Soziale Ungerechtigkeit tötet im großen Stil

© Tanzer

Erneut bestätigt eine Studie: Wohnverhältnisse, Einkommen, Bildung und andere soziale Faktoren beeinflussen Gesundheit stärker als Genetik oder die Qualität des Gesundheitssystems. Das muss Folgen haben. 

Ein Input für die jüngsten Präventionsdebatten und Vorschläge der Politik und der Sozialversicherungen: Wohnverhältnisse, Einkommen, Bildung und andere soziale Faktoren beeinflussen die Gesundheit laut einer Studie stärker als Genetik oder die Qualität des Gesundheitssystems. Die Lebensumstände sowie Benachteiligung und Diskriminierung bestimmen vielfach, wie viele Jahre jemand gesund leben könne, berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Solche sozialen Faktoren bestimmten laut WHO die Gesundheit zu mehr als 50 Prozent.  

In der Studie geht es um die „sozialen Determinanten der Gesundheit“ und die definiert die WHO so: „Die Bedingungen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, leben, arbeiten und altern, sowie der Zugang der Menschen zu Macht, Geld und Ressourcen.“ Das Fazit des Vorgängerberichts von 2008 gelte bis heute: „Soziale Ungerechtigkeit tötet im großen Stil.“ Bereits 2001 errechnete der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in Deutschland in einem Gutachten, dass in reichen Ländern der Anteil des Krankenversorgungssystems an der Verbesserung der Gesundheit der Gesamtbevölkerung nur bei bis zu 30 Prozent liegt. Der Rest sind die Lebensumstände. 

Und genau das ist das eigentliche Problem: die Zusammenhänge sind seit Jahrzehnten bekannt, daran gearbeitet wird von der Politik nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin forderte deshalb vor einigen Jahren einen Perspektivenwechsel: Statt immer mehr Maßnahmen zur Früherkennung anzubieten, müsse man echte Prävention in den Lebenswelten der Menschen machen, um alle sozialen Milieus anzusprechen. Inzwischen sei es wissenschaftlich gut belegt, dass Früherkennungsmaßnahmen vor allem diejenigen erreichen, die sozial privilegiert sind und geringere gesundheitliche Risiken haben, hieß es 2023 in einer Studie. 

Die WHO formuliert das jetzt so: „Je benachteiligter die Region ist, in der die Menschen leben, je niedriger ihr Einkommen und je weniger Ausbildungsjahre sie haben, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand und desto weniger gesunde Lebensjahre können sie erwarten.“ Sie nennt auch Einkommen, Rassismus und Diskriminierung, Einsamkeit, Zugang zu Computern, Konflikte und Vertreibungen und Sozialleistungen als wichtige Faktoren. Menschen in Ländern mit der höchsten Lebenserwartung lebten demnach im Durchschnitt 33 Jahre länger als diejenigen in Ländern mit der niedrigsten Lebenserwartung. Wer glaubt, dass dies nur für ärmere Länder gilt, irrt. Es gilt auch bei uns: Eine Studie des deutschen Robert-Koch-Institutes kam 2019 für Deutschland zu ähnlichen Ergebnissen: „Nach Daten aus den Jahren 1992 bis 2016 sterben 13 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe bereits vor Vollendung des 65. Lebensjahres, während dies in der höchsten Einkommensgruppe lediglich auf 8 Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer zutrifft.“  

Die Lösungen liegen laut WHO auf der Hand: Die ökonomischen Ungleichgewichte müssten beseitigt werden, es müsse für alle Menschen angemessenen Wohnraum, öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheitsversorgung und soziale Hilfen geben, Konflikte müssten gelöst und Diskriminierung bekämpft werden. Investitionen lohnten sich finanziell: gesündere Menschen seien produktiver und brauchten weniger ärztliche Hilfeleistungen. Nichts zu tun sei dagegen immens teuer. Im Übrigen wird in Österreich gerade darüber diskutiert, ob die Regierung bei ihren Sparplänen die jährliche Indexanpassung der Familienbeihilfe aussetzt. Die ÖGK will Selbstbeteiligungen bei Krankentransporten und orthopädischen Hilfen einführen. Sozial gestaffelt, wird versichert. Man schüttelt fassungslos den Kopf. (rüm)