Analyse: Corona verlangt nach einer neuen Fehlerkultur

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Vor einem Jahr wurde nach massiven Corona-Fällen im Wintersportort Ischgl das Paznauntal gesperrt. Obwohl in halb Europa Infektionen bei Ischgl-Urlaubern auftraten, wollte niemand einen Fehler gemacht haben. Auch im Verlauf der Pandemie gibt sich die Regierung fehlerfrei. Wenn Fehler passiert sind, dann woanders. Doch mit dieser Art der Fehlerkultur kommen wir nicht aus der Krise.

Der Schuss ging nach hinten los: Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine ÖVP kritisieren seit dem Wochenende die EU massiv, weil scheinbar einige Länder mehr Impfstoff erhalten haben als Österreich. Kurz hat zwar keine Beweise, aber Hinweise, wie er sagt. Das reicht, um der EU die Schuld für die bisher schleppenden Impfungen in Österreich zu geben. Wir erinnern uns: Ende Dezember begründete der Kanzler den dritten Lockdown damit, dass man so die dritte Corona-Welle verhindern will und er versprach am 27. Dezember bei der ersten Impfung einen fast normalen Sommer. Die Impfung sei „der Anfang vom Sieg gegen die Pandemie“, sagte er. „Wir nähern uns Schritt für Schritt, mit jeder Impfung, die durchgeführt wird“, der Normalität, meinte der Regierungschef Ende des Vorjahres.

Jetzt ist die dritte Viruswelle da, die Impfungen kommen erst langsam in Gang und nach Ansicht bräuchte es statt weiterer Lockerungen einen weiteren Lockdown. Die Intensivkapazitäten in den Spitälern nähern sich wieder der Belastungsgrenze, warnt die Fachgesellschaft. Doch wer ist Schuld an der Entwicklung? Für die ÖVP ist es diesmal die EU-Kommission. Doch die – und andere Länder, wie Deutschland und die Niederlande – und selbst der türkise EU-Kommissar Johannes Hahn wehren sich: Österreich stelle im EU-Lenkungsgremium für die Beschaffung eines Corona-Impfstoffes den stellvertretenden Vorsitzenden: Clemens Auer, Sonderbeauftragter des Gesundheitsministeriums. Man sei in alles eingebunden gewesen. Österreich habe zudem nicht alle Impfstoffe, die möglich waren, abgerufen und auf den billigeren Impfstoff von AstraZeneca gesetzt. Aus dem Gesundheitsministerium kommt zudem der Hinweis, dass die ÖVP in alles eingebunden war. Die Folge: die ÖVP schießt sich auf die Beamten im Gesundheitsministerium ein und unterstellt, dass diese auch den Gesundheitsminister getäuscht haben.

Der Hintergrund: das Thema Impfstoffbeschaffung war seit dem Sommer neun Mal auf der Tagesordnung des Ministerrates. Die ÖVP war also in alle Entscheidungen eingebunden. Dass man da einen Fehler gemacht hat, will man nicht zugeben. Viel wahrscheinlicher, so wird argumentiert, ist, dass man von Beamten falsch informiert wurde. Kurz verlangte am Wochenende auf nationaler Ebene volle Transparenz über Vereinbarungen. „Ich fordere das Ministerium auf, jetzt zu prüfen, wie das passieren konnte. Ich hoffe sehr, dass sich die Beamten an die Vorgaben der Politik gehalten haben“, sagte der Bundeskanzler in einem Zeitungsinterview. Das Problem, das er nicht eingestehen will: Er ist als Regierungschef letztverantwortlich.

Es sei Kurz selbst gewesen, der dem grünen Gesundheitsminister den ÖVP-Mann Auer als Corona-Koordinator aufgezwungen habe, „um auch in Anschobers Ressort hineinregieren zu können“, sagt FPÖ-Klubchef Herbert Kickl. Dass der Bundeskanzler nach Sündenböcken suche, meinte auch SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch: „Jetzt sind es die eigenen Regierungsbeamten, die dafür herhalten müssen, dass Kurz sich nicht um verfügbare zusätzliche Kontingente bemüht hat.“ Der Kanzler selbst trage die politische Verantwortung. Auch NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker zeigte sich irritiert. „Die Politik darf sich nicht an den Beamten abputzen. Schon gar nicht, wenn sie diese zuvor selbst bestellt, ihnen ein Verhandlungspouvoir erteilt und ein klares Budget gegeben hat“, erklärte er.

Vor einem Jahr hat die Bundesregierung das Paznauntal abgesperrt. Insgesamt 6000 Menschen in ganz Europa sollen sich im Wintersportort Ischgl mit dem Corona-Virus infiziert habe, schätzen Experten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt heute noch, wer dafür die Verantwortung trägt, dass sich das Virus von Tirol aus in ganz Europa verbreitet hat. Für die Tiroler Politik ist dennoch klar: man hat alles richtig gemacht. Legendär ist das Interview des türkisen Tiroler Gesundheitslandesrates in der ZIB 2, wo er jegliche Fehler zurückweist.

Klar ist, dass die Pandemie ein Ereignis war und ist, das Behörden und Politik an die Grenzen bringt. Vieles wurde seither in der Bekämpfung richtig gemacht, wie etwa die Schaffung der Kurzarbeitsregelung, vieles wurde aber auch falsch gemacht. Nur ein Beispiel ist das nach wie vor nicht wirklich funktionierende Contact Tracing. Kärnten hat etwa erst mit Jahreswechsel eine Software von der Steiermark gekauft. Das Land Vorarlberg gab am Wochenende bekannt, die Nachverfolgung von Personen, die positiv auf das Coronavirus getestet werden, doch nicht ausbauen zu wollen. Es sei „logistisch zu aufwändig“. Ein anderes Beispiel: Pflegeheime werden in manchen Bundesländern bis zum heutigen Tag nicht ausreichend geschützt.

Wenn wir endlich aus der Krise herauskommen wollen und wenn wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie, deren Auswirkungen erst spürbar werden, meistern wollen, müssen wir vor allem aus Fehlern lernen. Keine Frage: in einer derartigen Gesundheitskrise können auch Fehler passieren. Das ist bitter und kann für Einzelne dramatische und sogar lebensbedrohliche Folgen haben. Der größte Fehler ist allerdings, diese Fehler zu wiederholen. Gibt man Fehler nicht zu, sondern lenkt ab oder macht sogar andere verantwortlich, verlängert man nicht nur die Krise, man spielt letztlich auch Leugner und Fanatikern in die Hände. Um Corona zu besiegen, brauchen wir nicht nur auseichend Impfungen, neue Medikamente oder wirtschaftliche Hilfen – wir brauchen vor allem eine neue Fehlerkultur. Denn aus Fehlern zu lernen, geht nur, wenn man sie eingesteht. Und das würde letztlich auch helfen, die Bevölkerung wieder ins Boot zu holen. (rüm)