ADHS bei Erwachsenen oft falsch als Depression diagnostiziert

Geschichte

1845 veröffentlichte der Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann das Kinderbuch „Struwwelpeter“ mit den bekannten Geschichten „Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug“, „Die Geschichte vom Hanns Guck-in-die-Luft“ und „Die Geschichte vom Zappelphilipp“ und zeigte hier bereits viele Facetten der ADHS.
1902 hat der britische Kinderarzt George Frederick Still die erste Arbeit über „Hyperaktivität“ veröffentlicht. Still vermutete hinter dieser Störung einen angeborenen oder perinatal erworbenen Defekt. 30 Jahre später, 1932, publizierten die deutschen Psychiater Kramer und Pollnow die Arbeit „Über eine hyperkinetische Erkrankung des Kindesalters“. 1980 wurde die „Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivität“ in die amerikanische Nomenklatur DSM-III aufgenommen. 1992 wurde sie schließlich auch als „Hyperkinetisches Syndrom“ ins ICD-10 hinzugefügt. Im Jahre 1994 erschien im Magazin „Time“ wahrscheinlich der erste Artikel über „ADHS im Erwachsenenalter“, wo beschrieben wird, dass mutmaßlich Leute wie Benjamin Franklin, Winston Churchill, Albert Einstein oder Bill Clinton von dieser Störung betroffen gewesen sein sollen.

ADHS im Kindes- und Jugendalter

Im ICD-10 wird ADHS unter F90.0 „Hyperkinetische Störung“ diagnostiziert. Wichtig für die Diagnosestellung ist ein früher Beginn der Erkrankung, nämlich vor dem sechsten Lebensjahr. Weiters müssen sich Symptome aus allen drei Kernbereichen „Unaufmerksamkeit“, „Überaktivität“ und „Impulsivität“ finden (s. Tab. 1).

 

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ADHS im Erwachsenenalter

ADHS im Erwachsenenalter zeichnet sich auch durch das Auftreten von Symptomen aus den drei Kernbereichen aus, wobei sich diese oft modifiziert zeigen. So tritt die Unaufmerksamkeit in Form von Konzentrationsproblemen, vor allem im Beruf auf. Die Betroffenen sind oft desorganisiert, haben Schwierigkeiten, Dinge im Voraus zu planen, sind vergesslich oder verlieren häufig etwas. Sie haben Probleme damit, Projekte anzufangen und zu beenden, oft wechseln sie häufig zwischen verschiedenen Aktivitäten. Die Impulsivität zeigt sich in einem schlechten Zeit-Management oder in impulsiven Entscheidungen betreffend Geldausgeben oder zum Beispiel in spontanen Reiseaktivitäten.
Erwachsene mit ADHS haben meist eine geringere Schulbildung, haben häufiger Arbeitsplatzwechsel, mehr kriminelle Delikte und mehr Scheidungen. Sie besuchen zehnmal häufiger Ärzte und haben deutlich öfter Autounfälle.
Beim Verlauf einer ADHS gibt es prinzipiell die Möglichkeit der Remission bis zur Adoleszenz oder auch das Fortbestehen des klinischen Vollbildes, meist mit Abnahme der Hyperaktivität bei Persistenz der Aufmerksamkeitsstörung.

Neurobiologie

Die Symptome der ADHS sind eng mit der Funktionsweise der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin verbunden. Die hier beteiligten Hirnnetzwerke sind vor allem der präfrontale Cortex (v.a. Dopaminaktivität), der hintere parietale Cortex (v.a. Noradrenalinaktivität) sowie das Kleinhirn (Motorik) und der Bereich der Basalganglien („Timing“). In diesen Hirnbereichen setzen auch die verschiedenen ADHS-Medikamente an.

