dass ein auf diesem Entwurf beruhendes Gesetz den Gesamtvertrag durchlöchert und der Übernahme von PVE durch staatliche Institutionen, Kassen oder privaten Investoren Tür und Tor öffnet. Die sind dem Einsparen beziehungsweise der Gewinnmaximierung verschrieben, was weder Ärzten noch Patienten Vorteile brächte.

Wie soll die medizinische Versorgung – extra- und intramural –künftig aussehen?

Sinnvoll wäre eine abgestimmte, aus einer Hand finanzierte Versorgung. Die Finanziers in unserem Gesundheitssystem sollen sich die Kosten für Leistungen nicht weiter gegenseitig zuschieben. Die Landesplattformen, die sich hier um einen Ausgleich kümmern sollten, müssen als gescheitert betrachtet werden. Eine Grundlage für eine bessere Versorgung muss ein Ausbau der niedergelassenen kassenärztlichen Leistungen sein. Aber nicht durch oktroyierte Zentren, sondern durch eine abgestimmte Versorgung mit Einzel- und Gruppenpraxen sowie mit erweiterten Gruppenpraxen, je nach den regionalen Erfordernissen und mit entsprechender Vernetzung zwischen den Leistungsanbietern.