Chirurgie abseits vom Mainstream – Wo Menschlichkeit gefragt ist

Immer noch kommt es in der Zentralafrikanischen Republik zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen. Darunter leidet die Bevölkerung und insbesondere die medizinische Versorgung stellt eine tägliche Herausforderung dar. Unterstützung erfahren Kliniken dabei von der Organisation Ärzte ohne Grenzen und obwohl Chirurgen bei ihren humanitären Einsätzen ohne elektronische Geräte, Ultraschall oder Röntgen auskommen müssen, funktioniert es. Das überrascht auch Martin Möschel immer wieder. Er ist Chirurg am Landeskrankenhaus Feldkirch und seit über zehn Jahren bei Ärzte ohne Grenzen, zuletzt im November 2011 in der Zentralafrikanischen Republik: „Natürlich ist das technische Niveau wesentlich niedriger. Man kann sagen, wir arbeiten bei solchen Einsätzen so wie hierzulande vor 60, 70 Jahren. Trotzdem sind die Ergebnisse im Großen und Ganzen dieselben.“ Freilich müssen gewisse Standards erfüllt sein, wie etwa OP-Tische, OP-Lampen und geschlossene Räume – auch wenn diese zum Teil verschimmelt sind.

Chirurgie-Kit

Bei Ärzte ohne Grenzen stehen den Medizinern 150 fertige Einsatzkits zur Verfügung, die von der Logistik-Zentrale in Bordeaux in die jeweilige Krisenregion versendet werden. Im Chirurgie- Kit findet sich von Operationshandschuhen zur Einmalverwendung über Sterilisationstechnik und Nahtmaterialien bis hin zur Grundausstattung an chirurgischen Instrumenten (fast) alles, was benötigt wird. „Heute können wir im allgemeinchirurgischen Bereich so gut wie alle Eingriffe vornehmen, also beispielsweise Bauch-, Brust- oder Weichteilverletzungen behandeln“, sagt Möschel. Knochenbrüche hingegen werden aufgrund der mangelhaften Hygiene nur selten operiert.
Die Kits sind grundsätzlich standardisiert, müssen aber mitunter je nach Einsatzort adaptiert werden. Das hänge unter anderem damit zusammen, ob die Einfuhr bestimmter Materialien verboten sei, was vor allem bei Kriegseinsätzen öfters vorkomme. Möschel: „Zum Beispiel durften wir in Sri Lanka kein Nahtmaterial einführen. Sie können dann zwar fragen, warum. Eine Antwort werden Sie wohl nicht bekommen. Das ist nun mal so und damit müssen wir einfach klarkommen.“ Überhaupt brauchen Ärzte bei humanitären Einsätzen Improvisationstalent, schließlich kann immer etwas fehlen. Allein: Chirurgische Geräte, Produkte oder Materialen vor Ort zu besorgen, sei kompliziert und gehe sich überdies zeitlich meist gar nicht aus: „Was fehlt, fehlt. Wir sind es aber gewohnt zu improvisieren.“
Improvisieren muss auch der Berliner Chirurg Ralph Lorenz, der sich als Mitglied der europäischen Chirurgenvereinigung Operation Hernia unter anderem im Juli 2011 zusammen mit zwei OP-Teams über eine Woche in Ghana engagierte. Im Gegensatz zu Ärzte ohne Grenzen konnten die Chirurgen unter der Leitung von Lorenz nicht auf fertige Einsatzkits zurückgreifen. Vielmehr gehe jedem Einsatz ein Ruf an die Industrie, an Spitäler sowie an private Spender voraus, erklärt Lorenz: „Neben der finanziellen Unterstützung, die über die deutsche Organisation Chirurgen für Afrika eingehen kann, versuchen wir, über Firmen- oder Krankenhausspenden Medizinprodukte zu bekommen. Das sind größtenteils Materialien, die nicht unbedingt auf dem neuesten Stand sind und daher hierzulande nicht mehr verwendet werden. Einsatzfähig sind sie doch allemal.“
Das Equipment in den Spitälern von Takoradi und Dixcove, Ghana, ist nicht top-modern. Für die Leistenbruchchirurgie werden sehr viele Netze als Ersatzgewebe zur Verstärkung der Bauchdecke benötigt. Was in unseren Spitälern zum chirurgischen Alltag gehört, ist in Ghana alles andere als normal. Dennoch konnten Lorenz und seine Kollegen dank großzügiger Firmenspenden beinahe alle Patienten mit Originalnetzen versorgen. „Obwohl die OP-Befunde mit europäischen Maßstäben nicht zu vergleichen waren, kamen alle derzeit möglichen offenen OP-Techniken wie SHOULDICE, LICHTENSTEIN, Plug and Patch und TIPP zum Einsatz“, erinnert sich Lorenz.

Unverhofft kommt oft

Neben den Netzen nahmen die Chirurgen Instrumente, Nahtmaterialien, Diathermiekabel und Verbrauchs- sowie Dauermaterial mit nach Ghana. Große Geräte wie Notstromaggregate, OP-Lampen und Diathermiegeräte – oder, um es in den Worten von Lorenz zu sagen, „alles, was man irgendwie bewegen kann“ – waren bei diesem Einsatz nicht dabei. Trotzdem reisten die Teams schließlich mit gut 250 kg Übergepäck. Würden die Instrumentarien vorab hinuntergeschickt, kämen sie wohl nie an. Dafür sei die Korruption in diesen Ländern einfach viel zu groß. Das bedeutet allerdings, dass sich die Chirurgen nicht nur um die Beschaffung der Materialien kümmern müssen, sondern auch um Transport und Logistik. Freilich werden sie dabei von Operation Hernia unterstützt, denn erst durch deren Organisationsstruktur erfahren die Einsatzteams, mit welcher Regionalstruktur vor Ort gerechnet werden muss und welche Bedürfnisse die Menschen haben. Die Patienten sind dann schon vor dem Einsatz informiert und stehen Schlange, wenn Lorenz und seine Teams kommen. Zudem wird abgeklärt, woran es in den Krankenhäusern mangelt, denn nachhaltige Hilfe bestehe außerdem darin, Material vor Ort zu lassen.

Trotz penibler Vorbereitung kam es auch in Ghana zu einem unvorhersehbaren Ereignis: Am ersten Tag des Einsatzes wurde ein sechsjähriger Junge mit ausgedehnten Verbrennungen dritten Grades ins Spital eingeliefert. Während die Chirurgen sechs Tage lang von morgens bis abends 77 Operationen an 67 Patienten durchführten, fi eberten sie um das Leben des Buben: „Er wurde von unseren Team konsiliarisch mitbetreut und mit Wundaufl agen sowie Medikamenten, die wir glücklicherweise mitgebracht hatten, versorgt. Am Ende unseres Einsatzes war der Junge ‚über den Berg’.“
Auch in den kommenden Jahren werden sich die beiden Chirurgen auf humanitäre Einsätze begeben. Der eine wird aus dem Vollen eines fertigen Chirurgie-Kits schöpfen, der andere die Materialen selbst zusammenstellen und verschiffen. In jedem Fall aber werden Möschel, Lorenz und all ihre Kollegen den Menschen mit ihrem chirurgischen Fingerspitzengefühl helfen – und das zählt.

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