Gastkommentar: Big Data – Big Health?

Die Gesundheitsgespräche im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach sind kürzlich zu Ende gegangen und der Konsens unter den rund 500 anwesenden Stakeholdern, die in vielen Foren, Workshops, Diskussionen und World Cafés über alte und neue Mythen im Gesundheitswesen diskutierten, war deutlich: Transparenz und Aufklärung sind wichtige Eckpfeiler, auch wenn das manchmal gegen die eigenen Interessen spricht. Es wird uns über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben, nicht nur die Frage zu stellen, ob wir „das Richtige“ machen, sondern auch, ob es Felder gibt, in denen wir zu wenig oder – vielleicht noch unangenehmer – zu viel machen. Transparenz heißt demnach auch, ein großes Stück weit ehrlich zu sein – zu sich selbst und zu allen Partnern im Gesundheits­wesen.

Es waren nicht die großen Entscheidungen, die in Alpbach nach drei intensiven Tagen auf dem Tisch lagen, vielmehr waren es viele einzelne Ideen. Jede Idee, die geboren wird, hat damit die Chance, sich durchzusetzen und in das Rampenlicht der Öffentlichkeit zu kommen. Manche schaffen es, manche nicht. Gelingt es einer Idee zu keimen, kann sie sich weiter entwickeln, in Maßnahmen, Projekte und Programme. Denken wir beispielsweise an die Primärversorgung. Vor fünf Jahren wurde darüber kaum nachgedacht und heute liegt ein Zukunftsthema auf dem Tisch, das nicht nur die Gesundheitspolitiker beschäftigt.

Ein zweites Thema, das sich durch den Expertendialog im August zog, war „choosing wisely“ – also die Frage, wie ausgehend von den zur Verfügung stehenden Informationen auf Grundlage (weitestgehend) gesicherter Evidenz informierte Entscheidungen vorgenommen werden können, auch mitunter gegen eine bestimmte Intervention. Und schließlich daran anknüpfend die Frage, wie die enorme Menge an Daten – im Fachjargon nahezu liebevoll als „Big Data“ bezeichnet – darüber hinaus auch für eine Gestaltung des Gesundheitssystems genutzt werden kann.

Generell ergeben sich zunächst einmal in Bereichen, in denen eine Vielfalt von isolierten Daten (und damit auch isolierter Evidenz) vorliegt, Interpretationspielräume, die dazu führen, dass sich Mythen und Wahrheiten etablieren, die irgendwann nicht mehr voneinander getrennt werden. Ein solcher Mythos ist zum Beispiel die Annahme, dass jeder von uns, sofern ihm ausreichend Information und Evidenz vorliegt, rational und unter Bewertung aller Alternativen entscheidet. Das ist der Anspruch der Systemsteuerung und selbst hier bedarf es eines kontinuierlichen und offenen Dialogs zwischen Wissenschaft und Praxis, um diesem Anspruch zumindest dem Grunde nach gerecht zu werden. Wenn wir aber die Frage auf die Ebene des Individuums stellen, zum Beispiel des Patienten oder auch des Arztes, dann halte ich es für einen Mythos, dass er immer sämtliche Informationen sammelt, analysiert, auswertet und seiner Entscheidung – etwa der Wahl eines Krankenhauses oder einer passenden Therapie – zugrunde legt. Wir unterstellen das gerne – dem Arzt, dem Patienten, dem Krankenhausleiter, dem Politiker.

Das soll aber nicht heißen, dass wir jetzt Abstand nehmen sollten davon, die vorliegenden Informationen allen Akteuren im Gesundheitssystem transparent zur Verfügung zu stellen. Denn selbst wenn wir aus der Empirie wissen, dass Information und Transparenz über die Qualität von Leistungserbringern im Gesundheitswesen kaum einen Einfluss auf die Entscheidung von Patienten bei der Wahl des Krankenhauses oder des Arztes hat, so wissen wir doch auch, dass nur dann die Qualität von Krankenhäusern und Ärzten steigt, wenn wir diese Informationen publizieren. Die Öffentlichkeit – ganz im Sinne des Mottos des heurigen Europäischen Forums Alpbach – ist hier der maßgebliche Mechanismus zur Qualitätsverbesserung. Mit „Big Data“ haben wir es nunmehr in der Hand, gemeinsam zu lernen: Wir können Zusammenhänge besser analysieren und verstehen, die Versorgungskette nachverfolgen und Defizite erkennen oder früher Interventionen setzen.

Bis zu den Gesundheitsgesprächen in Alpbach 2017 wünsche ich mir jedenfalls ein Plus an Transparenz, aber auch ein Plus an Vertrauen unter den Stakeholdern, Daten offenzulegen. Wir brauchen Strukturen, die festlegen, wie Daten gesammelt, wie sie analysiert werden und wie sie die Leistungserbringer am besten unterstützen können, um sie unmittelbar in den Behandlungsprozess einfließen zu lassen.