Epidemiologie

Über die ADHS im Erwachsenenalter gibt es erst seit Kurzem Schätzungen zur Prävalenz. Prävalenzraten liegen hier zwischen 7,1% und 12,8% im amerikanischen Raum sowie zwischen 3,9% und 10,9% in anderen Ländern (Faraone et al. 2003). Für Österreich werden Schätzungen von 420.000 erwachsenen Patienten mit ADHS angegeben (Barkley et al. 2008). Männer sind von ADHS häufiger betroffen als Frauen, wobei dieser Unterschied im Kindes- und Jungendalter noch deutlicher ausfällt. Anzumerken ist, dass lediglich bei einem Viertel der Erwachsenen mit ADHS diese Diagnose auch bereits im Kindes- und Jugendalter gestellt wurde.

Differenzialdiagnose

Da viele der Kernsymptome der ADHS auch bei anderen psychischen Störungen auftreten, ist hier eine Differenzialdiagnose oft erschwert. Unaufmerksamkeit kann auch bei affektiven Störungen, bei Angststörungen und bei psychotischen Störungen auftreten. Impulsivität finden wir ebenfalls bei der Manie bzw. Hypomanie, bei Substanzgebrauch oder bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen. Hyperaktivität kommt ebenso bei der Manie sowie bei der agitierten Depression vor.

ADHS und Depression

Die depressive Störung ist eine der häufigsten komorbiden psychischen Erkrankungen der ADHS im Erwachsenenalter. Es zeigt sich hier eine Korrelation zwischen dem Schweregrad der ADHS und dem Auftreten komorbider depressiver Episoden. Da sich manche Kernsymptome der ADHS sowie der Depression, wie vermindertes Interesse, Erschöpfungsgefühl oder Konzentrationsstörungen, bei beiden Krankheitsbildern finden, ist eine exakte Diagnose oft erschwert. Entscheidend für die Differenzierung ist hier der anamnestisch zu eruierende Verlauf. Uncharakteristisch für ADHS ist eine durchgehend niedergeschlagene Stimmung für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen. Bei der Depression sind wiederum Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen nicht überdauernd und beginnen erst im späteren Lebensalter.
Während bei der Depression Antidepressiva eine deutliche Besserung der Symptomatik bewirken, ist dies bei der ADHS als komorbider Störung meist nicht der Fall. Hier sollte eine kombinierte Behandlung mit spezifischen ADHS-Medikamenten erfolgen. Außerdem ist bei der ADHS eine Veränderung der Stimmungslage durch Außenreize möglich, bei einer Depression ist dies meist sehr schwierig.

Probleme in der Diagnostik

Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter basiert im Wesentlichen auf Berichten funktioneller Beeinträchtigungen in der Kindheit. Naturgemäß sind diese retrospektiven Angaben dann oft ungenau und unvollständig. Erschwerend in der Diagnostik kommt hinzu, dass sich bei Erwachsenen häufig ein weites Spektrum an komorbiden psychischen Störungen findet. Sie können zudem an körperlichen Erkrankungen leiden, die ADHS-ähnliche Symptome hervorrufen, wie Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes. Ein weiteres Problem in der Diagnostik kann sein, dass ADHS mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad hat und dadurch Symptome eventuell manipuliert werden, wenn das Erlangen der Diagnose vom Betroffen erwünscht ist (z.B.: um Medikamente wie Stimulanzien zu erhalten).

Therapie

Zur Pharmakotherapie der ADHS stehen unterschiedliche Substanzgruppen zur Verfügung; zum einen Stimulanzien wie Methylphenidat (Concerta®, Ritalin®, Equasym®, Medikinet®) und Amphetamine mit einem vorwiegend dopaminergem Angriffspunkt und zum anderen Atomoxetin (Strattera®) mit vorwiegend noradrenergem Angriffspunkt. Stimulanzien wirken rasch und sicher, jedoch besteht die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung, wobei ein Missbrauch dieser Medikamente bei ärztlich behandelten ADHS-Patienten eher selten zu finden ist. Atomoxetin ist das erste Medikament, das gezielt zur Behandlung von ADHS entwickelt wurde. In Österreich ist Atomoxetin seit 2013 zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen zugelassen. In Studien zeigt sich eine vergleichbare Wirkung gegenüber Methylphenidat. Es hat einen langsameren Wirkungseintritt, jedoch gibt es hier keinerlei Gefahr einer Missbrauchs- oder Suchtentwicklung.
Neben der pharmakologischen Behandlung der ADHS sind psychotherapeutische Maßnahmen unumgänglich, wobei sich hier die kognitive Verhaltenstherapie bewährt hat. Stützende Interventionen wie Eheberatung oder Berufschoaching sollen das therapeutische Vorgehen ergänzen.

