Hormonelle Grundlagen des Übergewichts

Übergewicht kann ein klinisches Merkmal endokriner Erkrankungen sein. Umgekehrt kann Adipositas mit (subklinischen) Veränderungen von Hormonachsen einhergehen. Mittlerweile ist etabliert, dass das für lange Zeit als “Speichergewebe” angesehene Fettgewebe selbst eigentlich ein endokrines Organ ist, das Hormone und Zytokine freisetzt.

 

 Endokrine Erkrankungen als Ursache von Übergewicht und Adipositas

Schilddrüsenunterfunktion bewirkt einen geringeren Grundumsatz
und damit Kalorienverbrauch. Als Mechanismen werden direkte und indirekte
Effekte der Schilddrüsenhormone auf den Energiestoffwechsel auf Ebene der Mitochondrien sowie ein geringeres Ansprechen auf Mediatoren des sympathischen Nervensystems angenommen. Hypothyreote Patienten wiegen im Durschnitt etwa 15-30% mehr als euthyreote Personen und nehmen unter Schilddrüsenhormon Substitutionstherapie zumeist wieder ab (Krotkiewski M., Eur J Pharmacol 2002).

Cushing-Syndrom:
Erhöhte Glukokortikoidspiegel führen zu einer ausgeprägten Insulinresistenz, weshalb Cushing-Patienten zu einem sehr hohen Prozentsatz ein metabolisches Syndrom mit stammbetonter Adipositas und/oder gestörtem Glukosestoffwechsel aufweisen (Chanson P., Salenave S., Neuroendocrinology 2010).

Wachstumshormon-(GH)-Defizienz:
Erwachsene mit GH-Defizienz haben einen – vorwiegend abdominell – erhöhten Körperfettanteil, wobei eine adäquate GH-Substitutionstherapie wieder zu einer Reduktion und Umverteilung des Körperfetts führt. Der Versuch, Adipositas in klinischen Studien mit GH zu behandeln, war allerdings nicht überzeugend: Die meisten Studien konnten zwar
eine Abnahme des viszeralen Fettgewebes, jedoch keine wesentliche Körpergewichtsabnahme zeigen (Rasmussen M. H. et al., Clin Endocrinol 2010).

Akromegalie:
GH-Überschuss, wie z. B. bei Akromegalie, steigert die Insulinresistenz und damit die Gewichtszunahme (Luger A. et al., Exp Clin Endocrinol 1990): Der Body-Mass-Index (BMI) ist bei Akromegalie-Patienten gegenüber der Normalbevölkerung selbst dann erhöht, wenn die Erkrankung unter medikamentöser Kontrolle ist (Dimopoulou C., et al., Pituitary 2010).

Einfluss der Adipositas auf den Hormonhaushalt

Umgekehrt ist die Prävalenz endokriner Erkrankungen bei morbid Adipösen eher gering, wie ein endokrinologisches Screening von Patienten, die für eine bariatrische Operation evaluiert wurden, zeigen konnte: Die Prävalenz von Cushing-Syndrom lag unter 0,6%, ca. 10% hatten eine (bereits behandelte) Hypothyreose, 8,2% eine subklinische Hypothyreose. Die Prävalenz von Diabetes und gestörter Glukosetoleranz war hoch (24% und 23%; Jankovic D. et al., Obes Surg 2012).

Schilddrüsenhormone:
Häufig findet man bei Adipösen eine moderate Erhöhung des Thyreotropins (TSH), oft assoziiert mit einer Erhöhung des Trijodthyronins (T3). Diese Veränderungen dürften eher eine Folge denn eine Ursache der Adipositas sein, da Gewichtsreduktion (etwa durch bariatrische Operation) meist wieder zu einer Normalisierung dieser Hormonachse führt. Bei raschem Gewichtsverlust könnte das Absinken von TSH und T3 mit dem damit verbundenen reduzierten Grundumsatz dazu beitragen, das Aufrechterhalten des niedrigeren Körpergewichts zu erschweren (Reinher T., Mol Cell Endocrinol 2010).

Wachstumshormone: Adipositas (insbesondere abdominell betonte) führt zu einer sekundären Reduktion der GH-Ausschüttung und zu (sub)-normalen Konzentrationen von Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1). Es wird vermutet, dass die Insulinresistenz-bedingte Hyperinsulinämie und das in Relation zum Körpergewicht hohe IGF-1 dazu beitragen könnten. Die GH-IGF-1-Achse wird nach Gewichtsverlust meist wieder normalisiert, was auf einen erworbenen, reversiblen Defekt hindeutet (Rasmussen M. H. et al., Clin Endocrinol 2010; Iranmansh et al., J Clin Endocrinol Metab 1991).

