Kommentar: Warum es doch kein Sommer „wie damals“ wird

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Der Corona-Cluster im Parlament zerstört in der öffentlichen Wahrnehmung die von der Regierung und den Bundesländern erzählte Geschichte, dass die Pandemie vorüber ist. Und Delta zeigt uns, dass es kein Sommer „wie damals“ wird.

Was haben wir uns alle auf einen ruhigen Sommer gefreut? Die Pandemie wurde in die Schranken gewiesen, die Infektionszahlen sanken. „Wir können getrost sagen, dass wir das Schlimmste hinter uns haben“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am 16. Juni im Nationalrat. Die Situation sei besser als erwartet, meinte er einen Tag später bei einer Presskonferenz. Immer mehr Menschen seien geimpft, Österreich sei zudem „Test-Weltmeister“, erklärte Kurz. Es sei also eine „sehr, sehr gute Situation“, die wir in Österreich haben. Seine Versprechung damals: „Es kann getanzt, gefeiert, geheiratet werden.“ Ab 22. Juli gebe es dann überhaupt keine Beschränkung mehr. Ein paar Tage später startete ÖVP mit einer neuen Kampagne in den Sommer. Die Slogans dazu: „Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft: Gemeinsam nach vorne schauen“ und „Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft: Endlich wieder miteinander“, heißt es auf Plakaten.

Der Vizerektor der Meduni Wien, Oswald Wagner, mahnte schon am 17. Juli, dass die Pandemie noch nicht vorüber sei. Er war nicht der Einzige, den wir nicht hören wollten. Als Wien erklärte, dass man nicht so rasch öffnen werde, gab es politische Schelte von der Bundesregierung. Denn schon im Frühjahr hatte der Kanzler einen „coolen“ Sommer versprochen. Binnen kurzer hat die Delta-Variante nun die politisch schön gemalte Geschichte, dass die Pandemie vorbei ist, zertrümmert. Für viele Experten kam das nicht ganz so überraschend. Überrascht hat maximal die Geschwindigkeit, mit der sich die Mutante ausbreitet. Für die Politik besonders bitter war dabei der Coronacluster rund um den Ibiza-U-Ausschuss im Parlament. Binnen kurzer Zeit wurden neun Infizierte gemeldet. 30 Personen mit Hoch-Risiko-Exposition (K1) waren in Quarantäne, 300 Personen wurden als K2-Personen mit Niedrig-Risiko-Exposition eingestuft.

Mit dem Cluster war nicht nur die erzählte Geschichte, die Pandemie sei vorbei, überholt, sondern auch die Botschaft, dass Österreich alles im Griff habe und Contact Tracing und Tests funktionieren. FPÖ-Abgeordneter Christian Hafenecker, von dem der Cluster angeblich ausging, soll sich nach Medienberichten regelmäßig testen haben lassen und hatte einen Tag vor der U-Ausschußsitzung noch einen negativen Antigentest abgegeben. Informiert wurden die betroffenen Abgeordneten dann erst später, weil – so ein Bericht der Zeitung „Falter“ – die Landessanitätsdirektion Niederösterreich das Parlament nicht über das positive Testergebnis von Hafenecker informiert hat. Es ist also nicht nur das Virus noch da, auch bei geringem Infektionsgeschehen funktioniert das Contact Tracing der Länder nicht wirklich.

Die Ärztekammer kippte nun weiteres Öl ins Feuer und warnte, dass der Parlamentscluster zeige, wie schnell und unbemerkt die Verbreitung des Coronavirus derzeit möglich ist. Gerald Gingold, Obmann der Kurie angestellte Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Wien sagte dazu: „Die Situation darf nicht so wie letztes Jahr unterschätzt werden, unsere Spitäler müssen sich jetzt schon auf jedes Krisenszenario vorbereiten.“ Die zuletzt beschlossenen Öffnungen sollten als Hygiene-Mindeststandards gesehen werden, die die derzeitige epidemiologische Lage zulässt, und nicht als Freikarte, alles wieder voll hochzufahren“, warnte der Ärztevertreter und pulverisiert damit unsere Hoffnung auf eine Sommer „wie damals“. Auch im vergangenen Jahr habe sich die Politik in Bund und Ländern über den Sommer „zu sicher“ gefühlt, man müsse daher „unbedingt dieselben Fehler vermeiden“.

Am Freitag ruderte dann auch die Regierung vorsichtig zurück. „Das Virus wird nicht verschwinden. Es wird bleiben, und nur wer geimpft ist, wird geschützt. Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“, das jeden betreffe, der nicht geimpft sei, meinte Kurz in einer Pressekonferenz. Anders formuliert: es sei jetzt nicht mehr Aufgabe der Politik, Maßnahmen zu setzen. Kurz will im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verstärkt auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung setzen. „Der Staat hat die letzten eineinhalb Jahre massiv in das Leben jedes Einzelnen eingegriffen, er muss sich jetzt wieder auf seine Kernaufgaben zurückziehen“, sagte er. Die Pandemie werde nun dem individuellen Risiko- und Vernunftmanagement überantwortet. Sprich: Wenn Corona jetzt nicht wie versprochen vorbei ist, dann sind wir alle selbst schuld. Die Politik hat alles richtig gemacht.

Die Politik sollte vor allem eines aus der Pandemie lernen: statt kurzfristig auf die Stimmungslage in der Bevölkerung und auf Umfrageergebnisse zu achten und das eigene Verhalten danach auszurichten, sind Vernunft, Expertise und auch unbeliebte Entscheidungen gefragt. Corona zeigt uns, dass man sonst sehr rasch von der Realität eingeholt werden kann. Und die Stimmen mehren sich, die sagen, dass es schon im August und nicht erst im September wie im Vorjahr mit der Party vorbei sein könnte. (rüm)

Kurzumfrage: Braucht es eine Impfpflicht zur Erhöhung der Impfquote?