Dass jeder Mensch das Recht auf die aktuelle State-of-the-Art-Therapie hat, ist ein zentrales Element der Patientenrechte. Für die Entscheidung, welche Behandlungen bezahlt werden und welche nicht, spielt die Nutzenbewertung eine wichtige Rolle. Gerade bei hochpreisigen Innovationen gilt es auch an die zukünftige Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems zu denken. PHARMAustria hat mit Expert:innen darüber gesprochen, welche Faktoren für die Nutzenbewertung eine Rolle spielen.
Das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA; www.aihta.at) versteht sich als unabhängige Instanz zur wissenschaftlichen Entscheidungsunterstützung im Gesundheitssektor. Aufgabe des Instituts ist es, wissenschaftliche Grundlagen für Entscheidungen zugunsten eines effizienten und angemessenen Ressourceneinsatzes auf Basis einer breiten, gesellschaftlich relevanten Sicht auf medizinische Interventionen aufzubereiten.
Die Nutzenbewertung von Therapien ist für Dr.in Ingrid Zechmeister-Koss, MA, Geschäftsführerin des AIHTA, klar definiert: „Es geht um einen Zusatznutzen im Vergleich zu bestehenden Behandlungsalternativen, der für patientenrelevante Endpunkte wie etwa Mortalität, Lebensqualität oder Lebenserwartung belegt werden kann. Die Qualität und die Aussagekraft der Evidenz, mit denen dieser Nutzen belegt wird, spielen eine wichtige Rolle.“ Bei den Bewertungen des AIHTA werden daher auch Faktoren wie das Studiendesign und andere Parameter in die Bewertung miteinbezogen. „Eine einarmige Studie ohne Kontrollgruppe hätte beispielsweise ein geringes Evidenzlevel, eine mehrjährige Nachbetrachtung wiederum sorgt für eine starke Aussagekraft der Evidenz“, erklärt Zechmeister-Koss.
Dr. Wolfgang Tüchler, Berater in den Bereichen Market Access, Reimbursement und Pricing sowie Geschäftsführer von Axxess Healthcare Consulting (www.axxess.at), sieht dies ähnlich wie Zechmeister-Koss: „Die Nutzenbewertung muss möglichst objektiv quantifizierbar sein. Den Zahlern sind dabei harte, das heißt, patientenrelevante Endpunkte wichtig. Surrogatparameter werden in der Regel nur dann akzeptiert, wenn nachgewiesen ist, dass damit Rückschlüsse auf einen patientenrelevanten Endpunkt möglich sind.“ Tüchler betont weiters, dass aber immer auch die Patientenperspektive bei der Nutzenbewertung berücksichtigt werden müsse, denn „letztendlich ist der Nutzen einer Therapie das, was beim Patienten bzw. bei der Patientin tatsächlich ankommt, also ob es ihm/ihr besser geht, ob ein besseres Krankheitsmanagement sowie eine Steigerung der Lebensqualität durch die Therapie erreicht werden etc.“.
Ähnlich sieht dies Dr. Leif Moll, MBA, seit Februar 2025 Präsident des FOPI, Forum der forschenden Industrie in Österreich: „Die Nutzenbewertung von Therapien muss auf wissenschaftlicher Ebene sowie unter Berücksichtigung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens erfolgen, dazu gehören z.B. eingesparte Pflegekosten, früher wiederhergestellte Erwerbstätigkeit etc. Zudem ist der individuelle Patientennutzen, also Faktoren wie Lebensqualität und Symptomlinderung, zu berücksichtigen.“ Mehr über die Sichtweise des neuen FOPI-Präsidenten auf das österreichische Gesundheitssystem und seine Ziele lesen Sie in “Raschen Zugang zu medizinischen Innovationen sicherstellen“.
Auch Dr. Ronald Pichler, Head of Public Affairs & Market Access bei der PHARMIG, der Interessenvertretung der pharmazeutischen Industrie in Österreich, sieht eine zeitgemäße medizinische Nutzenbewertung anhand von adäquaten Parametern als wesentlichen Kern, „ebenso gilt es aber auch, den sozioökonomischen Nutzen miteinzubeziehen und eine Systematik zu schaffen, mit der die Nutzendimension der Patientinnen und Patienten berücksichtigt wird“.
Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann, Abteilungsleiter Vertragspartner Medikamente beim Dachverband der Sozialversicherungsträgerbetont: „Bei der Nutzenbewertung von Therapien spielt der klinische Nutzen für die Patientinnen und Patienten die entscheidende Rolle. Es geht darum, was eine Therapie für die Patient:innen erreicht, also z.B. eine Verlängerung des Lebens, eine validiert bessere Lebensqualität, weniger schwere Nebenwirkungen etc.“ Dabei erfolgt die Bewertung auf der Basis von Evidenz und klinischen Nachweisen, so Sauermann.
