Aktuelle Forschungsergebnisse sollten einfach, schnell und in der Landessprache zugänglich sein – Auswirkungen des Sprachbias auf den Wissenstransfer und die Patientenversorgung

Auswirkungen des Sprachbias auf den internationalen Wissenstransfer: Der Sprachbias (engl. language bias) bezeichnet eine systematisch verzerrte Datenlage, die entsteht, wenn Publikationen in einer Sprache veröffentlicht werden, die international nicht wahrgenommen wird. Das Phänomen des Sprachbias ist seit mehreren Jahren bekannt und relativ gut untersucht1, 2. Wenn Wissenschaftler ihre Ergebnisse nicht nur in internationalen (englischsprachigen) Journalen publizieren, sondern auch lokale Fachzeitschriften zur Veröffentlichung nutzen, sind Ergebnisse aus der Grundlagenforschung oder für die Bewertung von Interventionen nur schwer auffindbar, insbesondere, wenn sie nicht elektronisch erfasst sind.
Idealerweise werden für Bewertungen systematische Übersichtsarbeiten (engl. systematic reviews) verwendet. Diese fassen qualitativ hochwertige Literatur zusammen, bewerten sie und können einen schnellen Überblick über die vorhandene Evidenz zu einer speziellen Fragestellung liefern. Allerdings limitieren einige Übersichtsarbeiten ihre zugrunde liegende Literaturrecherche auf englischsprachige Artikel. Eine Auswertung von 36 Meta-Analysen, die in international führenden internistischen Zeitschriften zwischen 1991 und 1993 publiziert wurden, ergab, dass 72 % (26/36) der untersuchten Arbeiten auf englischsprachige Literatur beschränkt waren3. Zudem haben nichtenglischsprachige oder kleinere, regionale Journale oft eine fehlende oder unvollständige Anbindung an internationale Datenbanken wie z. B. Medline, Embase oder Web of Science (ISI Web of Knowledge). Ein zusätzlicher Aspekt wurde von Egger et al. beleuchtet1. Die Autoren konnten zeigen, dass zumeist signifikante Ergebnisse (und damit vermeintlich interessantere Ergebnisse) tendenziell eher in internationalen, englischsprachigen Zeitschriften publiziert werden, während nichtsignifikante Resultate eher in lokalen Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Wenn Letztere bei der Bewertung von medizinischen Therapieverfahren aber nicht mit herangezogen werden, sind Patienten unter Umständen unnötigen Gefahren ausgesetzt. Eine einseitige, signifikante (und meistens positive) Datenlage kann dazu führen, Interventionen zu über- oder unterschätzen.
Eine Initiative der Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) hat zum Ziel, solche schwer erreichbare, nichtenglischsprachige Literatur zu identifizieren. Diese Publikationen werden in einer Komponente der englischsprachigen Datenbank Cochrane Library mit einem ins Englische übersetzten Titel zur Verfügung gestellt (www.thecochranelibrary.com). Hierfür werden retrospektiv bis 1948 manuell Fachzeitschriften und Kongressbände nach klinischen Studien durchsucht (sog. Handsuche). Das Deutsche Cochrane Zentrum in Freiburg (www.cochrane.de) koordiniert die Handsuche nach klinischen Studien in den deutschsprachigen medizinischen Fachzeitschriften. Bisher wurden in 85 Zeitschriften über 18.491 klinische Studien identifiziert, von denen 10.165 (55 %) nicht in der Datenbank Medline indexiert waren4.

