10 Punkte für die Zukunft der Allgemeinmedizin – Punkt 4: Honorierung der Allgemeinmedizin

 

Der Präsident der Wiener Ärztekammer, Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, schildert die Situation in Wien und meint: „Eines der Probleme ist sicher, dass die Honorierung der Allgemeinmedizin im Vergleich zum fachärztlichen Bereich in Wien extrem nachhängt: Allgemeinmediziner bekommen im durchschnittlichen Satz pro Quartal und Patient 45 Euro brutto; bei durchschnittlich drei Besuchen pro Quartal sind das 15 Euro brutto pro Konsultation – das kann nicht ausreichen, um auch genug Zuwendung geben zu können. Auch ein Hausbesuch mit 42 Euro brutto ist in einer lächerlichen Größenordnung, obwohl wir hier in den letzten Jahren schon massive Erhöhungen erreichen konnten. Ein Installateur setzt sich für diesen Betrag nicht einmal ins Auto. Die Fachärzte hingegen liegen in einer Größenordnung von 70 Euro. Es hat zwar in den letzten Jahren überdurchschnittliche Steigerungen gegeben, weit über Inflation, trotzdem ist dieser Unterschied geblieben, der nicht vertretbar ist. Hier müssen Anpassungen stattfinden, vor allem auch, weil die Primärversorgung ganz essenziell ist und auch wirtschaftlich die günstigste Versorgungsform darstellt. Wenn die Primärversorgung ausfällt, dann geht der Patient sofort zum Facharzt oder in das Spital, und das macht wenig Sinn und ist volkswirtschaftlich teurer. Abgesehen davon ist der Hausarzt der niederschwelligste Arzt, weit vor dem Spitalsarzt und dem Facharzt. Es ist mir unverständlich, dass man den klassischen Hausarzt hier in Zukunft seitens der Krankenkasse und der Politik in dieser Form nicht mehr haben oder nicht mehr entsprechend würdigen möchte. Und das ist auch ein Grund, warum viele nicht diese Sparte auswählen, weil wer will schon eine Profession ausüben, wo die Wertschätzung nicht entsprechend gegeben ist?“

 

Punkt-4

 

ÖGAM-Präsident Dr. Christoph Dachs kann sich einen Neuaufbau des Honorierungssystems für die Allgemeinmedizin vorstellen, „vor allem hinsichtlich einer weitgehenden Pauschalierung mit Anreizsystemen bei einer Leistungsverpflichtung entsprechend den Versorgungsaufträgen, Zuschlägen für die Betreuung chronisch kranker Patienten, Teilnahme an DMP etc. Genau diese Zuwendungsmedizin, die wir eigentlich brauchen, wird nicht in einem Einzelleistungssystem abgebildet, sondern in größeren Einheiten. Wobei man natürlich nicht nur ein global-pauschales System machen kann, es braucht auch Einzelhonorierungen, zum Beispiel für Visiten, Gesundenuntersuchungen etc. Es gilt zudem Kostenwahrheit bei aufwändigeren Verrichtungen anzustreben, z.B. in der kleinen Chirurgie: Zeitaufwand inklusive Zeit für Reinigung und Sterilisation, Kosten der Einmalmaterialien und Kosten des Autoklaven. Und die umfassende Betreuung multimorbider Patienten, demenzieller Entwicklungen und von Pflegefällen muss entsprechend abgebildet sein.“
Klar ist für Dachs, dass alle Ärzte, oder zumindest ein Großteil, den Gesamtvertrag bevorzugen, weil „uns der Gesamtvertrag vor einer Filetierung schützt“.

Auch Szekeres befürwortet einen Gesamtvertrag: „Ich glaube nicht, dass sich Kolleginnen und Kollegen finden, die bereit sind, unter den Vorgaben von jederzeit kündbaren Einzelverträgen Kassenleistungen anzubieten. Der Trend geht aber insgesamt in Richtung Privatmedizin – ich glaube, auch beabsichtigt, weil sowohl bei der Sozialversicherung als auch bei den Ländern aufgrund der Beitragssituation durch die zunehmenden Arbeitslosen und Pensionisten gespart werden muss.“ Szekeres ist verwundert, dass „die Politik der zunehmenden Privatisierung der Medizin tatenlos zusieht. Die Zahl der Wahlärzte steigt, die Zahl der Besuche bei Privatärzten steigt. Sie machen bereits 25 Prozent der Arztbesuche im niedergelassenen Bereich in Wien aus, in den Bundesländern sind es 30 oder mehr Prozent“.
Für die Ärzteschaft sei ein privates System wahrscheinlich von finanziellem Vorteil, aber „trotzdem ist es nicht der Wunsch der meisten Kolleginnen und Kollegen, in einem privaten Gesundheitssystem zu arbeiten. Ich führe das auf die hohen ethischen Standards der Mehrheit der Kollegenschaft und auf das soziale Engagement vieler Kolleginnen und Kollegen zurück“, so Szekeres.
Allgemeinmediziner haben ein geringeres Einkommen als die meisten Fachärzte und das bestehende Honorierungssystem bildet nicht die Tätigkeit des Allgemeinmediziners, sprich Zuwendungsmedizin, ab. Um das System für junge Kollegen attraktiv zu machen braucht es andere Honorierungssysteme. Welche Überlegungen gibt es im Hauptverband dazu?