Dr.in Michaela Wlattnig, PatientInnen- und Pflegeombudsfrau Land Steiermark und Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der Patient:innen- und Pflegeanwält:innen Österreichs (ARGE), betont: „Der Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten kann bei gleicher Indikation immer nur individuell bestimmt werden und muss neben den medizinischen und therapeutischen Aspekten auch soziale, ethische und organisatorische Aspekte berücksichtigen. Hier dürfen auch subjektive Aspekte einfließen, z.B. Erwartungen an die Lebensqualität. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Einbeziehung der Umstände von notwendigen Vor- und Nachbehandlungen.“
Ganz ohne Berücksichtigung der Kosten geht es aber nicht: Eine Nutzenbewertung ohne gesundheitsökonomische Betrachtung wäre laut Tüchler nur zulässig, wenn unbeschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. „Da dies aber nicht der Realität entspricht und wir die Zahlungsfähigkeit des Systems erhalten müssen, sind bei der Nutzenbewertung die Kosten, die der Einsatz einer Therapie mit sich bringt, zu berücksichtigen.“ Sauermann sieht es ebenfalls als zwingende ethische Verantwortung, eine gesundheitsökonomische Evaluierung mit- einzubeziehen, denn „es geht um Versicherten- und Steuergelder, mit denen wir gewissenhaft haushalten müssen“.
Dies unterstreicht auch Zechmeister-Koss: Eine Kosteneffektivitätsanalyse ist in ihren Augen für einen effizienten Ressourceneinsatz sehr wichtig, denn eine Entscheidung für die Finanzierung einer Therapie sei zugleich immer auch die Entscheidung gegen etwas anderes, für das dann kein Geld mehr zur Verfügung stehe – Stichwort Verdrängungseffekte, so die Gesundheitsökonomin über die Herausforderungen bei der Ressourcenverteilung. „Aber die Kosten-Nutzen-Analyse darf nie für sich allein betrachtet werden, sondern ist einer von mehreren Entscheidungsfaktoren“, betont sie. So könne z.B. der Aspekt, dass eine Therapie erstmalig die Behandlung einer Erkrankung ermöglicht, in der Gesamtabwägung eine ungünstige Kosteneffektivität in einem gewissen Maße aufwiegen, erklärt Zechmeister-Koss.
Tüchler regt an, bei komplexen Behandlungen auch die benötigten Personalressourcen beim Einsatz einer Therapie in deren Nutzenbewertung einzubeziehen: „Derzeit wird dieser Aspekt leider nicht berücksichtigt, dabei wäre auch das ein wichtiger Bestandteil einer effizienten Ressourcennutzung. Denn innovative Therapien können sich stark auf die Behandlungsprozesse und Nutzung der Personalressourcen bei der Anwendung einer Therapie auswirken – sowohl positiv als auch negativ. Quantifiziert wird dieser Effekt derzeit meist nicht.“
Für eine gesundheitsökonomische Evaluierung als Teil der Gesamtbewertung, die Zechmeister-Koss für unumgänglich hält, brauche es allerdings qualitativ hochwertige Daten – „und gerade, was Outcome- und Kostendaten angeht, gibt es in Österreich großen Verbesserungsbedarf“, erklärt sie. Mit einer besseren Datengrundlage könnten die vorhandenen Ressourcen viel effizienter eingesetzt werden, ist die Expertin überzeugt.
Tüchler sieht im grundsätzlich bewährten System der Nutzenbewertung in Österreich punktuell Verbesserungspotenzial: „Aktuell gilt etwa, dass bei gleichem oder ähnlichem Nutzen die Behandlungskosten mindestens 10% unter jenen der günstigsten Vergleichstherapie liegen müssen. Von einem gleichen oder ähnlichen Nutzen ist auszugehen, wenn in direkten Vergleichsstudien kein zusätzlicher Nutzen nachgewiesen werden kann. Dies trifft aber auch dann zu, wenn mehrere Innovationen in kurzer Zeit auf den Markt kommen und noch gar keine direkten Vergleichsdaten zur günstigsten Alternative vorliegen können.“ Für solche Fälle wäre zu überlegen, ob es Möglichkeiten gibt, wie der gegebenenfalls vorhandene Nutzen mit der vorliegenden Datenlage objektiviert werden kann, so Tüchler.
Bei der PHARMIG macht man sich generell Gedanken über den Zugang zu innovativen Therapien in Österreich. „Derzeit haben wir einen schnellen und breiten Zugang im Bereich Onkologie sowie generell im Spitalsbereich. Doch in nicht-onkologischen Indikationen im niedergelassenen Bereich sieht es anders aus. Hier dauert es länger und es gibt Einschränkungen beim Zugang, da die Parameter des Regeltextes zumeist enger gefasst sind als die des Zulassungstextes“, erläutert Pichler. Daher setzt sich die PHARMIG dafür ein, im niedergelassenen Bereich den Zugang zu Innovationen in nicht-onkologischen Indikationen zu verbessern bzw. zu beschleunigen und im Spitalssektor zumindest den Ist-Zustand zu erhalten.
Wlattnig wünscht sich hinsichtlich der Nutzenbewertung von Therapien (abseits der Thematik Bewertungsboard, bei der es um teure innovative Medikamente geht; siehe dazu “Das viel diskutierte Bewertungsboard“) eine deutliche Abkehr von „One size fits for all“: „Es gibt noch immer Fälle, bei denen das gut eingeführte Medikament verordnet wird, weil dieses ‚üblich‘ ist. Wenn dieses dann nicht ausreichend wirkt, werden andere Optionen ‚ausprobiert‘. Sinnvoller wäre es, immer das Erfragen von sozialen Faktoren oder auch die Berücksichtigung von Genderaspekten in die Anamnese und damit Verschreibung einzubeziehen, denn das sind Faktoren, die oft wesentlichen Einfluss auf die Behandlung haben können. Das erfordert Zeit für eine umfassende Anamnese und bedingt daher eine entsprechende Honorierung des Patientengesprächs für die Ärzt:innen“, so Wlattnig.