Ein dramatischer Notfall: Schulterdystokie

Die Schulterdystokie ist ein seltenes, aber besonders dramatisches und gefährliches Ereignis. Die Inzidenz beträgt bezogen auf alle Geburten zwischen 0,2 und 3 %. Die Häufigkeit variiert deshalb, weil es unterschiedliche Definitionen der Schulterdystokie gibt. Einerseits spricht man von Schulterdystokie, wenn mehr als zwei Manöver notwendig sind, um die Schultern zu entwickeln, andererseits setzt sich immer mehr eine Zeitbeschränkung durch, die eine verzögerte Schulterentwicklung definiert (mehr als 60 Sekunden nach dem Durchtritt des Kopfes). An der Cornell University in New York werden automatisch bei jeder Geburt ab dem Durchtritt des Kopfes eine Stoppuhr gestartet und zeitgleich werden durch ein Computerprogramm alle Therapieschritte dokumentiert.
Meist trifft das Ereignis die geburtshilfliche Mannschaft allerdings völlig unvorbereitet, aber bei Beachtung der Risikofaktoren könnten schon prädiktiv Vorbereitungen getroffen werden, um eventuelle Auswirkungen einer Schulterdystokie zu minimieren.

Risikofaktoren sind: Geburtsgewicht über 4.000 g, protrahierte Geburt, Übertragung, maternale Adipositas, starke Gewichtszunahme, Diabetes mellitus, mütterliche Größe, Oxytocin-Gabe, Beckenanomalien, verlängerter zweiter Geburtsabschnitt (Geburtsstillstand) sowie operative vaginale Entbindungsoperationen (Vakuum/Zange).
Durchaus bewährt hat sich auch ein Screeningprogramm für Schulterdystokie in der etwa 36./37. Schwangerschaftswoche zu folgenden Risikofaktoren:

frühere Schulterdystokie (Risiko bis ­70-fach erhöht!)
früheres Geburtsgewicht über 4.000 g
mütterliche Größe (< 152 cm)
Gewichtszunahme mehr als 23 kg
BMI ≥ 30
Fundusstand über 42 cm
Diabetes mellitus
geschätztes fetales Gewicht lt. Ultraschallbiometrie (siehe Tab. 1).

Die Erfassung dieser Daten findet bei der Aufnahme in den Kreißsaal zur Geburt statt. Zu beachten ist allerdings, dass nur 15 % der Patientinnen, bei denen es dann tatsächlich zur Schulterdystokie kommt, Risikofaktoren aufwiesen.
Die Häufigkeit der Schulterdystokie steigt in den einzelnen Gewichtsklassen überproportional an (siehe Tab. 2).

 

 

 

Management der Schulterdystokie: Aufgrund der zahlreichen therapeutischen Möglichkeiten gibt es wahrscheinlich kein alleinig selig machendes und jederzeit einsetzbares Manöver. Immer aber soll, schon allein aus forensischen Gründen, eine Stoppuhr die Dauer und die Art der durchgeführten Manöver dokumentieren. Unbedingt notwendig ist die sofortige Facharztbeiziehung; der Erfahrenste soll es sein, bei einer Risikokonstellation schon vorab. Ebenfalls ist der Anästhesist zu verständigen, um eine eventuell notwendige Allgemeinnarkose sofort möglich zu machen. Über die Sinnhaftigkeit einer ausgedehnten Episiotomie wird unterschiedlich diskutiert. Bei Wehensturm soll eine Akuttokolyse eingesetzt werden, um den Druck der eingeklemmten Schulter auf die Symphyse zu minimieren.
Tatsächlich kennen wir verschiedene Manöver und als erstes soll das McRoberts-Manöver angewendet werden. Das ist das Beugen und Strecken der mütterlichen Beine im Hüftgelenk, ev. zusätzlich Druck von außen auf die vordere Schulter des Kindes vom Rücken her. Die Erfolgsrate liegt bei der Kombination dieser Handlungen zwischen 45 % (nach Gherman, 1997) und 58 % (Mc Farland, 1996). Sollte sich bei diesem Manöver kein Erfolg einstellen, ist zu versuchen, mit der Hand in die Scheide einzugehen und die hintere Schulter in der entgegengesetzten Richtung zu drehen (Wood’sche Korkenziehermanöver).
Sollte auch dieses Vorgehen keinen Erfolg erbringen, so muss versucht werden, an die hintere Schulter und den Oberarm zu kommen und den hinteren Arm zu extrahieren.
Manche Geburtshelfer bevorzugen aber sofort nach einem erfolglosen McRoberts-Manöver das Gaskin-Manöver, das einem Vierfüßlerstand entspricht (Erfolgsrate, 82 %, Bruner, 1998).
Ultima Ratio sollten abdominelle Lösungen sein, wie das Manöver nach Zavanelli (Kopf flektiert zurückschieben, dann Notsectio) oder die Laparotomie und dann Druck auf die Schulter ohne oder mit Eröffnung der Gebärmutter. Als letzte Methode steht auch die Möglichkeit der Symphysiotomie mit einem Skalpell nach Legen eines Dauerkatheters zur Diskussion.

