Editorial 4/2012: „Gesundheitsziele“ statt Reformen

Österreich hat im Gesundheitssystem viel erreicht, die (an-)gelernten ÖsterreicherInnen sind in der überwiegenden Mehrzahl auch zufrieden. Vor allem der allgemeine Zugang zu spitzenmedizinischen Leistungen, die freie Arztwahl und die geringen Nutzungsbarrieren werden geschätzt.

Tatsächlich erzielen wir aktuell, bezogen auf die Ausgaben im Gesundheitsbereich, im internationalen Vergleich nur mehr bescheidene Resultate. Die Kosten des österreichischen Gesundheitssystems gehören zu den höchsten in Europa, staatliche und private Ausgaben zusammengezählt betragen sie insgesamt 10,5 % der Wirtschaftsleistung unseres Landes (EU-Schnitt: 8,3  %). Der Gesundheitszustand unserer Bevölkerung reflektiert allerdings keineswegs diese hohen Ausgaben, wie eine aktuelle Analyse des Institutes für höhere Studien (IHS) belegt, die im Auftrag der Plattform Gesundheitswirtschaft Österreich durchgeführt wurde. Die IHS-Studie zeigt, dass Österreich bei der Outcome-orientierten Performance im europäischen Vergleich nur auf Rang 10 liegt.
Ein signifikantes Beispiel: Unsere Aussichten auf gesunde bzw. beschwerdefreie Lebensjahre sind unterdurchschnittlich. Zwar erreichen die Österreicherinnen mit einer Lebenserwartung von 80,4 Jahren ein hohes Lebensalter, allerdings liegen sie in Bezug auf die Gesundheitserwartung mit 58,8 Lebensjahren fast 3 Jahre unter dem EU-Schnitt von 61,5 Lebensjahren (= 20. Stelle der EU-27).
Wir verlieren demnach trotz besonders hohen finanziellen Inputs im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern gesunde und beschwerdefreie Lebensjahre.

Auch andere Zahlen belegen, dass das österreichische Gesundheitssystem keineswegs so gut ist, wie uns vermittelt wird, in Bezug auf die effizienzorientierte Performance liegt es EU-weit überhaupt nur auf Rang 13. Ein Grund dafür ist, dass unser System nach wie vor auf die individuelle Reparaturmedizin fokussiert, wobei es tatsächlich auch beachtliche Leistungen in der akuten Behandlung von Krankheiten aufzuweisen hat; in Bezug auf Prävention fehlen hingegen umfassende Maßnahmen. Nicht zuletzt ein Grund dafür ist, dass der Ausgaben-Anteil für Prävention in Österreich mit 1,5 % der öffentlichen Gesundheitsausgaben um einiges unter dem EU-Schnitt von zumindest 2 % liegt. Folge ist eine hohe Zahl vermeidbarer, vor allem chronischer Erkrankungen in Österreich.

Das soll nun alles anders werden: Das Gesundheitsministerium hat aktuell 10 Rahmengesundheitsziele präsentiert (siehe Abb.). Erarbeitet wurden diese Ziele von einem Fachgremium, in dem neben VertreterInnen von insgesamt 6 Ministerien noch über 20 (!) österreichische Institutionen (Interessengruppen) ihre Anliegen artikulierten. Zusätzlich hatte auch die Bevölkerung die Möglichkeit, Wünsche und Vorschläge in die Debatte einzubringen.
Als Messlatte für den Erfolg des Programms wird eine Erhöhung der Zahl an gesunden Lebensjahren angesehen. Letztlich geht es ja um den Wettlauf, ob die Alterung der Gesellschaft schneller erfolgt oder die Verbesserung des Gesundheitszustandes im Alter.
Nun, allein schon das große Spektrum an Diskussionsteilnehmern mit sehr breit gefächerten Interessen (Gewerkschaft, Hauptverband, Wirtschafts- und Arbeiterkammer, Industriellenvereinigung, Ärzte- und Apothekerkammer etc.) bedingt, dass sich das Ergebnis der Diskussion zwangsläufig einer Konkretisierung entziehen muss.

