Therapeutische Langzeitbeziehungen sind für Menschen mit sehr komplexen psychiatrischen Erkrankungen Teil des Lebenskonzeptes. Die Veränderungen durch die Krankheit und die Zwangsbeglückung durch notwendige Unterstützung machen es nicht leicht, diese Beziehungen zu akzeptieren. Ein adäquater Umgang mit der Situation von beiden Seiten schafft eine Basis, die therapeutisches Tun effizient, sinnvoll und angenehm und damit lange aushaltbar macht.
Gemeindenahe Behandlung ist jede Behandlung im Lebensumfeld des betroffenen Menschen. Dieser Artikel bezieht sich auf längerfristig, komplex erkrankte Menschen. Sie brechen Unterstützungen immer wieder ab, kommen oft sehr spät und mit wenig Hoffnung. Sie benötigen permanent oder rezidivierend multiprofessionelle Unterstützung über viele Jahre.
Früher hat sich die Betreuung in der Erhaltung des Status Quo erschöpft. Die Sicht auf psychische Erkrankungen hat sich indessen verändert. Der Blick wendet sich von Symptomen und Defiziten hin zu Ressourcen. Mit dem Begriff Recovery1 ist ein neuer Zugang entstanden, der sich auf alle Krankheitsbilder ausbreitet. Das hat strukturelle und stigmabedingte Barrieren in den Fokus gerückt. Neue Varianten im Umgang mit den Menschen und mit den Themen “Erholung”, “Remission” und “Recovery” werden diskutiert. Die Bedeutung der Evidenz hat zugenommen2.
Langzeitbetreuung: Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen verbringen die meiste Zeit ihres Lebens zu Hause. Stationäre Aufenthalte bleiben Akutphasen vorbehalten. Damit stellen Langzeitbetreuung und -behandlung das zentrale Thema der gemeindenahen Arbeit dar:
Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen:
Betroffene brauchen Rahmenbedingungen, um so stark zu werden, ihre Beziehungen leben zu können. Die alten Konzepte der Salutogenese, des Empowerment, und des Coping beschreiben diese Bedürfnisse. Diese Konzepte zeigen zusammengefasst drei grundlegende Bedürfnisse der Menschen:
Diese Grundlagen haben massive Auswirkungen auf die eigene Identität, den Selbstwert und das Selbstvertrauen3.
Recovery ist das Erreichen eines Zustandes und kann als persönlicher subjektiver und selbstdefinierter Prozess gesehen werden. Hier wirken die subjektiven Qualitäten entscheidend zusammen. Dass sich subjektive Wahrnehmung, Erfahrung und Diagnose einer psychischen Erkrankung auf die eigene Identität auswirken, ist lange bekannt4. Wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, Aufgaben, die er zum eigenen Selbst gehörig erlebt, zu erledigen, gehen bestimmte Aspekte der Identität – die “Ganzheit” – verloren. Es gibt wenig Information über diese veränderte “Krankheitsidentität” und ihre Auswirkungen auf die Recovery.
“Krankheitsidentität” ist ein Set von Rollen und Verhalten, das die Menschen über sich in Bezug auf ihr Verständnis über die Erkrankung entwickelt haben. Sie besteht meist aus der Erfahrung, den objektiven Aspekten der Erkrankung und der Bedeutung, welchen Sinn die Erkrankung für den Einzelnen hat. “Krankheitsidentität”, wie sie Yanos et al.5 beschreiben, hat einen entscheidenden Einfluss auf die Recovery und beeinflusst den subjektiven und objektiven Outcome6. Grundlage ist die Selbsterkenntnis, ein psychiatrisches Problem zu haben. Sie wird durch die Bedeutung, die die Person dem Problem gibt, beeinflusst. Die “Krankheitsidentität” beeinflusst Hoffnung und Selbstwert. Menschen erleben Symptome nicht nur, sie interpretieren das Kranksein und geben ihm Bedeutung. Hier wird Stigma zu einem entscheidenden Faktor. Die Internalisierung von negativen Bedeutungen, besonders des Stigmas, beeinflusst das innere Konstrukt der Krankheit und beschädigt Hoffnung und Selbstwert. Alle betroffenen Personen tragen das allgemeine gesellschaftliche Stigma, wie jeder Gesunde, in sich. Es richtet sich nur plötzlich gegen sie. Häufig stigmatisiert sich die Person selbst, übernimmt abwertende Zuschreibungen und verändert dadurch die Identität als Student, Arbeiter, Elternteil etc. hin zur kranken Person und verliert Hoffnung und Selbstvertrauen. Positiv wäre die innere Sicherheit, dass das Geschehen eine bewältigbare Herausforderung darstellt.
