Nach wie vor tabuisiertes Problem mit wachsender Prävalenz – Überaktive Harnblase – mit oder ohne Harndranginkontinenz

In diesem Kontext ist festzuhalten, dass nur ein Drittel der PatientInnen mit Inkontinenz ärztliche Hilfe suchen. Es ist daher in vielen Fällen ein aktives Ansprechen der Problematik von ärztlicher Seite notwendig.

Definition

Entsprechend der Definition der International Continence Society (ICS) wird eine überaktive Harnblase (Overactive Bladder, OAB) als „Drangsymptomatik mit oder ohne Harninkontinenz, mit Pollakisurie (häufiges Wasserlassen) und Nykturie (nächtliches Harnlassen) ohne Vorliegen einer Infektion oder einer anderen augenscheinlichen Pathologie“ definiert. Unterschieden werden:

OAB trocken (OAB dry): Pollakisurie (> 8-mal/24 Stunden), imperativer Harndrang, Nykturie > 2-mal

OAB nass (OAB wet): umfasst OAB trocken und zusätzlich Dranginkontinenz

Patienten mit Drang- oder gemischter Belastung/Dranginkontinenz (OAB wet) machen etwa 30 % aller OAB-Patienten aus.

Pathogenese

Vier Pathomechanismen führen allein oder in Kombination zu einer überaktiven Harnblase:

  • vermehrte Afferenzierung, d. h. eine Verstärkung des sensorischen Inputs aus der Harnblase
  • Mangel an zentralnervöser Kontrolle bzw. bei Defekten der kortikalen Hemmung des Detrusorreflexes: M. Parkinson, St. p. Insult, M. Alzheimer, Encephalitis disseminata etc.
  • degenerative Veränderungen der Harnblase („aging bladder“): bedingt durch Veränderungen im Bereich des Detrusors der alternden Harnblase
  • Störungen im Urothel: die erhöhte Durchlässigkeit der Glukosaminoglykan-Schicht der Schleimhaut vor allem im Alter ermöglicht die vermehrte Reizung der in der Blasenwand liegenden Nervenendigungen.

Diagnostik

Die gezielte Anamnese dient der Unterscheidung zwischen Dranginkontinenz bei überaktiver Blase bzw. Dranginkontinenz, Belastungsinkontinenz und Überlaufinkontinenz. Die Harnuntersuchung erfolgt vorerst mittels Teststreifen bzw. Mikroskop; Nitrit und Leukozyten im Harn weisen auf eine Harnwegsinfektion hin.
Die Basisabklärung von PatientInnen mit Symptomen der überaktiven Harnblase entspricht weitgehend der von PatientInnen mit Miktionsbeschwerden im Allgemeinen. Miktionsfrequenz und Miktionsvolumina werden am besten mittels eines Miktionsprotokolls über 48 Stunden quantifiziert. Eine sonographische Restharnkontrolle ist obligat.
Eine weitergehende funktionelle Abklärung inkl. Uroflowmetrie, Flow-EMG, Urodynamik ist in der Regel nur bei Patienten nach frustraner Ersttherapie angezeigt.

Therapie

Die Eckpfeiler der Therapie der OAB sind konservative Therapieformen wie Lifestylemodifikation und Blasen-/ Toilettentraining, Verhaltensmodifikation und me dikamentöse Therapie; weiters Neuromodulation und invasiv-therapeutische Ansätze (Tab. 1).

Konservative Therapie (siehe Tab. 2):

Verhaltensmodifikation: Auf der Basis des Miktionsprotokolls sollte mit der Patientin primär eine Modifikation des Trinkverhaltens besprochen werden: exzessive Flüssigkeitszufuhren sollten vermieden werden, eine Flüssigkeitszufuhr von 1.500–2.000 ml/24 Stunden ist in der Regel ausreichend; steht die Nykturie im Vordergrund, empfiehlt es sich, größere abendliche Trinkmengen zu vermeiden. Eine Umstellung der Medikation (z. B. Diuretika) sollte in Betracht gezogen werden.

Beim Toiletten- bzw. Blasentraining sollten zunächst die Miktionsintervalle verkürzt werden (Miktion nach der Uhr), damit der Zeitpunkt der terminalen, nicht mehr kontrollierbaren Detrusorüberaktivität (die zur Dranginkontinenz führt) nicht erreicht wird. Im nächsten Schritt sollten dann die Miktionsintervalle schrittweise wieder verlängert und damit die Blasenkapazität erhöht werden kann.