 

 

Zwar wird kaum jemand den Zielen nicht zustimmen können – so unkonkret und populistisch sind diese formuliert –, allerdings ergibt eine nähere Analyse, dass tatsächlich nur in Punkt 10 ein Ziel formuliert wurde, bei dem das Gesundheitsministerium direkt betroffen ist. Aber auch dieses Ziel, nämlich „hochstehende und effiziente Gesundheitsversorgung für alle nachhaltig sicherzustellen“, ist ohne umfassende Gesundheitsreform nicht erreichbar und diese lässt weiter auf sich warten.
Dabei ist allen Playern im österreichischen Gesundheitssystem völlig bewusst, woran die Performance in erster Linie krankt:

  • Einerseits steht die fragmentierte Finanzierung zwischen Sozialversicherung und Gebietskörperschaften einem kompatiblen Vergütungssystem entgegen (Beispiel: Fehlen einer leistungsgerechten Abgeltung der Ambulanztätigkeit in Spitälern; die dzt. Pauschalzahlungen decken den Aufwand nicht annähernd)
  • und andererseits lässt die Umsetzung eines zukunftsorientierten Spitalskonzepts weiter auf sich warten.

Das System der Gesundheitsfinanzierung zu ändern war in den 40 Jahren Gesundheitsministerium (seit 1971 gibt es ein Gesundheitsministerium) ebenso ein nicht erreichbares Ziel wie strukturelle Änderungen in Bezug auf die „Spitalslandschaft“; Konzepte für diese Maßnahmen verstauben seit den 1970er-Jahren in verschiedenen Laden des Gesundheitsministeriums.
Statt selbst von Seiten der Politik, so schwer es auch ist, nunmehr zu versuchen, unser „versteinertes“ gesundheitspolitische System zu ändern – die Zeit ist durchaus reif, nicht zuletzt da es zunehmend weniger Geld zu verteilen gibt –, ist es also wohl einfacher, gute Ratschläge in Richtung Prävention (u. a. betreffend Ernährung und Bewegung) zu geben und sonst die Gesundheit der österreichischen Bevölkerung an verschiedene Institutionen zu delegieren.

Wie schaut es allerdings mit präventivmedizinischen Aktivitäten von Seiten des Ministeriums selbst aus? Dazu zwei Beispiele:

  • Österreich ist bekanntlich das einzige Land Europas, in dem die Kosten für die Immunisierung gegen HPV-Infektionen nicht zumindest teilweise von der Öffentlichkeit getragen werden. Und dabei lässt sich durch die Impfung nicht nur viel persönliches Leid vermeiden, sondern sie ist auch kosteneffektiv!
  • Aktuell bemüht man sich wieder einmal, Aktivitäten zu setzen, die schon in den 1970er-Jahren nicht erfolgreich waren; Beispiel Rauchen: Statt politische Maßnahmen wie Rauchverbote einzuführen, appelliert man an das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung und macht auf die Gefahren des Rauchens aufmerksam. Klingt gut, ist es aber nicht, oder gibt es tatsächlich jemanden, der noch nicht weiß, dass Rauchen „ungesund“ ist. Damals, vor 40 Jahren hatte man keine andere Wahl, als Aufklärungskampagnen durchzuführen, heute gibt es in praktisch allen Ländern der ersten Welt bereits strenge, gesetzlich geregelte Rauchverbotsbestimmungen. Nur bei uns nicht!

 

Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege!

Im Jahre 2010 wurden in das österreichische Gesundheitssystem 31,4 Mrd. Euro investiert, die Pro-Kopf-Ausgaben sind mit 3.400 Euro die zweithöchsten in Europa und in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als die Wirtschaftsleistung unseres Landes. Diesem hohen finanziellen Aufwand steht nur eine geringe Kosteneffizienz gegenüber. Prioritäres Ziel muss deshalb sein, die verschiedenen, durchaus vorhandenen Effizienzpotenziale zu heben. Allerdings, ohne Gesundheitsreform, nur durch populistische Maßnahmen wie die Präsentation von Gesundheitszielen und durch Delegieren von Verantwortung wird es keine Effizienzsteigerung geben. Wie wichtig diese Reform ist, sollte allen Verantwortlichen bewusst sein: Nach Expertenmeinung wird unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem in der derzeitigen Form in naher Zukunft nicht mehr finanzierbar sein.