FALLBERICHT Leriche-Syndrom als Differenzialdiagnose „wandernder“ Schmerzen

Fallbericht

Eine 67-jährige Patientin, geboren im ehemaligen Jugoslawien, wird vom niedergelassenen Arzt wegen Hüftschmerzen, welche nach einer Gehdauer von ca. 10 min. auftreten und bei einer Gehpause wieder verschwinden, an die angiologische Ambulanz überwiesen. An Vorerkrankungen sind eine arterielle Hypertonie, eine COPD und ein langjähriger Tabakkonsum bekannt. Der Doppler-Index beträgt links 0,78 – rechts nur 0,54. Der CW-Doppler zeigt in den Femoralarterien beidseitig ein normales Flussmuster, aber ein pathologisches Flussmuster der poplitealen Gefäße. Eine beidseitige PAVK vom Oberschenkeltyp wird diagnostiziert. Da bei der klinischen Untersuchung Unterschenkelödeme auffallen und die Patientin über Belastungsdyspnoe klagt, wird zur weiteren Diagnostik und Therapie eine stationäre Aufnahme empfohlen, was sie ablehnt.
10 Tage später wird die Patientin wegen zunehmender Beinödeme, Belastungsdyspnoe und einer Gewichtszunahme von 10 kg innerhalb von einem Monat erneut vorstellig. Ferner berichtet die Patientin über brennende Beine sowie Hüft- und Kreuzschmerzen nach einer 10-minütigen Gehdauer. Die Patientin zeigt, abgesehen von Beinödemen, livid verfärbten Zehen und nicht tastbaren Fußpulsen, einen altersentsprechenden Aufnahmestatus. Die Vormedikation umfasst einen Betablocker, ASS, Furosemid, Spironolacton, Theophyllin, inhalative Bronchospasmolytika sowie Diclofenac. Auffallend an den Laborwerten ist eine Polyglobulie (Erythrozyten: 5,8/pl; Hk: 50,3 %). Das Lungenröntgen zeigt eine mäßige pulmonale Stauung. Echokardiografisch fallen ein erweiterter rechter Ventrikel und eine mäßige Trikuspidalinsuffizienz auf. Unter der Arbeitshypothese eines dekompensierten Cor pulmonale wird die Diclofenac-Medikation beendet und eine intravenöse Furosemid-Therapie begonnen. Mit dieser Therapie erreicht die Patientin nach 10 Tagen wieder ihr Normalgewicht. Da am 8. Behandlungstag eine Zunahme der Polyglobulie festgestellt wird (Erythrozyten: 6,8/pl; Hk: 57,6 %), wird ein Aderlass von 300 ml Blut vorgenommen. Die Patientin klagt immer wieder über diffuse abdominelle Beschwerden: teils epigastrisch, teils im Unterbauch. Da sich sonografisch eine Schottergallenblase findet und die Entzündungsparameter ansteigen, werden die Schmerzen als Cholezystitis interpretiert und es wird eine antibiotische Behandlung begonnen. Die Beschwerden sistieren und die Patientin verlässt rekompensiert am 16. Behandlungstag die Abteilung.
18 Tage nach der Entlassung wird die Patientin mit der Rettung in die Notfallambulanz gebracht. Neuerlicher Aufnahmegrund ist jetzt eine plötzlich einsetzende Taubheit und Paraparese beider Beine und krampfartige Schmerzen beider Hüften mit Schmerzausstrahlung in beide Oberschenkel. Noch in der Notfallambulanz wird ein Nativ-CT des Abdomens vorgenommen, welches abgesehen von Emphysembullae der basalen Lungenschichten und den bekannten Gallenblasenkonkrementen keinerlei Abnormitäten aufweist. Die klinische Untersuchung bei Aufnahme zeigt einen Sensibilitätsverlust und eine Parese beider unterer Extremitäten, kalte, livid verfärbte Unterschenkel beidseits, jedoch tastbare Fuß- und Leistenpulse. Laborchemisch fällt lediglich die bereits bekannte Polyglobulie auf. Bei der chirurgischen Begutachtung wird eine akute periphere Ischämie ausgeschlossen und eine neurologische Begutachtung und eine MR-Angiografie empfohlen. Die neurologische Konsiliaruntersuchung stellt eine rechtsbetonte Paraparese mit abgeschwächtem Patellarsehnenreflex rechts und eine distal symmetrische Polyneuropathie der unteren Extremitäten fest. Ein MRT der Lendenwirbelsäule wird als weiterer diagnos – tischer Schritt empfohlen. Differenzialdiagnostisch kommen für den Neurologen eine Vertebrostenose oder eine vaskuläre Myelopathie in Frage.
Während des gesamten Aufenthalts benötigt die Patientin große Mengen an Opioidanalgetika, nichtsdestotrotz sind die Schmerzen kaum beherrschbar. Die MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule zeigt einen Diskusprolaps im Segment L5/S1, der sowohl rechts lateral als auch links lateral 1 cm nach kranial reicht. Der nun die Patientin als nächstes begutachtende Neurochirurg stellt die Indikation zur mikrochirurgischen Exstirpation des prolabierten Diskus wegen der Peroneusplegie rechts. Der Eingriff erfolgt komplikationslos. Postoperativ leidet die Patientin weiterhin an der Paraparese und an Schmerzen der unteren Extremitäten. Jetzt kommt noch ein diffuser Bauchschmerz hinzu. Am 3. postoperativen Tag produziert die Patientin nur wenig Harn, und im Labor steigt das Serumkreatinin von Normalwerten auf 3,2 mg/dl an. Am 4. postoperativen Tag wird die Patientin, welche über therapierefraktäre Schmerzen klagt, anurisch. Die Schmerzen sind diffus im gesamten Abdomen, die unteren Extremitäten sind marmoriert und die Leistenpulse fehlen beiderseitig. Das Serumkreatinin beträgt 3,9 mg/dl (bis 1,1 mg/dl), die CPK 4.050 U/l (bis 170 U/l), die LDH 2.020 U/l (bis 247 U/l) und das Laktat 2,8 mmol/l (bis 2,2 mmol/l).
Eine CT-Angiografie der Aorta zeigte einen vollständigen thrombotischen Verschluss der Aorta abdominalis distal des Abgangs der Arteria mesenterica superior, thrombotische Einlagerungen in der Arteria mesenterica superior und einen Perfusionsausfall beider Nieren. Es werden mehrere gefäßchirurgische Abteilungen kontaktiert, von denen aber die Situation mit folgenden Argumenten als infaust eingestuft wird: Ausgedehntheit der Thrombose, Reperfusion würde das betroffene Gewebe nicht mehr retten, Mediatorenausschwemmung nach Reperfusion wäre nicht beherrschbar. Nach Intensivierung der Schmerztherapie verstirbt die Patientin wenige Stunden später (> Abb. 1).