Mag. Bernhard Wurzer, Verbandsmanager im Hauptverband, erläutert die Vorstellungen der Sozialversicherungen: „Die Modelle des Hauptverbandes gehen in Richtung eines Honorierungssystems, in dem eine umfassende Betreuung der Patienten bezahlt wird. Und wo auch die Rolle des Hausarztes als Gesundheitskoordinator über den gesamten Gesundheits- oder Krankheitszustand eines chronisch Kranken honoriert wird. Auch das Thema Folgekosten muss berücksichtigt werden – zum Beispiel wie viel kann der Hausarzt in der Versorgung selbst machen, und ab wann ist erst eine fachärztliche Versorgung notwendig – denkbar sind Incentives, damit in der Hausarztpraxis wieder mehr selbst gemacht wird, bevor es zu einer Überweisung an einen Facharzt kommt. Wir sehen hier ein großes Stadt-Land-Gefälle, das sich aber auch aus der geografischen Situation am Land ergibt, wo die Facharztdichte nicht so hoch ist. Ich denke, wir müssen den Allgemeinmediziner auch in der Stadt zu einem echten Allrounder machen.“

Honorierungsmodell mit drei Elementen

Wurzer: „Die Honorierung der Zukunft im allgemeinmedizinischen Bereich könnte so gestaltet sein, dass es einen Sockel gibt, der die Basiskosten für die Zurverfügungstellung der Dienstleistung in einem gewissen Zeitraum von so und so viel Uhr bis so und so viel Uhr abdeckt. Darüber hinaus könnte es aus unserer Sicht zwei Teile einer Honorierung geben, die den Aufwand der Betreuung berücksichtigen, einerseits für die chronisch Kranken, vor allem Diabetes, KHK- oder COPD-Patienten, die natürlich eine andere Intensität der Betreuung benötigen, andererseits für jene Patienten, die nur ab und zu einen Arzt brauchen. Zusätzlich gibt es noch das Thema Kinder und Familien, den ‚Family Doctor‘, auch das muss abgebildet werden. Daneben gibt es den Bereich der Prävention und Vorsorge, und als Dach darüber wäre unsere Vorstellung, dass man das Thema ‚Pay for Performance‘ implementiert. Gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern werden für die Versorgung bestimmte Ziele festlegt, und wenn diese Ziele gemeinsam erreicht werden, oder wenn wir einen Schwerpunkt in eine bestimmte Richtung setzen, dann gibt es dafür Incentives. Die Basisfinanzierung könnte man unterschiedlich hoch gestalten, zum Beispiel wenn man einen Arzt in eine abgelegene Region bringen möchte – dann könnte man eine höhere Sockelfinanzierung anbieten. Man kann aber auch über etwas anderes nachdenken. Der Allgemeinmediziner der Zukunft könnte nicht nur jemand sein, der in der Ordination sitzt bis die Patienten kommen, sondern der aktiv nach außen auftritt und bewusst für Vorsorgeuntersuchung Werbung macht. Also aktiv Gesundheitsvorsorge anbietet und nicht nur Reparaturmedizin betreibt. Da könnte man sich überlegen, ob man bei einer Honorierung berücksichtigt, wenn es einem Arzt gelingt, dass er zehn Prozent mehr Vorsorgeuntersuchungen im Jahr macht als das Jahr davor.“

Sozialversicherung und Ärzteschaft: Wenn Welten aufeinanderprallen

Wurzer: „Medizin ist etwas hoch Individuelles. Der Patient A mit demselben Symptom wie der Patient B ist ein völlig anderer Typ. Wir müssen daher als Sozialversicherung ein Honorierungssystem und ein Regelwerk aufbauen, das sozusagen eine generelle Norm ist. Und das macht das Spannungsfeld aus und ist auch, glaube ich, einer der Gründe für die vielen Konflikte zwischen Ärzteschaft und Sozialversicherung – weil hier Welten aufeinander prallen. Wenn man dann mit Regelungen und Ausnahmen beginnt, werden die Regeln irgendwann so kompliziert, dass sie nicht mehr nachvollzogen werden können. Ich kann mir daher Regelungen um einen Durchschnitt herum vorstellen – wie eine Art Bandbreite, über die hinaus es ‚Ausreißer‘ gibt. Das könnte ein Modell sein, das realisierbar wäre.“