Hoffnung und Selbstwert beeinflussen drei zentrale Variable des Recoveryprozesses:
Menschen mit psychischen Erkrankungen verbesserten sich deutlich, wenn es gelang, die eigene Identität wieder weg von der Identität “Patient” hin zur Identität “Person” zu verändern7. Wie kann man dieses Wissen in die Behandlung integrieren? Yanos et al.5 schlagen spezifische Sitzungen zu diesem Thema vor. Aus der Sicht des Autors stellt sich der sinnvollste Zugang anders dar. Es ist notwendig, professionelle Grundhaltung und Systemstrukturen so zu verändern, dass sie einen kontinuierlichen Rahmen bilden, der den (Wieder-) – Aufbau der eigenen Identität unterstützt.
Priebe et al.8 haben einige Basiskriterien erarbeitet, warum Betroffene das klassische Betreuungssystem verlassen haben und bei einem Assertive Community Team mit anderen Rahmenbedingungen wieder anbinden konnten. Gründe, warum die Menschen aus dem Kontakt gingen, waren:
Gründe, warum die Menschen wieder Kontakt fanden:
Gute Kommunikation: In einem Review zur guten Kommunikation in der Psychiatrie fassen Priebe et al.9 5 Leitprinzipien zusammen. Sie sind konzeptionell eindeutig und trotzdem teilweise miteinander verbunden.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Gruppe von Betroffenen in einem Arbeitskreis zum Thema “Compliance” und ihren Bedingungen, die in einer Broschüre dargestellt wurden10.
Zusammenfassend ergeben sich drei wichtige Punkte3:
Aufgabe der Betroffenen ist es, sich mit der eigenen Betroffenheit auseinanderzusetzen. Im Lebenskonzept müssen Wünsche, Ziele und Zukunftsperspektiven neu geordnet werden, um ein neues Konzept zu schaffen, das an der Vergangenheit anschließt, die Erkrankung als Herausforderung mitberücksichtigt und positive Blicke in die Zukunft erlaubt. Weiters ist es ihre Aufgabe, sich der Selbststigmatisierung bewusst zu werden und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Dadurch werden Hoffnung und Selbstwert steigen und die Menschen fähig, wieder in zufriedenen sozialen Beziehungen zu leben. Eine dieser Beziehungen kann dann über lange Zeit eine therapeutische sein.
Aufgabe der Professionisten ist es, den Rahmen für diese schwierige Arbeit so gut und sinnvoll wie möglich zu gestalten, d. h.:
1) Amering M, Schmolke M: Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit. Psychiatrieverlag, Bonn 2007
2) Mueser KT et al.(2003), Implementing evidence-based practices for people with severe mentall illness. Behavior Modification 2003; 27:387-411
3) Klug G, Gemeindenahe Behandlung. Beziehung über oder nach vielen Jahren, der richtige Zeitpunkt – und was wichtig ist. Gemeindenahe Psychiatrie 2011; 2:61-73
4) Estroff SE, Self, identity, and subjective experiences of schizophrenia: In search of the subject. Schizophrenia Bull 1989; 15:189-196
5) Yanos PT, Roe D, Lysaker PH, The impact of illness identity on recovery from severe mental illness. Am J Psychiatric Rehabil 2010; 13(2):73-93
6) Link BG et al., The consequences of stigma for the self-esteem of people with mental illness: Psychiatric Services 2001; 52:1621-1626
7) Roe D (2001), Progressing from patienthood to personhood across the multidimensional outcomes in schizophrenia and related disorders. J Nerval Mental Dis 2001; 189:691-699
8) Priebe S et al., Processes of disengagement and engagement in assertive outreach patients: qualitative study. Brit J Psychiatry 2005; 187:438-443
9) Priebe S et al., Good communication in psychiatry – a conceptual review. European Psychiatry 2011; in press
10) Broschüre: Therapie (Un) Treu? Therapieuntreue bei psychiatrischer Erkrankung. Focus Patient Ltd, Baden 2011, in Druck