Strengstens verboten sind bei Schulterdystokie 3 Dinge:

Ziehen am Kopf
Drehen am Kopf
Kristellern

 

Szenario möglicher Folgen: Trotz optimaler Lösung der Schulterdystokie können kindliche und mütterliche Verletzungen stark das spätere Leben beeinflussen. Kindliche Verletzungen können Klavikular-, Oberarmfrakturen, Plexus-brachialis-Paresen (Erb’sche Lähmung) oder schweren Asphyxie (4,3 %), Zerebralparesen bis zum Tod (7,5 %) sein. Weiters besteht ein besonders hohes Risiko für fetale Schäden insbesondere bei präazidotischen oder azidotischen Feten auf Grund des fehlenden Muskeltonus (Royal College Obstet Gynec, 1998). Die perinatale Mortalität wird mit 1,9–29 % angegeben (Sandmire und O’Halloin, 1988).
Auch mütterliche Verletzungen sind oft zu beobachten: von Dammriss bis zu Sphinkterverletzungen, Symphysenruptur, schwere Blutungen und Uterusruptur.
Wichtig ist, dass Schäden bei Kind und Mutter sofort und optimal versorgt werden, unter Umständen durch sofortige Beiziehung von Ärzten aus anderen Fachgebieten (Chirurgie, plastische Chirurgie, Neonatologie, physikalische Medizin). Darüber hinaus muss mit den Eltern sofort und ausführlich (verständlich) über Verletzungen und deren Auswirkungen für die Zukunft gesprochen werden. Und nicht zuletzt sind die Versicherungen zu informieren.
Obligat ist vor allem auch, alle Vorgänge genau zu dokumentieren (Zeitpunkt, handelnde Personen, Art der Manöver und deren Auswirkungen etc.).

Wichtig ist ein ständiges Training solcher Notsituationen: Für ein solches Training stehen geeignete Phantome zur Verfügung. Workshops werden dazu angeboten (z. B. VI. Internationaler Dialog im September 2012 in Wien, www.perinatal-dialog.at etc.) Die erfolgreiche Teilnahme an solchen Trainingskursen sollte man sich bestätigen lassen.

Zu einem forensischen Nachspiel kommt es trotzdem oft. Bei optimaler Kommunikation mit den Eltern kann aber ein Gerichtsverfahren vermieden werden und es kann relativ unbürokratisch ein finanzieller Schadensausgleich erzielt werden.
Immer wieder stellt sich bei Gericht oder Schiedsstelle die wesentliche Frage: Ist es schicksalhaft passiert oder weil falsche Therapieschritte gesetzt wurden? In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage, ob eine primäre oder sekundäre Sectio indiziert gewesen wäre.

ZUSAMMENFASSUNG

meist nicht vorhersehbares Ereignis
mehr als 50 % der Schulterdystokien treten bei kindlichem Geburtsgewicht unter 4.000 g auf (!)
genaue Gewichtsschätzung durch Ultraschall besonders bei Makrosomie schwierig
Plexusparesen auch bei Kindern nach Sectio beobachtet
meist mehrere Personen bei der Überwindung der Schulterdystokie beteiligt
„ex post“ oft schwer beurteilbar, ob richtig reagiert wurde (Dokumentation daher äußerst wichtig)
primäre oder sekundäre Sectio indiziert?
war die Therapie der Paresen bzw. Frakturen etc. adäquat?