Allergien: oft ist Kommissar Zufall am Werk

Die Bedeutung allergisch bedingter Krankheitsbilder und vor allem ihre jährliche Zahl in der Allgemeinpraxis ist nicht so leicht zu erfassen, wie man meinen könnte. Oft wird die Diagnose einer Allergie zusätzlich zur aktuellen Diagnose in die Patientenkartei eingegeben, um zu begründen, warum ein bestimmtes Antibiotikum gegeben wurde, welches vielleicht im konkreten Fall nicht Mittel der ersten Wahl ist, denkt man nur an die Therapie eines Erysipels oder einer Streptokokken-Angina.

Unangenehmen Überraschungen vorbeugen

Neben den als allergisch klassifizierten Krankheitsbildern sind auch jene zu bedenken, die phänotypisch an eine Allergie denken lassen, wie der ACE-Hemmer-Husten, das hereditäre Angioödem, die Urticaria oder die Histaminintoleranz. In jedem Fall sollte man bei Neuaufnahme eines Patienten gezielt nach Allergien oder sonstigen Unverträglichkeiten fragen, um späteren unangenehmen Überraschungen vorzubeugen.

Eine diesbezügliche Statistik aller Patienten in meiner allgemeinmedizinischen Praxis im Zeitraum 2015–2016 mit dem Diagnose-Suchbegriff „Allergie bzw. allergisch“ ergab: Unter den 2.530 verschiedenen Patienten fand sich ein damit in Zusammenhang stehendes Krankheitsbild in 158 Fällen, das entspricht 6,2%. Umgelegt auf die Anzahl der Beratungsergebnisse sind das ca. 2,5%. Diese Zahl stimmt gut mit den 2,3% der Beratungsergebnisse überein, die von Waltraud Fink, einer seit Jahrzehnten praxisepidemiologisch forschenden Ärztin, in ihrer umfangreichen und auch publizierten 10-Jahres-Statistik der Jahre 1989–1999 erhoben wurden.

Das Spektrum der Erkrankungen und Fragestellungen reicht dabei von den seltenen hochakuten und lebensbedrohlichen allergisch bedingten Krankheitsbildern wie der Insektengiftallergie oder medikamentös (Abb. 1) oder alimentär bedingten allergischen und nichtallergisch bedingten Reaktionen bis zur oft schwierigen Entscheidung, ob Exantheme während oder nach Antibiotika-therapie allergisch oder doch viral bedingt sind, denkt man z.B. an das 3-Tages-Fieber (HHV 6 und HHV 7) mit seinem Exanthem. Manchmal wird ja bei persistierendem Fieber und einem vielleicht mäßig erhöhten CRP bei Kleinkindern und vermuteter bakterieller Infektion eine AB-Therapie eingeleitet und ein Exanthem wird dann als medikamentös-allergisch klassifiziert, welches tatsächlich viral bedingt war. Ein direkter Virusnachweis über eine RNA PCR im Plasma oder die Serologie wird in diesem Fall wohl nur selten durchgeführt, sodass dann der Verdacht auf eine AB-Allergie in der Kartei vermerkt wird.

 

 

Die seltenen, aber oft dramatisch in Erscheinung tretenden allergisch bedingten Krankheitsbilder, die zwei oder mehr Organsysteme erfassen, bleiben einem lange im Gedächtnis. Manchmal hilft einem in solchen Situationen auch Kommissar Zufall bei zunächst unklarer Pathogenese des dramatischen Krankheitsbildes. Ich erinnere mich noch gut an eine Notvisite im Juli 1983 bei einer 48-jährigen Patientin, die nicht ansprechbar mit Zeichen der Zyanose und Stuhlabgang und einem RR von 70 mmHg im Bett liegend vom Gatten gefunden wurde. Die Ursache des Zustandes war völlig unklar, und die Bandbreite der möglichen Diagnosen war groß. Ein glücklicher Umstand half mir hier weiter, als ich am Nachttisch eine Packung des Penicillin-Antibiotikums Totocillin (heute nicht mehr im Handel) erblickte, welches die Patientin ohne ärztliche Verordnung eingenommen hatte. Die Sache ging unter entsprechender Therapie (Suprarenin® verdünnt i.v., Antihistaminika, Kortikosteroide und Infusionstherapie) gut aus.

Trockentraining wichtig

Solche Ereignisse sind zwar nicht häufig, das heißt, man sieht sie in der Allgemeinpraxis nicht mindestens einmal/Jahr und erwirbt sich dadurch eine gewisse Routine im Umgang mit ihnen, sie erfordern es aber gerade deshalb, sich regelmäßig im Sinne eines Trockentrainings auch unter Einbeziehung des gesamten Ordinationsteams auf sie einzustellen (wo sind die Notfallmedikamente gelagert? Ablaufdatum?).

