PHC: Heilsbringer für Arzt und Patient?

Diabetiker stellen mit rund 600.000 Betroffenen in Österreich eine der größten Gruppen chronisch kranker Patienten dar. Ihre Betreuungssituation ist derzeit nicht ideal. Moderatorin Prim. Dr. Claudia Francesconi, Ärztliche Leiterin der Sonderkrankenanstalt-RZ Alland: „In Fachambulanzen, beim Facharzt oder beim niedergelassener Allgemeinmediziner fehlt es an Ressourcen zur Betreuung chronisch Kranker und die Versorgung von Typ-2-Diabetikern ist durchaus verbesserungswürdig. Überlastung im Spitalssektor, keine Refundierung im niedergelassenen Bereich außerhalb des Disease-Management-Programm ‚Therapie aktiv‘ und mit 22% nur vergleichsweise wenige engagierte Ärzte die hier mitmachen, lassen die vorhandenen Behandlungspfade eher als Sackgassen enden.“

Hohe Spitalslastigkeit

Je früher eine adäquate Betreuung einsetzen würde, umso besser – sprich kostengünstiger und Lebensqualität verlängernder – wäre das Ergebnis für Betroffene und für das System. Therapien erfordern hohe Compliance, an der es ohnehin über weite Strecken mangelt. Lasche Patienten treffen dann auch noch oft auf Ärzte, die wenig Erfahrung und aktuelles Fachwissen zum Thema einbringen. Die fehlende multiprofessionelle Infrastruktur verschärft die Situation, denn gerade bei Diabetes wäre die Zusammenarbeit mit Diätologen, Bewegungsexperten, Physiotherapeuten oder Wundmanagern dringend erforderlich. „Die Schwachstelle in der Versorgung chronisch Kranker und allen voran der Typ-2-Diabetiker ist die starke Spitalslastigkeit. Viele Patienten würden gar nicht erst in den Ambulanzen landen, wenn sie schon rechtzeitig im niedergelassenen Bereich adäquat betreut gewesen wären. Derzeit ist der niedergelassene Bereich über weite Strecken aber nicht versorgungswirksam“, bestätigt die Wiener Gesundheits- und Sozialstadträtin Mag. Sonja Wehsely.

Öffnungszeiten reichen nicht

Einen attraktiven Ausweg aus der Misere scheinen nun die Primärversorgungszentren (PHC) in Aussicht zu stellen. „Der beste Arzt ist der, der da ist. Daher sehe ich in den PHC eine große Chance, den Spitalsbereich zu entlasten und gleichzeitig eine standardisierte und flächendecke Versorgung für chronisch Kranke sicherzustellen.“ Längere Öffnungszeiten allein sind für die Gesundheitspolitikerin noch kein Garant dafür, dass auch eine hohe Betreuungsqualität gegeben ist. PHC würden mit ihren multiprofessionellen Teams genau die Lücken in der derzeitigen Diabetesversorgung ausfüllen können. „Patienten müssen sich darauf verlassen können, in einem PHC eine gebündelte Kompetenz vorzufinden. Genau für diese Rahmenbedingungen brauchen wir ein PHC Gesetz. Das bringt auch Rechtssicherheit für die Ärzteschaft“, so Wehsely.
MR Dr. Magdalena Arrouas, Leiterin der Sektion 3 im Gesundheitsministerium, ist überzeugt, dass PHC durchaus auch positiven Einfluss auf das Patientenempowerment haben werden. „Wir brauchen gesundheitskompetente Patienten, Österreich hat hier im europäischen Vergleich großen Aufholbedarf“, weiß die Expertin und erwartet von Primärversorgungszentren auch einen starken Fokus auf der Prävention und der Stärkung von Eigenverantwortung.

Kurze Wege sparen Geld

Eine zentrale Drehscheibe in der Primärversorgung soll nach wie vor der Hausarzt sein. „Ob in einem Zentrum, als einzelne Praxis oder in einem losen Netzwerk ist für den Patienten nicht so wichtig. Wir wissen aus Umfragen, dass 93% der Befragten den Hausarzt als ersten Ansprechpartner besonders schätzen“, gibt Prim. Dr. Reinhold Pongratz, Ärztlicher Leiter der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse, Einblick. Gefragt sind daher neue Formen der Zusammenarbeit, die gewährleisten, dass das auch so bleibt und darüber hinaus noch weitere Vorteile, wie etwa eine Versorgung zu Randzeiten oder die Bündelung von Know-how, möglich werden. „PHC schaffen Vernetzung und Versorgungskoordination gleichzeitig, sie sorgen für kurze Wege und entlasten damit das Gesamtsystem“, so Pongratz.
Die zentrale Rolle einer hausärztlichen Grundversorgung betont auch ÖGAM-Präsident Dr. Christoph Dachs, denn längst ist Landarzt zu sein kein attraktives Lebensmodell mehr, und viele Ordinationen außerhalb von Ballungszentren bleiben unbesetzt. Chancen sieht Dachs daher auch darin, den Beruf mithilfe neuer Netzwerkstrukturen für junge Ärzte wieder attraktiv zu machen. Dennoch ist auch für ihn alles eine Frage der Positionierung, denn PHC nur als zusätzliche Ebene zwischen Hausarzt und Spitalsambulanz einzubeziehen, hält er für keinen sinnvollen Weg.

