24-Stunden-Ambulanz

Die 24-Stunden Ambulanz, ihre Aufgaben und Probleme sowie Erfahrungswerte aus der Praxis standen im Mittelpunkt der zweiten Auflage der IN FUSION in den Wiener Sofiensälen, einer Veranstaltung der Bundeskurie angestellte Ärzte der Österreichischen Ärztekammer am 28. April. Unter dem Titel „24 Stunden Ambulanz. Wer macht’s? Wer zahlt’s? Wer braucht’s?“ diskutierten Vertreter des österreichischen Gesundheitssystems den Stellenwert der Spitalsambulanzen. „Immer längere Wartezeiten für PatientInnen, Selbstzuweisungen rund um die Uhr, eine unklare Finanzierung, Arbeitsverdichtung und Bürokratie sind aktuell die größten Stolpersteine“, fasst Gastgeber Harald Mayer, Obmann der Bundeskurie angestellte Ärzte und ÖÄK-Vizepräsident, zusammen. Die Politik sei gefordert, das Thema ganzheitlich anzugehen und Strukturen zu schaffen, die den Patienten durch das System führen und Patientenströme regeln.
Theoretisch sollten, so Mayer, nur jene ambulanten Leistungen erbracht werden müssen, die aufgrund von Kostengründen im niedergelassenen Bereich noch nicht angeboten werden können, oder im Bereich von Spezialambulanzen. Bei der Herausforderung überbordende Spitalsambulanz geht es zum einen um die steigende Inanspruchnahme von Ambulanzleistungen während der Hauptfrequenzzeiten untertags, zum anderen aber auch um die Notfallambulanzen. „Auch jede Selbst-Fehlzuweisung zwischen 22und 6 Uhr ist eine zu viel“, sagt Mayer pointiert. „Wir haben hoch spezialisierte Fachärzte, um im Notfall PatientInnen, die es wirklich notwendig haben, zu versorgen. Das machen wir auch sehr gerne. Aber es sei die Frage erlaubt, ob wir für all das, was bei uns in den Ambulanzen aufschlägt, auch da sein müssen?“
Die Ärzte als Leistungserbringer würden sich da als hilflos empfinden, denn man müsse Patienten, die da stehen, ja auch anschauen. Mayer sieht hier „eine Schizophrenie des Systems“ und wünscht sich eine politische Lösung.
Im Laufe der Veranstaltung wurden viele Zahlen präsentiert, das Problem aus vielerlei Blickwinkeln meist mit der gleichen Aussage analysiert: Gefordert sind die Politik und der Patient selbst. Während die einen den viel zu fordernden Patienten beklagen, der kein Kostenbewusstsein habe und mittlerweile auch jede Gesundheitskompetenz verloren habe, sehen andere die typischen „Konsumenten“ der ambulanten Leistungen etwas differenzierter: vor allem junge Patienten mit wenig Zeit und One-Stop-Shop-Verhalten und alte Leute, direkt aus Pflegeheimen, mangels ärztlicher Versorgung in der Nacht und am Wochenende.

Ambulante Leistungen in Zahlen

Dr. Michael Heinisch, Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe, präsentierte aktuelle Zahlen: Während 9,8 Milliarden Euro pro Jahr für stationäre Leistungen ausgegeben werden, schlägt die ambulante Versorgung im Spital immerhin mit 2 Milliarden zu Buche. Im Vergleich dazu geben die Sozialversicherungen 4,1 Milliarden für die Versorgung im niedergelassenen Bereich und 0,3 für Rehabilitation aus. Dazu kommen noch in Summe 1,2 Milliarden der Länder für stationäre Pflege und 0,3 für mobile soziale Dienste.
In Österreichs Ambulanzen werden pro Jahr 8,3 Millionen Erstkontakte gezählt. Mit 16,8 Millionen Behandlungskontakten entspricht das einer durchschnittlichen Behandlungsfrequenz von 2 pro Jahr. Anders ausgedrückt heißt das aber auch, dass statistisch betrachtet jeder Österreicher einmal pro Jahr in einer Ambulanz behandelt wird und diese im Schnitt im Zuge der Behandlung 2-mal aufsucht.
Doch warum sind diese Zahlen so hoch?

Wer sind die Patienten? Wie krank sind sie wirklich?