 

Tipps für das Patientengespräch
von Prim. Dr. Roland Mader

Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter basiert im Wesentlichen auf Berichten funktioneller Beeinträchtigungen der Kindheit. Hier ist eine genaue Anamnese bei Patientinnen und Patienten sowie auch bei familiären Angehörigen bedeutend, da retrospektive Angaben oft ungenau und unvollständig sein können.
Auch finden wir bei Erwachsenen häufig weitere komorbide psychische Störungen, die die Diagnostik erschweren. Gerade bei der Depression gibt es viele Überlappungen von Symptomen wie vermindertes Interesse, Erschöpfungsgefühl oder Konzentrationsstörungen. Vor allem hier ist der anamnestisch eruierende Verlauf für die Diagnosestellung besonders wichtig. Auch körperliche Erkrankungen können ADHS-ähnliche Symptome wie Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes hervorrufen. Ein weiteres Problem der Diagnostik kann sein, dass ADHS mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad hat und Symptome eventuell manipuliert werden, um eine ADHS-Diagnose zu erlangen, z.B. um Medikamente wie Stimulanzien zu erhalten.

 

Zusammenfassung

ADHS im Erwachsenenalter ist nicht immer leicht zu diagnostizieren, da es viele Überschneidungen mit anderen psychischen Störungen, wie depressive Erkrankungen, gibt. Hier gilt es den diagnostischen Blick zu schärfen und eventuell auch psychologische Testungen zur genaueren Abklärung einer ADHS zu verwenden. Die Behandlung mit ADHS sollte leitliniengerecht erfolgen, d.h. medikamentöse Behandlung und begleitende psychotherapeutische Unterstützung im Sinne einer multimodalen Behandlung.

 

Wichtiges Wissen für die Niedergelassenen
von Prim. Dr. Roland Mader

Wichtig für die Diagnosestellung der ADHS ist ein früher Beginn der Erkrankung, nämlich vor dem sechsten Lebensjahr. Außerdem müssen sich Symptome aus den drei Bereichen „Unaufmerksamkeit“, „Überaktivität“ und „Impulsivität“ finden. Beim Erwachsenen zeigt sich die ADHS oft in modifizierter Form. Die Unaufmerksamkeit zeigt sich hier in Form von Konzentrationsproblemen, vor allem im Beruf. Überaktivität finden wir in häufigem Wechsel zwischen verschiedenen Aktivitäten und die Impulsivität kann durch ein schlechtes Zeitmanagement festgestellt werden oder auch durch impulsive Entscheidungen betreffend z. B. Geld ausgeben.
Erwachsene mit ADHS haben meist eine geringere Schulbildung, häufigere Arbeitsplatzwechsel, oft kriminelle Delikte und mehr Scheidungen. Sie besuchen zehnmal häufiger Ärztinnen und Ärzte und haben auch deutlich öfter Autounfälle.
Aufgrund von Überschneidungen der Symptome ist eine Differenzialdiagnose zu anderen psychischen Störungen oft erschwert. Unaufmerksamkeit kann auch bei Depressionen oder Angststörungen auftreten, Impulsivität finden wir bei der Manie oder bei Substanzgebrauch und Hyperaktivität kommt ebenso bei der Manie sowie bei der agitierten Depression vor.

 

Literatur:

Krause J, Krause KH, 2014 Verlag Schallmauer

Stieglitz RD, Nyberg E, Hofecker-Fallahpur M, 2012;Verlag Hogrefe