Auswirkungen des Sprachbias auf die Fortbildung und die Patientenversorgung: Weniger Beachtung hat bisher der Sprachbias erfahren, der für deutschsprachige Ärzte, Patienten und Angehörige entsteht, wenn internationale Literatur aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nicht gelesen werden kann. Haße und Fischer haben 2001 Ergebnisse einer Evaluation unter deutschen Ärzten publiziert, die darauf hinweisen, dass lediglich ein geringer Teil der deutschsprachigen Ärzte zur Fortbildung englischsprachige Literatur verwendet5. In der bundesweiten Fragebogenerhebung gaben nur 18 % an, dass sie „Englisch in Wort und Schrift sicher“ beherrschen, und 39 % ist eine „Verständigung in englischer Sprache möglich“. Nur 45 % könnten „mühelos“ wissenschaftliche Arbeiten auf Englisch lesen.
Wir haben in einer eigenen Untersuchung evaluiert, welchen Stellenwert internationale Zeitschriften für die Publikation wissenschaftlicher Artikel haben. Ziel war es, zu untersuchen, in welchen Zeitschriften und in welchen Sprachen randomisierte Studien zur Interventionsbeurteilung publiziert werden. Insgesamt wurden 39 urologische Fachzeitschriften nach randomisierten Studien zum Prostatakarzinom mittels systematischer Literaturrecherche in Medline durchsucht. Über einen Zeitraum von 10 Jahren (2000–2010) konnten wir 471 Publikationen zu randomisierten Studien zum Prostatakarzinom identifizieren. Autoren mit deutscher Kontaktadresse haben sich aktiv an der Wissensgenerierung beteiligt und lagen bei der Veröffentlichung quantitativ im oberen Mittelfeld hinter den Autoren mit Kontaktadresse aus den USA, den Niederlanden, Italien, Großbritannien und Schweden. Deutschsprachige Journale (es wurden die im „Journal Citation Reports 2009“ indexierten Zeitschriften „Urologe“ und „Aktuelle Urologie“ durchsucht) spielen jedoch bei der Publikation randomisierter Studien zum Prostatakarzinom keine Rolle.
Das Publikationsverhalten deutschsprachiger Autoren, randomisierte Studien überwiegend in englischsprachigen Journalen zu publizieren, ist einerseits aufgrund der vermeintlich höheren Reputation internationaler Zeitschriften und dem Wunsch nach internationalem Wissensaustausch nachvollziehbar, kann aber andererseits ein Hindernis bei der Fortbildung der Urologen und somit eine Gefahr für die Patientenversorgung in den deutschsprachigen Ländern darstellen. Die aktuellen Forschungsergebnisse sind nur noch mit guten Englischkenntnissen und zeitlichem Mehraufwand beim Lesen erreichbar. Deutschsprachige Leitlinien, wie z. B. die „Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms“6, sind unverzichtbar, um den Wissenstransfer in die urologische Praxis zu verbessern, da sie dem klinisch tätigen Arzt den Schritt ersparen, Literatur selbst recherchieren und bewerten zu müssen. Nicht immer beantworten solche Evidenzsynthesen aber alle klinisch relevanten Fragestellungen und sollten stets im Kontext interpretiert werden. Nur eine umfassende und aktuelle Fortbildung kann es ermöglichen, die Evidenz aus wissenschaftlicher Forschung mit der ärztlichen Expertise des Urologen und den individuellen Patientenwünschen zu verknüpfen.

