Alpbacher Gesundheitsgespräche I – Wie viel Gerechtigkeit verträgt das System?

Die steigende Lebenserwartung, zunehmende Qualitätsansprüche an die Verfügbarkeit von medizinischen Leistungen und ein fairer Zugang für alle Versicherten erfordern Lösungen, die weit über das Gesundheitswesen hinausgehen. Die Forderung nach “health in all policies” war eine sehr deutliche Message, die bei den Vorträgen, Diskussionen und Workshops im Rahmen der diesjährigen Gesundheitsgespräche im Vordergrund stand. “Wir müssen jetzt die anstehenden Probleme in Angriff nehmen und können nicht auf nachkommende Generationen warten, denn es werden immer weniger Verantwortungsträger geboren”, betont Univ.-Prof. Dr. Ursula Schmidt-Erfurth, Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpach und Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Meduni Wien, in ihrer Eröffnungsrede. “Innovationen bieten dafür ein erhebliches Potenzial”, ist sich die Medizinerin sicher und weiß: “Moderne Technik bietet heute bereits ungeahnte Einsichten in den menschlichen Körper, die es erlauben, Krankheiten besser zu verstehen, früher zu diagnostizieren und optimal zu therapieren.” Hat die Entschlüsselung eines genetischen Codes vor zehn Jahren noch etwa eine Million Dollar Forschungsgelder verschlungen, so sind es heute lediglich 100 Dollar.
“Das hilft uns, weg von Blockbustern hin zur individualisierten Medizin zu gehen und damit neue Horizonte zu eröffnen”, meint Schmidt-Erfurth. Nicht nur in der Therapie sind technologische Entwicklungen der Turbo für den Erfolg, auch in der Diagnose bringt die Computerisierung des Wissens viele Vorteile: Mehr aussagekräftige Daten stehen zur Verfügung und können auch sinnvoll verwaltet werden und – auch wenn der Pflegeroboter keine wünschenswerte Perspektive ist – es können viele Aufgaben von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien übernommen werde. “Skype your doctor” ist keine Vision, sondern Realität und wird künftig ganz selbstverständlich dazu beitragen Versorgungsengpässe zu reduzieren…

Wo bleibt die Solidarität?

Erik Schokkaert, Forschungsdirektor von CORE (Center for Operations Research and Econometrics, Université catholique de Louvain, Louvain-la-Neuve) hat diese Veränderungen in seiner Keynote aufgegriffen und präsentierte eine Reihe theoretischer Einsichten rund um das Thema “Solidarität” und die gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen. Sehr rasch wurde deutlich, dass mit beschränkten Ressourcen nicht alle sozial- und gesundheitspolitischen Ziele gleichermaßen erreicht werden können. “Wir brauchen klare Ziele und müssen dann abwägen, wo Prioritäten zu setzen sind. Welchen Weg das Gesundheitswesen dann konkret einschlagen soll, muss von staatlicher Seite aus vorgeben werden, denn kein Bürger hat das Wissen, diesen komplexen Markt zu beurteilen”, ist Schokkaert überzeugt. Als Ökonom ist er sicher, dass Konsumenten grundsätzlich bereit sind für Leistungen zu bezahlen. Jede Form von kollektiven Solidarsystemen wird aber in Zukunft auf immer mehr Ablehnung stoßen: “Sie sind intransparent, parallel dazu werden Konsumenten egoistischer.” Die Frage nach der Solidarität kann kaum in einer Volkswirtschaft erschöpfend beantwortet werden und erst recht nicht, wenn wir an globale Gerechtigkeit denken.

Gesunde Kinder sind keine Selbstverständlichkeit

Eine besondere Herausforderung für die Gesellschaft ist es, aus gesunden Kindern auch gesunde Erwachsene zu machen. Einblick, wie dramatisch die Entwicklung in Österreich ist, gibt Dr. Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit: “In den letzten Jahren haben sich die Risiken fundamental verändert. Die Bedrohungen heißen nicht mehr Infektions- und Mangelerkrankungen, sondern Süchte, chronische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und psychosoziale Indikations- und Regulationsstörungen.” Für Kinder- und Jugendliche, die 19% der österreichischen Bevölkerung ausmachen, beträgt der Anteil an den Gesundheitsausgaben lediglich 7%. Sozial benachteiligte Gruppen in Ballungszentren und ländlichen Einschichtgebieten werden von medizinischen Angeboten teilweise gar nicht erreicht. Die Auswirkungen macht Vavrik an Beispielen fest: “In manchen Gesellschaftsschichten verlieren wir innerhalb einer Generation das Wissen über das Kulturgut Kochen. Jugendliche hatten vor 50 Jahren einen Mobilitätsradius von 25 km, heute sind es lediglich 2,5 km und die werden selten zu Fuß bewältig. Knapp 16% der 15-jährigen Burschen verbringen mehr als 4,5 Stunden täglich vor dem Computer und wir wissen, dass sich bei Kinder- und Jugendlichen, die mehr als zwei Stunden täglich fernsehen, die aktive Aggressionsrate von 6 auf 28% erhöht.” Österreich rangiert in der OECD-Statistik unter den Schlusslichtern, was die Kindergesundheit betrifft: 27% der 15-Jährigen rauchen regelmäßig und 30 % waren zumindest schon zweimal betrunken, 20% leiden an Essstörungen oder Übergewicht und 17,5% haben eine vom Arzt diagnostizierte chronische Erkrankung.
Was dringend fehlt, sind nicht die Angebote, sondern das Bewusstsein für die Probleme, denn UNICEF- und OECD-Befunde reihen uns in puncto Kinder- und Jugendgesundheit auf Rang 20 unter 21 Ländern. Befragt man die Bevölkerung, sehen wir uns aber selbst auf Platz 4! Fazit des Mediziners: “Wir sind biologisch auf den Umgang mit Stress oder Hunger bestens vorbereitet, aber es gibt keinen ‚Schlaraffenland-Modus‘ der uns lehrt, mit dem Überangebot maßvoll umzugehen.” Schaffen wir nicht, diese Probleme in den Griff zu bekommen, so müssen wir nach einer Studie des Gesundheitsökonomen Univ.-Prof. Dr. Leo Chini von der WU Wien bis zum Jahr 2030 mit Mehrkosten von 1,6 Milliarden Euro rechnen, die bis zum Jahr 2050 auf 3,7 Milliarden Euro steigen werden.