Glukokortikoide:
Obwohl die Plasma-Kortisolspiegel bei Adipösen zumeist normal sind, gibt es Veränderungen im Glukokortikoidstoffwechsel: Insbesondere viszerale Adipositas ist mit erhöhten Kortisol-Gesamtproduktionsraten, erhöhter Glukokortikoidausscheidung im Harn und -abbau in der Leber assoziiert. Die bei Adipositas gesteigerte intrazelluläre Reaktivierung von Kortisol, die von der vorwiegend im Fettgewebe und in der Leber exprimierten 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 1 katalysiert wird, dürfte die Adipozytendifferenzierung und Fettakkumulation ungünstig beeinflussen. Daher wird die pharmakologische Hemmung dieses Enzymes (was im Tierexperiment bereits gelang) als möglicher zukünftiger Ansatz in der Adipositastherapie beforscht (Morton N. M., Mol Cell Endocrinol 2010).

Das Fettgewebe als endokrines Organ

Das Fettgewebe selbst und die darin ansässigen Makrophagen sezernieren eine Reihe
endokrin bzw. inflammatorisch wirksamer Proteine, so genannte “Adipokine”:

Leptin erfüllt eine Art Feedbackfunktion des Fettgewebes, steigert den Energieverbrauch (über Aktivierung der AMP-aktivierten Proteinkinase), ist appetithemmend und induziert Fettabbau. Leptin-Plasmakonzentrationen sind bei Adipositas zwar deutlich erhöht, allerdings liegt eine ausgeprägte Leptinresistenz vor, die auch nicht durch zusätzliche Leptinverabreichung hinreichend durchbrochen werden konnte: Der Appetit war zwar reduziert, aber der Energieverbrauch blieb unverändert (Westerterp-Platenga M. S. et al., Am J Clin Nutr 2001).

Adiponectin steigert Insulinsensitivität, Fettoxidation und Energieverbrauch, hemmt die hepatische Glukoseproduktion und hat antiatherogene und antiinflammatorische Eigenschaften. Adiponectin-Plasmaspiegel sind bei Adipositas reduziert (Matsuzawa Y., Curr Pharm Des 2010).
Erhöhte Fettmasse führt zu einer so genannten “subklinischen Inflammation” mit erhöhten
Plasmakonzentrationen inflammatorischer Marker, wie z. B. Tumornekrosefaktor alpha, Monocyte Chemoattractant Protein 1, Interleukin-6 und Plasminogenaktivator-Inhibitor
1, die von im Fettgewebe angesiedelten Makrophagen, Präadipozyten, Endothelzellen und Leukozyten vermehrt ausgeschüttet werden (Galic S. et al., Mol Cell Endocrinol 2010). Die bei Adipositas veränderte Ausschüttung von Adipokinen und Entzündungsmediatoren dürfte wesentlich zu erhöhter Insulinresistenz und zum kardiovaskulären Risiko beitragen.

Gastrointestinale Regulation von Appetit und Körpergewicht

Der Gastrointestinaltrakt produziert etliche Hormone mit einer wichtigen Signal- und
Feedbackfunktion für die Regulation von Körpergewicht und Energieumsatz. Die
Hormone Cholezystokinin, Peptid YY, Oxyntomodulin und Glukagon-like Peptide-1
(GLP-1), die nach Nahrungsaufnahme ausgeschüttet werden, üben ihre anorexigene
(appetithemmende) Wirkung über afferente Nervenbahnen oder direkt am Nucleus
arcuatus des Hypothalamus (ARC) aus, wodurch die Ausschüttung des appetitsteigernden Neuropeptid Y (NPY) und Agouti-related Peptide (AgRP) gehemmt und am Nucleus paraventricularis Sattheit signalisiert wird. Beim Fasten werden orexigene (appetitsteigernde) Hormone wie Ghrelin, Orexin A und B vermehrt freigesetzt. Ghrelin aktiviert über Rezeptoren im ARC die GH-Freisetzung und fördert die Ausschüttung von NPY und AgRP.
Die Balance zwischen orexigenen und anorexigenen (neuro-)endokrinen Stimuli ist bei Adipositas nachhaltig gestört (Konturek S.J. et al., J Physiol Pharmacol 2004; Suzuki K. et al., J Obes 2011). Bei raschem Gewichtsverlust nach bariatrischer Operation kommt es zu einem Anstieg des orexigenen Ghrelins, zu einem Abfall der anorexigenen Hormone PYY, Leptin und Amylin und zu einem subjektiv gesteigerten Appetit – diese Veränderungen blieben auch 1 Jahr nach der Operation bestehen, was möglicherweise eine neuerliche Gewichtszunahme begünstigen könnte (Sumithran P. et al., New Engl J Med 2011). GLP-1 Analoga, die bereits für Typ-2-Diabetes-Therapie zugelassen sind, Oxyntomodulin und PYY werden derzeit in klinischen Studien als mögliche Adipositastherapie getestet.

FACT-BOX

• Übergewicht kann ein klinisches Merkmal endokriner Erkrankungen (Schilddrüsenunterfunktion, Cushing-Syndrom, GH-Defizienz oder -Überschuss) sein.

• Bei Adipositas sind die Ausschüttung von Adipokinen und Entzündungsmediatoren durch das Fettgewebe und die Balance der appetitregulierenden Hormone verändert.

• Die “gut-brain-axis” könnte ein möglicher Ansatzpunkt für die medikamentöse Adipositastherapie werden.