Aufbereitete Evidenz zur Verbesserung der Patientenversorgung: Im Jahr 2010 wurden circa 700.000 neue wissenschaftliche Arbeiten in der Datenbank Medline publiziert (www.nlm.nih.gov). Neben den sprachlichen Schwierigkeiten erschwert die enorme Informationsflut an Publikationen zu medizinischem Wissen dem klinisch tätigen Arzt in seinem Fachgebiet auf dem neuesten medizinischen Wissensstand zu bleiben und methodisch hochwertige von qualitativ schlechteren Publikationen zu unterscheiden. Verschiedene Initiativen haben das Ziel, das verfügbare medizinische Wissen durch Experten der evidenzbasierten Medizin aufzubereiten und in deutscher Sprache zur Verfügung zu stellen. Relevante Informationen sollen hierdurch schnell und zielgerichtet gefunden werden. Es folgt eine kleine Auswahl deutschsprachiger Angebote ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Der Fachbereich „Evidenzbasierte Medizin (EbM) in Klinik und Praxis“ des Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. hat auf seiner Internetsite die Rubrik „Die Fünf-Minuten-Evidenz“ etabliert (www.ebm-netzwerk.de). Die präsentierten Informationen sind speziell auf klinisch tätige Ärzte zugeschnitten und bieten Verknüpfungen zu wichtigen Datenbanken, Leitlinien, Organisationen und Patienteninformationen. Zudem werden Ergebnisse und Kurzzusammenfassungen von systematischen Übersichtsarbeiten mit methodisch hoher Qualität (so genannte Cochrane Reviews) aufgelistet („Cochrane für Praktiker mit wenig Zeit“). Deutschsprachige Suchportale wie z. B. die „Arztbibliothek“ (www.arztbibliothek. de) des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) und die „Gesundheitsinformation“ (www.gesundheitsinformation. de) des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) bieten einen einfachen Zugang zu evidenzbasierten Informationen, die auf deren Qualität geprüft wurden. Sie bieten einen schnellen Zugang zu Leitlinien, Praxishilfen, Patienteninformationen, Gesetzestexten und Kurzberichten von systematischen Übersichtsarbeiten.
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) ermöglichen den einfachen Zugang zu aktuellen deutschsprachigen Leitlinien und Patienteninformationen (www.awmf.org).
Regionale Fachzeitschriften haben bei der wissenschaftlichen Kommunikation unter Ärzten, der Information zu politischen Themen und der Fortbildung in der Urologie einen besonderen Stellenwert. Durch deutschsprachige Zusammenfassungen aktueller klinischer Studien und Diskussionsbeiträge können sie die Möglichkeit bieten, ein breites Spektrum an klinisch tätigen Urologen zu erreichen und würden damit den Wissenstransfer aus der empirischen Forschung in die klinische Praxis unterstützen.

Take Home Message

Eine moderne Gesundheitsversorgung hat zum Ziel, die gegenwärtig beste externe, wissenschaftliche Evidenz aus Studien für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten zu verwenden. Sprachliche Probleme, individuelle Lesegewohnheiten und zeitlicher Mehraufwand zum Recherchieren und Lesen englischsprachiger Literatur erschweren allerdings den Wissenstransfer aus der empirischen Forschung in die klinische Routine in den deutschsprachigen Ländern. Aktuelle Forschungsergebnisse sollten aus diesem Grund einfach und schnell und in der Landessprache erreichbar sein. Hierbei haben regionale Fachzeitschriften, deutschsprachige Suchportale und Anbieter evidenzbasierter Leitlinien in der Landessprache einen besonderen Stellenwert. Andererseits können eine Indexierung der Zeitschrift in internationalen Datenbanken und englischsprachige Kurzzusammenfassungen von klinischen Studien, die in deutschsprachigen Fachzeitschriften publiziert wurden, helfen, den internationalen Wissensaustausch zu verbessern.

Gefördert durch ein Ferdinand Eisenberger-Forschungsstipendium der DGU

1 Egger M, Zellweger-Zahner T, Schneider M et al., Lancet 1997; 350:326–329
2 Moher D, Fortin P, Jadad AR et al., Lancet 1996; 347:363–366
3 Gregoire G, Derderian F, Le Lorier J, J Clin Epidemiol 1995; 48:159–163
4 Blumle A, Antes G, Deutsche medizinische Wochenschrift 2008; 133:230–234
5 Haße W, Fischer R, Deutsches Ärzteblatt 2001; 98:A3100–3102
6 Deutsche Gesellschaft Für Urologie E. V. (Version 1.03 – März 2011), Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin ÄZQ www.aezq.de/mdb/downloads/dgurologie/prostatakarzinom-lang.pdf