Ein Beckenbodentraining ist angezeigt, wenn die Betroffene nicht mehr in der Lage ist bzw. es verlernt hat, den Bekkenboden zu kontrahieren. Es sollte in idealer Weise unter physiotherapeutischer Anleitung und Kontrolle erfolgen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Studien zeigen, dass ein richtig durchgeführtes Beckenbodentraining geeignet ist, die Symptome der OAB in 85–94 % zu verbessern und das Miktionsintervall von 2,13 Stunden auf 3,44 Stunden zu erhöhen.

Orale und transdermale medikamentöse Therapie mit Anticholinergika (siehe Tab. 3): Seit über 20 Jahren sind Anticholinergika Eckpfeiler der medikamentösen Therapie bei überaktiver Harnblase, Sie führen bei 50–70 % der Patienten zu einer Besserung der Symptome (cave: deutlicher Placeboeffekt). Grundsätzlich unterscheiden sich Anticholinergika in ihrer Wirkung nur marginal, der tatsächliche Erfolg kann erst nach 4–6 Wochen kontinuierlicher Therapie abgeschätzt werden.

Nebenwirkungen betreffen vor allem Mundtrockenheit (20–30 %) und Obstipation (15–20 %). Die relativ hohe Nebenwirkungsrate ist eine wesentliche Ursache für die schlechte Compliance (über 50 % der Patienten brechen die Therapie innerhalb von 12 Monaten ab). Im Vergleich zum Klassiker Oxybutynin zeigen neuere Präparate wie Tolterodin, Trospiumchlorid und M3-selektive Präparate (Solifenacin) eine bessere Verträglichkeit. Retardpräparate zeichnen sich ebenfalls durch eine bessere Verträglichkeit aus. Das Oxybutyninpflaster bietet auf Grund der langsamen Wirkstoffabgabe ebenfalls eine gute Verträglichkeit.

Topische Östrogentherapie (siehe Tab. 4): Bei Frauen nach der Menopause ist eine topische Östrogentherapie (Östriol-haltige Vaginalsuppositorien, vorerst 1-mal täglich für 2–3 Wochen, dann als Erhaltungstherapie 2-mal/Woche) angezeigt. Über die gesteigerte Proliferation des urethralen Epithels, die venöse Kongestion in der Lamina propria der Harnröhre und eine erhöhte β-adrenerge Sensitivität kommt es zu einer (moderaten) Besserung der Symptomatik.

Alternative medikamentöse Ansätze: Werden Anticholinergika nicht vertragen oder bestehen Kontraindikationen (Engwinkelglaukom), können als medikamentöse Alternativen auch trizyklische Antidepressiva (Imipramin), Spasmolytika, Baclofen, Tetrazepam oder Tizanidin versucht werden. Die diesbezügliche Datenlage ist aber eher dürftig.

Botulinumtoxin: Die intravesikale Applikation von Botulinumtoxin A hat sich in den letzten Jahren zu einer Standardtherapie der neurogen-bedingten Detrusorüberaktivität entwickelt. Seit 2–3 Jahren wird dieser Ansatz zunehmend auch bei der therapierefraktären, nicht neurogenbedingten OAB eingesetzt. Der Wirkung tritt nach etwa 14 Tagen ein, die Wirkdauer beträgt zwischen 6 und 12 Monaten, danach ist eine neuerliche Behandlung notwendig.

Periphere Neuromodulation: Die nicht-invasive periphere Elektrostimulation mittels Vaginal-, Rektal- oder Klitoriselektroden führt über eine Erregung des Nervus hypogastricus zu einer direkten Hemmung des Nervus pelvicus und damit zu einer Beruhigung der Blasenaktivität.

Invasive Neuromodulation: Bei dieser Technik werden perkutan von dorsal her unter Röntgenkontrolle Elektroden in die Foramina sacralia eingelegt und damit eine sakrale Nervenwurzelstimulation im Bereich S3 durchgeführt.

Blasenersatz/Blasenaugmentation/Dauerharnableitung: Als Ultima Ratio bietet sich eine Blasenaugmentation mit einem isolierten Dünn- oder Dickdarmsegment – in der Regel kombiniert mit einem intermittierenden Selbstkatheterismus – an. Kommt diese Option nicht in Frage, ist die Anlage einer supravesikalen kontinenten (d. h. katheterisierbarer Pouch) oder inkontinenten (d. h. Ileum-Conduit, Transversum-Conduit) Harnableitung möglich.