Beispielhaft für manchmal verwirrende und nicht immer erklärbare allergische Erscheinungen möchte ich über den Fall eines Patienten mit einer ASS-Allergie bzw. Unverträglichkeit berichten, die sich nur intermittierend unter Dauertherapie mit 100 mg ASS, die er wegen seiner TIA einnahm, zeigte und die zu Lippen-, Gesichts-, Zungen- und Rachenödemen (Abb. 2) führte. Weder die stationäre noch die ambulante Abklärung zeigte ein positives Resultat, erst der Auslassversuch sicherte die Diagnose.

 

 

Nicht immer ist es eindeutig, ob es sich bei den häufig beobachteten Gesichts- und Wangenschwellungen um ein meist allergisch bedingtes Quincke-Ödem oder um eine z.B. dentogene Schwellung handelt, die nicht immer schmerzhaft sein muss (Abb. 3).

Neben den bereits erwähnten bis zur Anaphylaxie führenden Notfällen sind viele weitere Krankheitsbilder mit einer tatsächlich nachgewiesenen oder vermuteten Allergie oder Pseudoallergie in Zusammenhang stehend, wobei vor allem der Haut eine überragende Bedeutung beikommt. Dieses Organ ist primär (z.B. bei Kontaktallergien [Abb. 4] oder Insektenstichreaktionen) [Abb. 5] oder sekundär im Rahmen von anaphylaktischen Reaktionen aller Schweregrade (1–4) betroffen. Auch hierbei ist es oft schwierig zu entscheiden ob es sich um eine rein allergisch bedingte oder um eine durch eine Infektion verstärkte Lokalreaktion in einem kritischen Bereich, wie z.B. der Ohrmuschel (Abb. 6) oder im Ohr-Wangen-Bereich handelt (Abb. 7). Die Entscheidung für oder gegen eine sofortige Antibiose ist manchmal schwierig und muss in Eigenverantwortung und unter engmaschigen Kontrollen mit dem Patienten oder seinen Angehörigen erfolgen.

Die in der Literatur beschriebenen schwersten und mit einer Letalität zwischen 10 und 50% behafteten Arzneimittel-Haut-Reaktionen, wie das DRESS-Syndrom (drug rash with eosinophilia and systemic symptoms), das Steven-Johnson-Syndrom (10% KOF) oder die medikamentös induzierte toxische epidermale Nekrolyse (TEN > 30% KOF), eine Unterart des Lyell-Syndroms, habe ich in 35 Jahren Allgemeinpraxis noch nie gesehen, vielleicht aber auch bei leichten oder atypischen Verläufen nicht erkannt. Da das Lyell- Syndrom häufig durch Allopurinol ausgelöst wird, bin ich jetzt bei dessen Verschreibung, auch bei sehr hohen HS-Werten ohne Gichtanfälle, extrem zurückhaltend.

 

 

 

Haut als häufiges Zielorgan

Neben der Haut als gut beobachtbarem Zielorgan allergischer Reaktionen, vor allem von Medikamenten (Abb. 8), sehen wir im breiten und unausgewählten allgemeinmedizinischen Krankengut noch weitere wohlbekannte Krankheitsbilder, die eine oft ausführliche Anamnestik und Diagnostik erfordern, wie die Urticaria, die Histaminintoleranz oder Nahrungsmittelallergien (z.B. Milch-eiweiß, Erdnüsse), die allergische Konjunktivitis, Rhinitis und das Asthma bronchiale, welches in schweren Fällen mit sehr hohen IgE-Spiegeln assoziiert sein kann, welche mit entsprechenden monoklonalen AK behandelt werden, die wiederum für Nebenwirkungen, auch an der Haut verantwortlich sein können.

Die Haut ist neben der Vielzahl allergisch bedingter Nebenwirkungen von Medikamenten auch das Zielorgan für Nebenwirkungen moderner Chemotherapien (Abb. 9).

Ein weiterer, der direkten Diagnostik gut zugänglicher Bereich ist die Periorbitalregion. Doch Vorsicht, nicht alles, was wie eine Allergie aussieht, ist auch eine! Bei einer Patientin kam es über Nacht zu einer massiven orbitalen Schwellung mit gestörter Bulbusmotilität, die zunächst augenärztlich mit Tropfen behandelt wurde (Abb. 10). Die weiterführende Diagnostik ergab einen Pseudotumor des Auges, der operativ entfernt wurde. Histologisch fand sich eine chronisch granulomatöse Entzündung mit Miterfassung der Tränendrüse ohne Hinweis auf eine Vaskulitis.

 

 

Wie wir sehen, beobachtet man in der Allgemeinpraxis ein breites Spektrum allergisch bedingter Krankheitsbilder in allen Altersklassen. Für manche dieser Patienten ist eine Desensibilisierungsbehandlung angezeigt. Glücklicherweise ist diese gerade bei der schweren lebensbedrohlichen Wespen- und Bienengiftallergie oft erfolgreich. Auch in diese Therapie ist der Allgemeinarzt von Anfang an eingebunden und begleitet seine Patienten über Jahre. Ich habe vor dieser Therapie immer noch großen Respekt, obwohl ich glücklicherweise noch keine schweren Zwischenfälle beobachten konnte.