Antikoagulation und Überleben an der Dialyse


Der Stellenwert einer oralen Antikoagulation ist bei Dialysepatienten nach venösen thromboembolischen Ereignissen oder zur Verhinderung von Embolien nach Implantation mechanischer Herzklappen wenig umstritten. Die bekannt erhöhte Blutungsneigung dieser Patienten ist aber seit Langem ein Grund, Kumarine zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern zurückhaltend einzusetzen. Im Folgenden wird versucht, die Nutzen-Risiko-Relation einer oralen Antikoagulation bei Dialysepatienten zu beleuchten.



Vorhofflimmern, Schlaganfälle und Mortalität: Vorhofflimmern tritt mit zunehmender Niereninsuffizienz häufiger auf und thromboembolische Ereignisse nehmen mit Abnahme der Nierenfunktion zu.
Bei Dialysepatienten ist das Risiko für das Auftreten von Vorhofflimmern signifikant höher als in der Allgemeinbevölkerung (Wizemann et al., 2010). In dieser und auch weiteren großen Kohortenstudien (Olesen et al., 2012) ist auch das Schlaganfallrisiko erhöht, wobei andere Autoren bei Dialysepatienten keine Häufung von Schlaganfällen sehen (Wiesholzer et al., 2001). Tritt allerdings ein Schlaganfall ein, ist die Mortalität bei Dialysepatienten sehr hoch (Seliger et al., 2003).

Risk-Scores und Dialysepatienten: Verkompliziert wird die Situation dadurch, dass die in der Allgemeinbevölkerung verwendeten Risiko-Scores für Dialysepatienten nur eingeschränkt anwendbar sind. Der CHADS2-VASc-Score beinhaltet die Hypertonie und auch die Herzinsuffizienz als Risikofaktoren, wobei beide Parameter bei Dialysepatienten das Schlaganfallrisiko nicht erhöhen. Die Wertigkeit des HAS-BLED-Score zur Einschätzung des Blutungsrisikos ist dadurch limitiert, dass die Hypertonie prinzipiell bei sehr vielen Patienten auftritt und die eingeschränkte Nierenfunktion definitionsgemäß bei allen Patienten besteht.

Orale Antikoagulation – die Theorie: Eine orale Antikoagulation sollte aufgrund des erhöhten Thromboembolie-Risikos und der damit verbundenen hohen Mortalität bei Dialysepatienten einen besonders großen Nutzen bringen. Allerdings haben diese Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein gesteigertes ­Blutungsrisiko. Zudem wird durch eine Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten die γ-Carbo­xy­lierung von Matrix-Gla-Protein inhibiert, was theoretisch zu einer beschleunigten Gefäßverkalkung führen kann. Und zu guter Letzt muss auf das unter Vitamin-K-Antagonisten gesteigerte Kalziphylaxie-Risiko hingewiesen werden.

Orale Antikoagulation – die Datenlage: So widersprüchlich die Theorie zum Nutzen einer oralen Antikoagulation bei Dialysepatienten ist, so widersprüchlich sind auch die Daten aus klinischen, meist leider nur retrospektiven Beobachtungen.
Eine retrospektive Kohortenstudie (Chan et al., 2009) zeigte unter Warfarin-Therapie eine erhöhte Mortalität. Allerdings konnte bei 69,6 % der Patienten in der Warfarin-Gruppe keine eindeutige Indikation für eine orale Antikoagulation genannt werden. Die Autoren mutmaßten, dass die meisten dieser Patienten zur Offenhaltung von Dialyse-Shunts behandelt wurden. Dass eine nicht indizierte orale Antikoagulation keine Vorteile bringt und nur Risiken birgt, liegt auf der Hand. Zusätzlich lag bei 30 % der mit Warfarin behandelten Patienten kein einziger INR-Wert vor. Mit Sicherheit ist aber ein unzureichendes Therapiemonitoring ein Risikofaktor für das Auftreten von Komplikationen. Eine weitere retrospektive Registerstudie mit Dialysepatienten (Winkelmayer et al., 2011) fand unter Warfarin keine Reduktion von ischämischen Insulten bei Vorhofflimmern, allerdings einen Anstieg von Hirnblutungen. Zu dieser Studie ist anzumerken, dass die Daten lediglich aus Verschreibungen von Warfarin bei Dialysepatienten generiert wurden, ohne Kenntnis von Komedikation, Begleiterkrankungen oder gar INR-Werten. Und überraschenderweise fand sich trotz der vermehrten Hirnblutungen keine erhöhte Mortalität.

Orale Antikoagulation und Mortalität – INVOR-Kohorte: In die INVOR-Studie (Study of Incident Dialysis Patients in Vorarlberg) wurden 235 inzidente Dialysepatienten eingeschlossen und prospektiv verfolgt. In der über 7-jährigen Beobachtungszeit verstarben 82 Patienten (34,9 %), wobei die Mortalität bei Patienten mit Vorhofflimmern signifikant höher war. Bei Patienten im Sinusrhythmus traten gerechnet auf 100 Patientenjahre 1,35 Schlaganfälle, bei Patienten mit Vorhofflimmern 2,83 Schlaganfälle auf, wobei sich unter oraler Antikoagulation kein Schlaganfall ereignete.
Um bei der Berechnung der Mortalität ein Confounding by Indication möglichst zu vermeiden, teilten wir die Kohorte in 4 Gruppen auf: In eine Referenzgruppe ohne Antikoagulation und ohne Vorhofflimmern (die „Gesündesten“), eine Gruppe mit Vorhofflimmern und Antikoagulation, eine Gruppe ohne Vorhofflimmern, aber einer alternativen Indikation für eine Antikoagulation (z. B. VTE, Klappenersatz) und in die Gruppe der „Kränksten“ mit Vorhofflimmern, aber einer Kontraindikation für eine orale Antikoagulation.
Wie erwartet war das Überleben der Gruppe mit Vorhofflimmern, aber einer Kontraindikation für eine Antikoagulation signifikant schlechter als das der Referenzgruppe. Das Überleben beider Patientengruppen unter oraler Antikoagulation war nicht signifikant unterschiedlich zur Referenzgruppe, obwohl diese Patienten eine Erkrankung mit erhöhter Mortalität aufwiesen und eine potenziell risikoreiche Therapie erhielten (Abb.).

 

 

Unerwartetes Ergebnis: Wie erklärten wir uns dieses zu den oben genannten Studien divergierende Ergebnis? 65 % unserer Patienten wurden in der Indikation Vorhofflimmern antikoaguliert, 29 % hatten eine alternative Indikation und nur 6 % wurden wegen rezidivierender Shuntthrombosen („falsche Indikation“ aus der Sicht des Jahres 2012) antikoaguliert. Somit war durch die gesicherte Indikation der potenzielle Nutzen der Therapie für unsere Patienten hoch. Zudem wurde ein sehr engmaschiges Therapiemonitoring betrieben, mit wöchentlichen INR-Messungen und anschließender Dosisanpassung, wodurch das Risiko für therapieassoziierte Nebenwirkungen reduziert wurde.
Die theoretische Gefahr beschleunigter Gefäßverkalkung konnte in unserer Kohorte nicht bestätigt werden, da sowohl die Gesamt- und insbesondere die kardiovaskuläre Mortalität nicht signifikant unterschiedlich zur Gruppe ohne Antikoagulation war.
Unter suffizienter Antikoagulation trat nur ein klinisch bedeutsames Blutungsereignis – eine Shuntnachblutung – und keine Hirnblutung auf. Wie auch andere Autoren beobachteten wir aber gehäuft Blutungsereig­nisse unter Thrombozytenaggregationshemmern.