Dr. Eiko Meister vom Universitätsklinikum Graz präsentierte in seinem Vortrag Zahlen von der EBA (Erstbegutachtung, Beobachtung, Aufnahme) Graz. Welche Patienten frequentieren diese Einrichtung? Bei einem tatsächlichen Aufnahmeanteil von etwa 20% hätte der Großteil der Patienten auch im niedergelassenen Bereich versorgt werden können. Auffällig ist, dass die meisten Patienten am Freitag und Montag kommen und dass die Zahlen an den Wochenenden mittlerweile kontinuierlich in Richtung Wochentagsniveau ansteigen, was bei derzeitigen Dienstplänen (Hauptanwesenheitsfrequenz tagsüber an den Wochentagen) immer größere Herausforderungen mit sich bringt. In der tages­zeitlichen Verteilung zeigt sich ein großer Peak am Vormittag mit einem zweiten kleineren Peak ab 17 Uhr – offenbar jene, die nach der Arbeit kommen. Die Zuweiser sind übrigens zu 18% Allgemeinmediziner, 3% Fachärzte, und 14% werden von andere Kliniken zugewiesen. Mit 57% die größte Gruppe sind die Selbstzuweiser.­
Doch ist es so einfach? Ist es nur der böse konsumierende Patient, der ohne Kostenbewusstsein lieber ins Spital geht? Eiko Meister berichtet etwa auch von einem somnolenten Patienten, den sein praktischer Arzt letztlich der Notaufnahme zugewiesen habe, weil er trotz größter Bemühungen kein Spital gefunden hatte, das den – dialysepflichtigen – Patienten nehmen wollte.
Auffällig in der Grazer Untersuchung ist auch die Altersverteilung: Die größten Patientengruppen sind die 18- bis 30-Jährigen sowie die über 80-Jährigen. Mehr als ein Drittel aller ­Patienten ist älter als 70. Für beide Gruppen nennt Meister eine Erklärung: Die Jüngeren (Stichwort Universitätsstadt Graz) haben meist großen Zeitdruck, gehören der One-Stop-Shop-Generation an und glauben offenbar, in einer Ambulanz alle Probleme in einem Aufwasch erledigt zu bekommen. Die zweite große Gruppe sind jedoch alte Patienten, die direkt aus Pflegeheimen – bevorzugt freitagabends – zugewiesen werden. Hier präsentierte Meister einen sehr positiv diskutierten Lösungsansatz in Form des GEKO, eines geriatrischen Konsiliar­dienstes, der gezielt für Pflegeheime zur Verfügung steht.

Wie steht’s um die Versorgung im niedergelassenen Bereich?

In ihrem Vortrag „24-Stunden-Ambulanz: Wer braucht’s“ fand Dr. Andrea Kdolsky, ehemalige Bundesgeschäftsführerin der ARGE Selbsthilfe Österreich, eine klare Antwort: jeder Mensch in Österreich, der ein Problem mit Gesundheitseinschränkung – und deshalb Angst habe. Das Problem liege oft darin, dass außer den Spitalsambulanzen keine anderen Strukturen zugänglich seien. So gab es bis vor 2 Jahren in der Millionenstadt Wien von Freitagnachmittag bis Montag Früh keinen einzigen niedergelassenen Kinderarzt im Dienst! Wen wundert’s dann, dass Ambulanzen frequentiert werden?
Auch Dr. Arno Melitopulos, Direktor der ­Tiroler Gebietskrankenkasse, sagt: Patienten stimmen mit den Füßen ab. Auch er betont, dass der Patient ernst genommen werden will und muss, doch dass derzeit eben alles möglich sei. Er fordert, über das Rollenverständnis (aller beteiligten Stakeholder) nachzudenken und Maßnahmenpakete für den niedergelassenen Bereich zu erarbeiten. Beim Rollenverständnis stellt er Richtung Ärztekammer unter anderem die Frage, ob Behörden- und Gewerkschaftsfunktion in einem zielführend sind. Er plädiert auch für mehr Sensibilität in der Kommunikation und warnt vor vorschnellen Begriffen wie „Landärztesterben“.
Unter Maßnahmen für den niedergelassenen Bereich fällt für ihn auch ein „Optionen-Regal“, das eben von der Einzelordination über die Gruppenpraxis bis zu PHC auch Anstellungen von Ärzten bei anderen Ärzten umfasse. Sein Grundtenor ist, flexible individuelle Lösungen mit mehr Möglichkeiten zuzulassen. Die von ihm präsentierten Best-Practice-Beispiele aus Tirol (siehe Seite 7) lassen in der sonst eher pessimistischen Stimmung zumindest hoffen. Offenbar ist manches möglich, sofern man es tut …

