© batuhan toker – stock.adobe.com Die RELATUS-Redaktion entlarvt in der Serie „Mythen & Fakten“ die gängigsten Scheinargumente im Gesundheitswesen und liefert fundierte Antworten für Diskussionen.
Investitionen in Prävention wie Impfprogramme, betriebliche Gesundheitsinitiativen und Anreize für einen gesünderen Lebensstil sind grundsätzlich hochwirksam: Jeder investierte Euro zahlt sich rund 2,8-fach aus, weil Prävention langfristig kostengünstiger ist als die Behandlung von Erkrankungen und Folgeerkrankungen. Doch der Nutzen ist sozial ungleich verteilt. Eine 2024 veröffentlichte Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin zeigt, dass der Gesundheitszustand stark vom sozialen und sozioökonomischen Umfeld abhängt. Sozial benachteiligte Menschen leiden deutlich häufiger an psychischen Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Leiden oder Multimorbidität. Auch zentrale Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht und Hypertonie treten in sozial benachteiligten Gruppen erheblich häufiger auf.
Das bestätigt auch die Österreichische Gesundheitsbefragung 2019. Die Chance auf einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand ist bei Personen der höchsten Einkommensstufe 5,4-fach (Männer) beziehungsweise 4,5-fach (Frauen) höher als bei jenen mit dem niedrigsten Einkommen. Bildung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle: In der Altersgruppe der 45- bis 59-Jährigen beurteilte nur die Hälfte der Pflichtschulabsolvent:innen ihren Gesundheitszustand als (sehr) gut, während dies unter den Personen mit höhererSchulbildung rund 83 % waren. Menschen mit niedriger Schulbildung haben das höchste Risiko für Adipositas und rauchen deutlich häufiger. So greifen Männer und Frauen mit Pflichtschulabschluss zu 35,5 % beziehungsweise 25,9 % täglich zur Zigarette, während es bei höher Gebildeten lediglich 14,3 % beziehungsweise 12,2 % sind.
Das Problem liegt also in der Zielgruppe: Viele Präventionsangebote erreichen vor allem einkommensstärkere und besser gebildete Gruppen – also jene, die ohnehin einen besseren Gesundheitszustand haben. Der zusätzliche Effekt ist dort somit gering. Individuelle Prävention bleibt wichtig, aber der entscheidende Kosten- und Wirkungshebel liegt in der strukturellen Prävention. Maßnahmen, die das Umfeld verändern und ganze Bevölkerungsgruppen erreichen, wirken breiter, nachhaltiger und sind rascher umsetzbar. Die Fachwelt unterscheidet damit Verhaltsprävention und Verhältnisprävention.
Das Rauchverbot in der Gastronomie ist das beste Beispiel. Internationale Studien zeigen übereinstimmend, dass bereits binnen kurzer Zeit nach Einführung solcher Nichtraucherschutzgesetze sowohl der Tabakkonsum als auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückgehen. In Italien etwa, wo das Rauchverbot seit Jänner 2005 gilt, verglichen Forschende die Zahl der Krankenhauseinweisungen wegen akuter Myokardinfarkte in der Region Piemont in den erste sechs Monaten nach Inkrafttreten des Verbots mit dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. Das Ergebnis war ein Rückgang der Herzinfarkte um 11 %. Der Zigarettenabsatz sank noch im selben Jahr um 8,9 Prozent, der Zigarettenkonsum um 7,6 Prozent.1
In Schottland untersuchten Forschende die Auswirkungen des Rauchverbots auf die Gesundheit von Mitarbeitenden in 72 Bars und Kneipen.2 Die Studie zeigte, dass die Atembeschwerden bei rauchendem Barpersonal nach einem Jahr von 69 % auf 57 % zurückgingen. Auch rote Augen und Halsschmerzen nahmen von 75 % auf 64 % ab. Noch deutlicher war der Effekt bei den Nichtraucher:innen: Hier gingen die häufigsten Symptome von 44 % auf 18 % zurück. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Wissenschaftler:innen vom irischen Forschungsinstitut für eine tabakfreie Gesellschaft.3 In 42 Pubs in Dublin führten sie Luftmessungen und Untersuchungen zur Atemwegsgesundheit von Barangestellten vor und ein Jahr nach Einführung des Rauchverbots durch. Die Konzentration schädlicher Partikel sowie von Benzol sank um mehr als 80 %. Zudem verbesserte sich bei den Nichtraucher:innen das Ergebnis der Lungenfunktionsprüfung erheblich.