Diabetiker: Ein Verlustgeschäft

Primärversorgungszentren schaffen zweifelsohne Vorteile für Arzt und Patienten und damit wohl erst recht für jene, die – so wie Typ-2-Diabetiker – regelmäßig Betreuung benötigen. Derzeit ist dieser Aufwand für die niedergelassenen Mediziner mangels Refundierung aber ein Verlustgeschäft und damit wenig attraktiv. „Nur weil ein Bäcker lange offen hat, sind seine Brötchen nicht besser“, bremst Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher, Präsident der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG), die Euphorie für PHC. Er plädiert dafür, dass auch die Qualifikation der Mediziner nachziehen muss und verweist auf Vorbilder, wie etwa in Deutschland. „Wer sich zur Betreuung von Diabetikern nachgewiesenermaßen fortbildet, der kann auch andere Abrechnungsposten geltend machen“, beschreibt Wascher die Vorteile.
Dass das Modell von integrierten Primärversorgungszentren speziell auf die Anforderungen von Diabetikern zugeschnitten wäre, sieht auch Dr. Gerald Bachinger, Sprecher der Patientenanwälte, nicht auf den ersten Blick, doch: „Die Intention war es schon, chronisch Kranke in den Mittelpunkt zu stellen, die über viele Schnittstellen und medizinische Berufsgruppen eine durchgehende Versorgung benötigen. Offen bleibt die Frage, warum bei so vielen Vorteilen für Arzt und Patienten noch nicht mehr PHC ihre Arbeit aufgenommen haben“, meint Bachinger. „Wir wissen, dass die Österreicher mit ihrem Hausarzt sehr zufrieden sind, das heißt aber nicht zwangsläufig, dass damit auch eine Zufriedenheit mit dem System signalisiert wird“, ist Bachinger überzeugt und fordert in diesem Zusammenhang auf, die Bevölkerung nicht zu instrumentalisieren. „Patienten in Österreich kennen in der Regel keine moderne, vernetzte medizinische Betreuung im niedergelassenen Bereich und wissen demzufolge auch nicht, was diese für ihre Gesundheit und die langfristige Sicherung der Lebensqualität leisten könnte – von den Öffnungszeiten bis hin zur Gesundheitsvorsorge.“ Mit der neuen, im Rahmen der Gesundheitsreform beschlossenen Primärversorgung mit einer Reihe von medizinischen Angeboten unter einem Dach oder in einem Netzwerk könnte die Betreuung im niedergelassenen Bereich durchaus leistungs- und zukunftsfähig ausgebaut werden.

Ist drinnen, was drauf steht?

Weniger Arztstunden in den Spitälern führen zwangsläufig dazu, dass komplementäre Leistungsanbieter diese zunehmend spürbare Versorgungslücke füllen müssen. „Die Frage für mich ist, was PHC tatsächlich anbieten können“, gibt sich auch Prim. Dr. Peter Fasching, Vorstand der 5. Medizinischen Abteilung im Wilhelminenspital, vorsichtig optimistisch. Vieles, was derzeit im intramuralen Bereich als selbstverständliche Leistung wahrgenommen wird, wird der niedergelassene Sektor schon allein aus Ressourcengründen nicht anbieten können. „Dazu zählen etwa fremdsprachige Angebote vor allem in Ballungszentren oder die Notfallversorgung rund um die Uhr“, ist Fasching überzeugt und setzt nach: „Ob das im Spital wirklich immer teurer ist, lässt sich derzeit mangels verfügbarer Daten kaum feststellen.“ Preis und Leistung gegenüberzustellen, wird auch einem PHC schlussendlich nicht erspart bleiben und letztendlich warnt Fasching davor, durch neue Zentren den Arztberuf auszuhebeln: „Das erinnert an die Entwicklung vom Greißler zum Supermarkt“, vergleicht der Experte und warnt vor zu viel Spezialisierung: „Die Bevölkerungsentwicklung wird es erforderlich machen, dass es Generalisten gibt, die multimorbide Patienten als Ganzes beurteilen können. Nur mehr in Expertennetzwerken zu arbeiten ist sicher keine praxistaugliche Lösung.“

Arzt-Patienten-Beziehung neu definieren

Die Stärke der PHC wird wohl in ihrer flexiblen Struktur liegen müssen, die neben einer hochwertigen Grundversorgung zusätzliche Experten vernetzt, wenn es für die Behandlung erforderlich ist. Dazu braucht es jetzt wohl vor allem die passenden Strukturen, Aufgabenprofile und rechtlichen Rahmenbedingungen, damit nicht nur PHC drauf steht, sondern auch PHC drinnen ist. Dass sich dazu auch Patienten auf neues Terrain begeben müssen, liegt auf der Hand, denn „ihr betreuender Arzt“ wandelt sich zu einem Zentrum, das zwar inhaltlich mehr zu bieten hat, jedoch organisatorisch so flexibel agiert, dass sich „one-face-to-the-patient“ zwangsläufig überholen muss. Die Aufwertung der Rolle der Pflege wird dem „gelernten österreichischen Patienten“ ebenso nahezubringen sein wie die neue Rolle der Spitäler, die ihre Kompetenzen vermehrt bei echten Notfällen ausspielen werden.
Einig sind sich wohl alle Beteiligten, dass integrierte Primärversorgungszentren grundsätzlich wünschenswert und möglicherweise auch die Antwort auf aktuelle Fehlallokationen sind, doch mangelt es derzeit noch an klarem Spielregeln, um ihnen auch den „best point“ im heimischen Gesundheitssystem zukommen zu lassen. Eine flächendeckend gleich gute Versorgung bleibt wohl auch so lange nur Theorie, solange föderalistische Strukturen das Gesundheitswesen prägen. Ob Gesundheitsziele und Zielsteuerungsverträge daran etwas ändern werden, wird sich weisen.

 

Podium_PHC