Chronische Erkrankungen

“Im Rahmen der Akutversorgung ist die Medizin in der Lage Unglaubliches zu leisten, doch ist das unser Problem?”, stellt Dr. Fred Harms, Vizepräsident der European Health Care Foundation, die Frage, denn: “Chronische Erkrankungen sind für rund 90% der Todesfälle verantwortlich, das ist die wirkliche Herausforderung!” 70.000 Alzheimerpatienten, 1 Million Österreicher, die an COPD (chronisch obstruktiver Lungenerkrankung) leiden und rund 600.000 Diabetiker allein in Österreich sprechen für sich. Lediglich fünf Erkrankungen sind es, die für 88% der Ausgaben des Gesundheitswesens verantwortlich sind: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, COPD, Krebs und neurologische Erkrankungen, allen voran die Depression. In allen Bereichen wird in den kommenden Jahren mit einer dramatischen Zunahme der Betroffenen gerechnet. “Wir werden im Jahr 2035 nur für die Versorgung von Diabetes- und Adipositaskranken ebenso viel ausgeben müssen wie derzeit für das gesamte Gesundheitswesen.”
Bei all den chronischen Erkrankungen spielt der Patient eine weitaus größere Rolle als der Arzt: “Es geht um Selbstmanagement. 90% des Therapieerfolges liegen allein in der Hand der Patienten.” Würden die Hauptrisikofaktoren wie ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel eliminiert, so hätten wir umgehend 80% weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 80 % weniger Schlaganfälle und 80% weniger Diabetiker zu verzeichnen. Dass dahin aber noch ein weiter Weg führt, zeigen weitere Untersuchungen: “Sechs von zehn Befragten verstehen das Wort ‚Symptom‘ nicht, woher soll dann das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Prävention oder Compliance kommen?”, überlegt Harms. Eine andere Befragung hat gezeigt, dass Krankenhauspatienten aus der Onkologie und Kardiologie zum Großteil völlig uninformiert sind, welche Behandlungen sie erhalten. Diabetiker verbringen nach eigenen Angaben lediglich fünf Stunden pro Jahr mit ihrem behandelnden Arzt. Harms fordert daher die Stärkung des niedergelassenen Arztes als wichtigen Multiplikator, unterstützt durch Apotheken und Krankenkassen. “In Deutschland haben wir bereits 2.000 angehende Selbstmanagement-Coaches in Ausbildung, die Hilfe zur Selbsthilfe vermitteln sollen. In einem Wissenstest zu ihrer eigenen Krankheit schneiden Patienten nach dem Coaching um 80 % besser ab als ohne”, gibt Harms Einblick.

Langzeitpflege in der alternden Gesellschaft

Mag. Alexander Bodemann, Geschäftsführer der Caritas der Erzdiözese Wien, bringt die Herausforderung der künftigen Pflegeversorgung auf den Punkt: “Die demografische Entwicklung, die sozialen Veränderungen in der Familie, epidemiologische Veränderungen, geringe Attraktivität des Pflegebedarfs und die Veränderung der Erwartungen an die eigene Pflege.” Eine politische Priorisierung ist angesichts der Dringlichkeit des Problems und der zu erwartenden Finanzierungsengpässe wünschenswert. Bodemann wünscht sich vor allem die Unterstützung der Angehörigen, Verbesserungen in der Ausbildung des Pflegepersonals sowie die Schaffung eines österreichweiten einheitlichen Pflegefonds.
Prof. Helmut Brand, Leiter des Instituts für Internationale Gesundheit, Maastricht University, bot in seinem Themenaufriss eine mögliche Lösung für die lange Liste der Herausforderungen: “Menschen entdecken die Gesundheit zunehmend als ein wichtiges Lebensziel. Die Gesundheitsmündigkeit und -kompetenz des Einzelnen muss gestärkt werden, damit er Information verstehen, bewerten und dann auch die passenden Handlungen setzen kann.” Untersuchungen aus den USA zeigen deutlich, dass die fehlende Gesundheitskompetenz eine zentrale Quelle für ökonomische Ineffizienzen ist. Als konkrete Forderungen an die Politik resultierte daraus der Wunsch nach mehr Transparenz, beispielsweise in Form der Elektronischen Gesundheitsakte. Gesundheitskompetenz muss bereits in Kindergarten und Schule erlernt werden und durch die Gesundheitsberufe laufend ergänzt werden. Gefordert wird schließlich ein unabhängiges, interdisziplinäres Gremium, das über einen Leistungskatalog im Gesundheitswesen entscheidet.

 

Die Top-3 Forderungen zur Kinder- und Jugendgesundheit

  1. Schaffung und gesetzliche Verankerung eines unabhängigen und weisungsfreien, interdisziplinären Sachverständigenrates für Kinder-und Jugendgesundheit
  2. Systematische Datenerhebung, Monitoring und EDV-Verarbeitung
  3. Ganzheitliche präventive Programme wie zum Beispiel “frühe Hilfen”, ausreichende Finanzierung für Gesundheitsförderung und Prävention bei niederschwelligem Zugang