Neben der gesundheitlichen Wirkung zeigen solche Maßnahmen vor allem spürbare Kosteneffekte. Eine Studie der deutschen Krankenkasse DAK-Gesundheit4 wertete über fünf Jahre hinweg Krankenhausdaten von mehr als drei Millionen Versicherten aus. Seit Einführung der Nichtrauchergesetze in Deutschland 2007 und 2008 gingen nicht nur die Klinikeinweisungen deutlich zurück, sondern auch die Behandlungskosten. Für Angina Pectoris musste die DAK 9,6 Prozent weniger aufwenden, für Herzinfarkte sogar 20,1 Prozent. Insgesamt ergaben sich Einsparungen von 7,7 Millionen Euro bereits ein Jahr nach der Einführung. In Österreich hat das Gesundheitsinstitut der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG / HIAP) 2018 – ein Jahr vor Einführung des generellen Rauchverbots in der Gastronomie – eine Gesundheitsfolgenabschätzung durchgeführt.5 Die Metastudie, für die 28 internationale Beobachtungsstudien zu Rauchverboten analysiert wurden, zeigte deutliche Rückgänge bei Krankenhausaufenthalten wegen Asthma (-10 %) und Erkrankungen der unteren Atemwege (-18 %).
Eine aufsehenerregende Klage gegen die Tabakindustrie in den 1990er-Jahren verdeutlicht, wie weitreichend juristische Maßnahmen wirken können. San Francisco erzielte damals eine Entschädigungszahlung von 539 Millionen Dollar von den Tabakherstellern. An diesen Präzedenzfall knüpfte die Stadt jüngst im Bereich der Ernährung an: Ende 2025 reichte sie Klage gegen mehrere große Lebensmittelkonzerne ein, darunter Coca-Cola, PepsiCo, Kraft Heinz, Mondelez, WK Kellogg und Mars. Ihnen wird vorgeworfen, stark verarbeitete Produkte aggressiv zu vermarkten – trotz gut dokumentierter gesundheitlicher Risiken und steigender chronischer Erkrankungen. Nach Ansicht der Stadt haben diese Praktiken maßgeblich zu einer öffentlichen Gesundheitskrise und hohen Behandlungskosten beigetragen. Die Klage stützt sich auf mehrere Studien aus dem Fachjournal „The Lancet“, die die Auswirkungen ultrahochverarbeiteter Lebensmittel detailliert analysieren.
In Europa gilt Großbritannien als Vorreiter gesetzlich verankerter Präventivmaßnahmen in puncto Ernährung. Das Land hat 2018 eine Steuer auf Zucker in Erfrischungsgetränken eingeführt – mit deutlichen Erfolgen: Laut einer Studie6 halbierte sich die Zuckermenge, die Kinder über Limonaden zu sich nahmen, innerhalb eines Jahres. Seither müssen die Unternehmen 24 Pence pro Liter zahlen, wenn das Getränk acht Gramm Zucker pro 100 Milliliter oder mehr enthält. 18 Pence pro Liter sind es, wenn der Zuckergehalt zwischen fünf und acht Gramm Zucker pro 100 Milliliter liegt. Die Abgabe war ein Kernstück der Strategie zur Bekämpfung von Fettleibigkeit bei Kindern in Großbritannien. Dort leidet inzwischen jedes zehnte Kind im Alter von vier Jahren an Adipositas. Mit einer neuen Regelung geht Großbritannien noch einen Schritt weiter: Seit Oktober 2025 dürfen TV-Werbungen für ungesunde Lebensmittel nur mehr nach 21 Uhr ausgestrahlt werden, online sind sie ganz verboten. Langfristig sollen dadurch mehrere Milliarden Pfund an Behandlungskosten für den Gesundheitsdienst NHS entfallen.
Diese Beispiele zeigen: Prävention wirkt am stärksten und schnellsten dort, wo die Verhältnisse verändert werden. Strukturelle Maßnahmen erreichen auch jene Gruppen, die von freiwilligen Präventionsangeboten kaum profitieren. Wer Kosten senken will, muss daher an gesetzlichen Bedingungen ansetzen, nicht nur am Individuum. (tab)