Verringerte Referenzwerte im WHO-Manual 2010 – Neue Kriterien des Spermiogramms

Für die tägliche urologisch-andrologische Praxis sind die neuen Normwerte von besonderem Stellenwert, die in Zukunft Anwendung finden werden (Tab. 1). Erfahrungsgemäß sind bei allen Neuauflagen des WHO-Manuals neue Normwerte veröffentlicht worden, die auch bei den meisten Spermiogrammbefunden in der Folge berücksichtigt wurden.

Die Veränderung oder Verschlechterung der Spermiogrammparameter ist ein viel diskutiertes und medial interessantes Thema, weshalb bei der Interpretation dieser Daten besondere Vorsicht geboten sein sollte.
Gibt es nun klare Hinweise dafür, dass sich die Spermiogrammqualität innerhalb der letzten 3 Jahrzehnte, seit der 1. Auflage 1982, verschlechtert? Hierzu gibt es kontroversielle Studien, deren Diskussion den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. In der neuesten Auflage des Manuals werden neue Referenzwerte zur Interpretation des Spermiogramms angegeben, die auch die andrologische Fachwelt überraschten. Es soll im Folgenden dargestellt werden, worauf die Verringerung der neuen Referenzwerte beruht, um zu zeigen, dass auch diese Daten vorsichtig interpretiert werden sollten.

Diskussionswürdiges Erhebungsdesign: Anhand einer prospektiven und retrospektiven Untersuchung von über 4.500 Männer in 14 Nationen auf 4 Kontinenten wurden jene Männer zur Analyse eingeladen, die innerhalb von 12 Monaten erfolgreich eine Schwangerschaft induziert hatten. Von diesen Männern wurde ein Spermiogramm erhoben und daraus, entsprechend der Gauß’schen Verteilungskurve, ein Verteilungsmuster erhoben, wobei als niedrigster normaler Referenzwert jener Wert festgelegt wurde, der ≥ 5% der untersten Perzentile lag. Somit stellen die Normwerte nur den niedrigsten erforderlichen Wert dar, mit denen Männer innerhalb eines Jahres ein Kind gezeugt haben (Cooper T. G. et al., World Health Organization reference values for human semen characteristics. Hum Reprod Update 2010; 16 [3]:231-45). Dies kann aus verschiedenen Gründen diskutiert werden, da bereits ein Grundsatz bei der andrologischen Abklärung, nämlich: “ein [einziges] Spermiogramm ist kein Spermiogramm”, nicht berücksichtigt wurde.

Neue Normwerte und Nomenklatur: Basierend auf dieser Studie wurden die neuen Normwerte zur Spermiogrammbefundung festgelegt und man sollte sowohl bei den eigenen Befunden als auch kooperierenden Labors einfordern, dass bei jedem Spermiogrammbefund die zugrunde liegenden WHO-Normwerte mit dem entsprechenden Auflagejahr angegeben werden. Des Weiteren wurden auch die zur Befundung anzuwendenden Begriffe definiert (Tab. 2).
Neben diesen grundlegenden Änderungen gibt es zahlreiche Definitionen und Hilfestellungen für die Spermiogrammdiagnostik, die zur Standardisierung und besseren Vergleichbarkeit der Befunde unterschiedlicher Labors führen sollten.

Welche Auswirkungen die Änderung der Normwerte auf die Renumeration der assistierten Reproduktion haben, ist derzeit noch nicht klar und wird wohl in den nächsten Jahren mit den reproduktionsmedizinischen Gesellschaften diskutiert werden. Derzeit gelten aus andrologischer Sicht noch folgende Einschlusskriterien (Mann < 50 Jahre; Pathospermie mit zumindest einem der 4 Faktoren (keine Vasektomie):

  • Dichte: < 10 Mio./ml
  • Motilität: < 30% vorwärtsbewegliche Samenzellen (Grad a + b)
  • od. < 20% rasch vorwärtsbewegliche Samenzellen (nur Grad a)
  • Morphologie: < 30% normale Formen

 

Wissenschaftliches Interesse neben den Spermiogramm-Parametern haben weiterhin genetische Fragen, weshalb auch die genetische Beratung durch den Urologen erfolgen sollte. Dies beinhaltet jedoch, dass chromosomale und/oder genetische Malformationen erkannt und im Beratungsgespräch mit dem Patienten bzw. dem Paar evaluiert werden. Des Weiteren wurde mehrfach bestätigt, dass Brüche der DNA-Stränge an Spermien mit einer signifikant schlechteren Fertilisationsrate im Rahmen der assistierten Reproduktion assoziiert sind. Ursache hierfür könnte unter anderem exzessiver Nikotinkonsum sein. Es sind kommerzielle Testverfahren zur Bestimmung der DNA-Brüche erhältlich, deren Stellenwert jedoch in der Routinediagnostik des andrologischen Patienten noch nicht etabliert ist und die derzeit zumeist im Rahmen von Studien angewendet werden.

Nachsatz: Endlich gibt es wieder etwas Neues in der Andrologie, wobei noch nicht beurteilt werden kann, ob die neue WHO-Richtlinie zur Spermiogrammdiagnostik rasch in den klinischen Alltag Eingang finden wird.