Selbstzufriedenheit heißt Stillstand …

Kdolsky wiederum beklagt, dass man in Österreich zu wenig über den Tellerrand blicke, sondern sich daran erfreue, das „beste Gesundheitssystem“ zu haben. „Kennen Sie einen Sportler, der sagt: Ich bin der Beste? Das wäre Stillstand.“ Kdolsky berichtet von Ländern wie in Skandinavien und allen voran den Niederlanden, denen die beste Abschottung des Spitalsbereiches gelinge. In diesen Ländern sei aber garantiert, dass 7 Tage 24 Stunden auch eine Versorgung im niedergelassenen Bereich gewährleistet sei. Derzeit ist Kdolsky in Slowenien tätig, einem „Land, wo man erst ins Spital geht, wenn es ernst ist“. Der niedergelassene Bereich sei dort polyklinikartig organisiert – mit Einrichtungen, die von Labor, CT, Endo­skopie bis Kleinoperationen alles anbieten.
Wie die Aufwertung des niedergelassenen Bereiches organisiert sein könnte, wurde im Rahmen der Tagung kaum diskutiert. Das jahrelang kontrovers diskutierte Thema PHC wurde kaum erwähnt. Und Kdolskys Hinweis auf Sloweniens Polykliniken wurde von ihren Gesprächspartnern – nicht unerwartet – mit Schweigen quittiert …

Große Lösungen in weiter Ferne …

Die anschließende Round-Table-Diskussion kreiste vor allem um den mündigeren Patienten mit höherer Health Literacy: Seine endlich notwendige Erziehung wurde aus allerlei Blickwinkeln plakativ diskutiert. Einmal war es die alleinerziehende BILLA-Verkäuferin, die es zu bilden galt; dann die junge Mutter, die keine masernerfahrene Großmutter mehr zur Hand hat und deshalb mit ihrem Kind nächtens ärztlichen Rat braucht; dann die allzu fordernde Generation Y.
Heftig wurde daher die Politik zum einen in ihrem Lenkungsauftrag gefordert, den begehrenden, oft gesundheitsungebildeten Patienten wegzuschleusen, zum anderen in ihrem Erziehungsauftrag (mehr Gesundheitserziehung in der Schule etc.). Und stellvertretend für die großen ungelösten Themen der Gesundheitsversorgung, für die es offenbar wenig konkrete Gesamtideen gibt, rankte sich die Diskussion unter Moderation von Vera Russwurm dann streckenweise überhaupt nur noch um die Gesundheitserziehung im Kindergarten und die gesunde Schuljause. Doch bis diese Jausen-Konzepte Früchte bringen, wird es vermutlich noch eine Weile dauern …
Und ganz so lang wird man hoffentlich nicht mehr warten wollen und wohl auch gar nicht warten können … Prim. Univ.-Doz. Dr. Rudolf Knapp, Obmann-Stellvertreter der Bundeskurie angestellte Ärzte, brachte es dann in der Schlussrunde auf den Punkt: „Versuchen wir es, und schaffen den mündigeren Patienten, aber tun wir auch anderes – und zwar schneller!“

Hoffnungsschimmer: Best Practice

Der Tenor der Tagung kann zwar primär mit der Problembeschreibung zusammengefasst werden und wurde so auch in der dazugehörenden Presseaussendung kommuniziert („Einheitlicher Tenor: Selbstzuweisungen und ungesteuerter Zugang als größte Herausforderungen“). Einmal mehr wird von der Politik eine Zugangssteuerung gefordert. Tatsächlich waren es aber die oft nur am Rande erwähnten, grosso modo gar nicht einmal diskutierten Beispiele aus dem Alltag, die von Kreativität und oft auch Mut einzelner Institutionen und Personen zeugen und in einer eher pessimistischen Tagung doch auch Hoffnung schöpfen lassen. Stichwortartig sollen hier einige dieser ­Best-Practice-Beispiele vorgestellt werden ­(siehe Kasten).

