Leitlinie trifft Erfahrungsmedizin

Evidence-based medicine“ (EBM) und darauf basierende Leitlinien gewinnen zunehmend an Bedeutung. Grund dafür ist unter anderem die enorme Informationsflut im Bereich der Medizin, die es dem Arzt des 21. Jahrhunderts nahezu unmöglich macht, am letzten Stand des Wissens zu bleiben. Die Anforderungen an einen Arzt seien heute andere als früher, betont ÖGIM-Präsident Univ.-Prof. Dr. Herbert Watzke (Medizinische Universität Wien): „Während man früher das im Studium Gelernte mit geringen Modifikationen ein Leben lang anwendete, kommt man heute mit dem Wissen, das an der Universität vermittelt wird, bestenfalls ein paar Jahre aus. Es werden ständig neue Daten generiert, neue Evidenz, die man kennen muss.“ Dafür brauche man eben Leitlinien, so Watzke, die das aktuelle Wissen in einem bestimmten Bereich auf universitärem Niveau für alle tätigen Ärzte aufbereiten.
Auch Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie (Donau-Universität Krems), sieht Leitlinien als effektive Art des Wissensmanagements: „Pro Jahr werden mehr als zwei Millionen medizinische Artikel publiziert. Es ist für den Einzelnen absolut unmöglich, all diese Studien selbst zu lesen.“ Zwar war die lege artis – das Handeln nach den Regeln der Kunst – schon immer eine wichtige Grundlage für Ärzte, traditionell wurden diese Regeln aber von wenigen Experten bestimmt und variierten oft sehr stark zwischen einzelnen Ländern oder Regionen. „Die Internationalisierung des Wissens und der Medizin hat diese Art der alten Medizin längst überholt“, ist Gartlehner überzeugt.
Prim. Univ.-Doz. Dr. Otto Traindl, Tagungspräsident des diesjährigen ÖGIM-Kongresses (Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf), vergleicht Leitlinien mit einem roten Faden, einem Pfad durch die einzelnen Fachgebiete, basierend auf den jeweils neuesten Erkenntnissen. „Leitlinien stellen für den Arzt eine wichtige Entscheidungshilfe dar und ermöglichen es ihm, sichtbar richtig zu handeln.“ Natürlich sind Leitlinien mehr als reines Wissensmanagement, es geht letztlich um die Sicherung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau. Univ.-Prof. Dr. Florian Thalhammer (Medizinische Universität Wien), ÖGIM-Fortbildungsbeauftragter und Tagungssekretär, betont die Bedeutung von Leitlinien im Zusammenhang mit Behandlungsqualität: „Gutgemachte Leitlinien tragen dazu bei, dass unsere Patienten die beste Therapie erhalten, auch wenn man nicht selbst der Spezialist ist. Leitlinien ermöglichen das Einhalten von Therapiestandards.“ Durch die Anwendung von Leitlinien könne auch vermieden werden, dass unnötige oder überholte Maßnahmen angeordnet werden – ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Betreuungsqualität, ergänzt Watzke.