 

Lehren aus dem Fall

Der Ablauf dieses Falles zeigt, wie schwierig und wichtig es ist, bei polymorbiden Patienten die Übersicht zu behalten. Retrospektiv können wir folgende Probleme bzw. Schwachstellen im Ablauf feststellen:
1. Fehlende Kommunikation zwischen angiologischer Ambulanz und bettenführender Station. Ursprünglich hat die Patientin die angiologische Ambulanz wegen Beinschmerzen aufgesucht, es wurde eine arterielle Durchblutungsstörung festgestellt, die aber im nachfolgenden Aufenthalt nicht mehr bedacht wurde. Man hat sich auf die Behandlung der Rechtsherzinsuffizienz und COPD konzentriert.
2. Differenzialdiagnostik des Bauchschmerzes: die Bauchschmerzen wurden als Chole zystitis interpretiert und behandelt und andere Differenzialdiagnosen nicht in Erwägung gezogen.
3. Polyglobulie: Die Polyglobulie wurde nicht als thrombosebegünstigend interpretiert.
4. Differenzialdiagnose des Beinschmerzes: Bei der neuerlichen Aufnahme wurde schon bei der Erstbegutachtung an ein vaskuläres Ereignis gedacht, diesem Verdacht wurde aber im weiteren Verlauf nicht konsequent nachgegangen. Auch der Neurologe dachte an ein vaskuläres Ereignis, dieser Differenzialdiagnose wurde vor allem in der postoperativen Periode, nachdem die Schmerzen in den Beinen nicht besser wurden, nicht weiter nachgegangen. Eine retrospektive Begutachtung der MRI-Bilder zeigt, dass auf ihnen nicht nur der Diskusprolaps, sondern auch die Aortenthrombose bereits sichtbar waren (> Abb. 2).
5. Erschwerend kam bei diesem Fall dazu, dass sowohl ein Diskusprolaps als auch ein Aortenthrombus vorlagen und Ersteres eine relativ häufige, Letzteres eine seltene Diagnose ist. Die Sprachbarriere infolge der serbokroatischen Muttersprache und kulturelle Unterschiede bei der Schmerzäußerung haben die Diagnose zusätzlich erschwert. Eine Angiografie zu einem früheren Zeitpunkt hätte vermutlich die Diagnose gestellt und eine adäquate Behandlung ermöglicht.

 

ZUSAMMENFASSEND sollten bei wandernden Schmerzen häufiger Erkrankungen der Aorta, wie zum Beispiel Dissektion oder Thrombose, in Erwägung gezogen werden. Weiters sollten vaskuläre Ursachen von Beinschmerzen in Betracht gezogen werden und bei Unsicherheiten, ob Pulse tastbar sind oder nicht, unverzüglich mittels Doppler eine Untersuchung vorgenommen werden. Trotz seiner Seltenheit sollte bei entsprechender Symptomatik an ein Leriche-Syndrom gedacht werden.