 

Konkrete Herausforderungen und individuelle Lösungsansätze
„GEKO, Geriatrischer Konsiliardienst“ (Dr. Eiko Meister, Graz)
Problem: enorm hohe Zahl an Zuweisungen aus Pflegeheimen in Notfallaufnahme. Der GEKO, der Geriatrische Konsiliardienst, ­ermöglicht bessere ärztliche Versorgung von Pflegeheimen und soll damit dazu beitragen, dass die Zahl an Zuweisungen aus ­Pflegeheimen in die Notaufnahme des Universitätsklinikums Graz reduziert werden kann.
„Flexibel denken: Ergebnis und Versorgung zählen!“ (Dr. Arno Melitopulos, TGKK)
  • Kinderärztliche Versorgung in Reutte (Außerfern): Problem: keine niedergelassene pädiatrische Versorgung in der Region. Die Stelle ­wurde quasi ins Krankenhaus verlegt, ­Kofinanzierung von Krankenkasse und Tiroler Gesundheitsfonds. Damit kann eine Leistungspalette und auch eine Verfügbarkeit ­geboten werden, die ein Einzelner nicht anbieten könnte.
  • Erstaufnahmeeinheit an der „tirol klinik“60 Stunden pro Woche Allgemeinmediziner zur Notaufnahme dazu, Triage nach ­Manchester-Triage-System, 60% der Patienten ­fallen in Stufe 4 und 5 (nichtdringliche Fälle) und werden nun von Allgemeinmedizinern von 9 bis 21 Uhr behandelt.
  • Anstellung Arzt bei Arzt
    Problem: die ärztliche Versorgung in Wintersportort. Lösung: Der Arzt stellte andere Ärzte an. „Am Ende des Tages war für uns ­relevant, dass der Arzt eine Lösung ­gefunden hatte“: das Tal lückenlos versorgen zu können.
  • Netzwerk Schwaz geplantAls PHC-Variante wird im Bezirk Schwaz derzeit ein Netzwerk organisiert.
„Das Umfeld muss passen“ (Prim. Dr. Werner Saxinger, Dermatologie Wels)
An der Abteilung für Dermatologie Wels konnte die hohe Zahl von 44.000 ambulanten Patienten pro Jahr auf die Hälfte reduziert ­werden. „Voraussetzung ist, dass eine gute niedergelassene Versorgung gewährleistet ist“; konkret 8 Kassen- und 10 Wahlärzte. ­Patienten mit Banalitäten wie Ekzem werden in Ambulanz nicht behandelt, sie werden freundlich aufgeklärt und erhalten schriftliche Informationen mit Kontaktdaten der ­niedergelassenen Kollegen.
„Notaufnahme: nicht einfach für Personal, aber es geht“ (Univ.-Prof. Dr. Gabriela Kornek, Ärztliche Direktorin AKH Wien)
Problem: Von etwa 90.000 Patienten in der Notfallambulanz benötigt etwa die Hälfte keine Spitalsbetreuung. Gemeinsam mit WGKK und Wiener Ärztefunkdienst wurde ein Konzept erarbeitet: Ein Allgemein­mediziner während der Wochentage und zwei an den Wochenenden und Feiertagen ­behandeln die niedrig triagierten Patienten (Stufe 4 und 5). Ebenso werden Patienten, die etwa mit schon mehrere Wochen alten Facharzt-­Zuweisungen kommen, von den ­Allgemeinmedizinern wieder in den niedergelassenen Beriech weitergeleitet.
Ähnlich Modell Kinderklinik: Seit 3 Monaten werden Eltern mit niedrig triagierten ­Kindern an niedergelassene Kinderfachärzte ­verwiesen.
„Für Betroffene (Ärzte und Pflege) nicht einfach (oft wäre es einfacher, ein Labor ­aufzuschreiben), aber es geht. Es spricht sich ­herum, wir sehen bereits einen ­deutlichen Rückgang an Kindern, die keines Spitals bedürfen.“
„Optimierung Schnittstelle Entlassung“
Last, but not least eine von Prim. Doz. Dr. Rudolf Knapp in der Veranstaltung ­entwickelte Idee: „Finanzieren wir dem Hausarzt eine ­Visite im Spital bei ,seinen‘ ­Patienten!“
AutorIn: Susanne Hinger

Klinik 02|2017

Herausgeber: MedMedia Verlag und Mediaservice GmbH
Publikationsdatum: 2017-05-05