Leitlinien sind keine Richtlinien

Leitlinien werden von manchen Ärzten allerdings auch als Einengung ihrer persönlichen Entscheidungsfreiheit empfunden. Diesen Kritikpunkt könne man so aber nicht stehen lassen, denn Leitlinien seien eben keine punktuellen Vorschriften, sondern Handlungsempfehlungen, stellt Watzke klar. „Leitlinien sind keine Richtlinien, sie geben einen Entscheidungs- oder Handlungskorridor vor, in dem man sich bewegen kann. Anders als bei einer Richtlinie besteht kein Zwang, einer Leitlinie zu folgen. Man sollte eine Leitlinie jedenfalls kennen, kann dann aber auch begründet dagegen vorstoßen“, sagt Watzke.
Auch für Traindl gibt es durchaus Patientenfälle, bei denen man nicht strikt den Leitlinien folgen muss. Als Beispiel nennt er betagte Patienten. Bei diesen könne das strenge Befolgen der Leitlinien zu Polypharmazie führen: „Gerade ältere Menschen haben oft mehrere Krankheiten gleichzeitig – eine Herz- oder Lungenerkrankung, vielleicht einen Diabetes –, und zu allem gibt es Leitlinien. Wenn man sich nun strikt an jede Empfehlung hält, ist das in manchen Fällen vielleicht zu viel des Guten.“ Hier gelte es, individuell abzuwägen und die Leitlinien gegebenenfalls bewusst zu verlassen. Auch für Thalhammer ist klar: „Leitlinien heben die durchschnittliche Therapiequalität an, sollen jedoch trotzdem – dort, wo notwendig – auch personalisierte Therapieentscheidungen ermöglichen. Das eine grenzt das andere nicht aus.“ Leitlinien dürften nicht dazu verleiten, nur ein „Kochrezept“ abzuarbeiten, ohne sich mit dem Patienten auseinanderzusetzen, so Thalhammer.
Durch den raschen Wandel in der Medizin kann es vorkommen, dass sich manche Empfehlungen alle paar Jahre ändern – ja, manchmal im Laufe von zehn Jahren sogar in das genaue Gegenteil verkehren, wie Watzke ausführt. Das führe dazu, dass sich manche Ärzte fragen: Worauf kann ich mich denn noch verlassen? Sie verlieren den Glauben an Leitlinien und tun sie als sinnlos ab, es kämen ohnehin ständig wieder andere Werte. Watzkes Antwort darauf: „Das, was die Leitlinien empfehlen, ist der beste Stand des medizinischen Wissens, und der Stand des Wissens war vor 20 oder 10 Jahren eben nicht so gut wie heute. Neue Erkenntnisse erfordern nun einmal eine ständige Nachjustierung der Empfehlungen.“

Methodik der Leitlinie als Qualitätsmerkmal

Kritisch zu beleuchten seien Entstehung und Qualität von Leitlinien, sind sich die Experten einig. „Gute Leitlinien mit den höchsten Qualitätsansprüchen sind aufwendig, kostenintensiv und durch regulatorische Vorgaben dann nicht immer von den wirklichen Experten erstellt, da diese ex lege wegen theoretisch möglicher Interessenkonflikte ausgeschlossen werden“, gibt Thalhammer zu bedenken. Gartlehner entscheidet zwischen guten und schlechten Leitlinien: „Gut gemachte Leitlinien basieren auf systematisch erhobenem Wissen, während bei schlecht gemachten Leitlinien ein paar Experten ihre Meinung niederschreiben und diese empfehlen.“ Schlecht gemachte Leitlinien würden häufig von der Industrie finanziert, die Autoren wären mit Interessenkonflikten belastet. „Um die Glaubwürdigkeit einer Leitlinie beurteilen zu können, muss man sich genau ansehen, mit welcher Methodik die Leitlinie erstellt wurde, wer hinter einer Leitlinie steckt und welche Interessenkonflikte offengelegt wurden“, sagt Gartlehner.

Relevanz für den medizinischen Alltag

Ohne Leitlinien kann man Medizin im 21. Jahrhundert nicht mehr praktizieren, so die einhellige Meinung der Experten. Sie bescheinigen Leitlinien eine hohe Relevanz im medizinischen Alltag. „Leitlinien verbessern die durchschnittliche Behandlungsqualität für das Patientenkollektiv“, ist Thalhammer überzeugt. Auf die immer wieder auftauchende Kritik an der Praxistauglichkeit von Leitlinien antwortet Gartlehner: „Leitlinien werden in der Regel von Personen erstellt, die selbst in der Praxis tätig sind. Der Ruf, dass Leitlinien nicht praxistauglich sind, kommt häufig dann, wenn Empfehlungen der eigenen Praxis widersprechen, wenn man etwas seit zehn Jahren auf eine bestimmte Art gemacht hat und die Leitlinien nun sagen, dass es anders besser wäre. Manchmal geht es also darum, sich einzugestehen, dass man vielleicht selbst nicht mehr ganz am letzten Stand des Wissens gearbeitet hat.“ Für Thalhammer hängt die Praxistauglichkeit von Leitlinien von vielen Faktoren ab: „Es beginnt bei der Lesbarkeit und Prägnanz derselben, der Akzeptanz des Gremiums, welches die Leitstellen erstellt, und in unserer jetzigen Zeit könnte sie auch da und dort abhängig sein von den vorhandenen Ressourcen. Es helfen die besten Leitlinien nichts, wenn man diese nicht umsetzen kann.“ In ihrem vollen Umfang können Leitlinien schnell einmal 50 Seiten und mehr umfassen. Deshalb werden zu vielen Leitlinien Kurzfassungen oder sogenannte „Pocket Guidelines“ herausgegeben. „Leitlinien sollen leicht lesbar und verständlich sein. Viele haben nicht die Zeit, alle Leitlinien bis ins Detail zu lesen, deshalb sind Kurzfassungen für die tägliche Praxis sehr beliebt“, meint Traindl.
Für die Ärzte ist es oft gar nicht einfach, aus der Fülle an Leitlinien die „richtigen“ herauszufiltern. So gebe es beispielsweise zur Behandlung von Depressionen international mehr als 100 Leitlinien, sagt Gartlehner. Jede Fachgesellschaft fühle sich bemüßigt, eigene Leitlinien zu erstellen, sodass der Arzt schlussendlich vor einer Fülle von Leitlinien steht, aus denen er wählen muss. „Eine Möglichkeit ist, immer wieder auf Leitlinien einer bestimmten Institution zurückzugreifen, von der man weiß, dass sie gute und interessenkonfliktfreie Leitlinien erstellen“, schlägt Gartlehner vor. Traindl glaubt, dass spezialisierte Fachärzte mit den Leitlinien ihres eigenen Fachs gut vertraut sind. Allgemeininternisten hätten es da schon schwieriger, alle Teilgebiete abzudecken und die neuesten Leitlinien zu kennen.
In der Behandlung nach Leitlinien und der Erfahrungsmedizin sehen Experten keine Gegensätze, vielmehr ergänzen sich die beiden Ansätze. „Natürlich braucht ein Arzt immer Bauchgefühl und Erfahrung, um Leitlinien sinnvoll anzuwenden. Zuerst kommt aber das Wissen und erst in der punktuellen Umsetzung die Erfahrung“, befindet Watzke.
Für Traindl ist es ein Unterschied, ob man etwas aus dem Bauch heraus entscheidet, weil man es nicht besser weiß, oder ob man sich zwischen verschiedenen Empfehlungen einer Leitlinie entscheidet beziehungsweise sich entscheidet, diese aus bestimmten Gründen nicht anzuwenden. „Die Leitlinie stellt unser Rüstzeug dar, in der Entscheidung kann man aber durchaus individualisiert vorgehen“, meint er. Das Einbeziehen von Patientenwerten und -wünschen sei wichtig, im Hintergrund solle aber immer das Wissen stehen.
„Erfahrungen dürfen und sollen Leitlinien nicht außer Kraft setzen, denn wir behandeln immer noch Menschen“, betont Thalhammer. „Leitlinien sind meines Erachtens eine Richtschnur, aber wenn es gut begründbare Fakten gibt, kann und muss man auch abweichen dürfen. Insbesondere auch dann, wenn der medizinische Fortschritt schneller ist als die Erstellung aktualisierter Leitlinien“, betont Thalhammer.
Auch für Gartlehner gehen Erfahrung und Leitlinien prinzipiell Hand in Hand. Aber man müsse sich schon bewusst sein, dass Erfahrung vielen Einflüssen der menschlichen Wahrnehmung unterliegt. Diese machten eine objektive Einschätzung des eigenen Handelns oft schwer, vor allem auch deshalb, weil sich der Benefit vieler Handlungen in der Medizin oft erst Jahre später zeige.