Postchirurgische Inkontinenz des Mannes — Grundlagen und Diagnostik

Die Harninkontinenz des Mannes nach urologischen Eingriffen ist ein nicht seltenes, die Lebensqualität deutlich einschränkendes Problem. In Abhängigkeit von Art und Ausmaß der Schädigung des Schließmuskels oder des Halteapparates der membranösen Harnröhre gibt es verschiedene Behandlungsoptionen. Der aktuelle Stand dieser Therapien, die in die Harnröhrenrestfunktion unterstützende und die Harnröhre komprimierende Maßnahmen eingeteilt werden, wird im Folgenden dargestellt.

Definition

Harninkontinenz wird als unfreiwilliger Harnabgang definiert. Der International Continence Society (ICS) zufolge werden sie in die fünf verschiedenen Gruppen der Harnbelastungsinkontinenz, Harndranginkontinenz, Mischharninkontinenz, Harninkontinenz bei neurogener Blasenfunktionsstörung und die Harninkontinenz bei Abflussobstruktion eingeteilt. Obwohl die postchirurgische Inkontinenz bei Männern in der Altersgruppe derer zwischen 40 und 70 Jahren häufiger als die anderen Formen der Inkontinenz ist, ist sie in der Klassifikation nicht explizit berücksichtigt. Ihre Zuordnung zu einer der Gruppen ist nicht eindeutig möglich. Die postchirurgische Inkontinenz bei Männern ist jene Inkontinenz, die nach chirurgischen Eingriffen, wie z. B. der transurethralen Prostataresektion oder der radikalen Prostatektomie auftritt. Als ursächlich werden einerseits Beeinträchtigungen des Schließmuskels durch Längenverlust oder Vernarbungen, andererseits Beeinträchtigungen der membranösen Harnröhre durch eine Aufhängeschwäche angesehen. Analog zu den Mechanismen bei der Frau kann postoperativ der Beckenboden im Zentrum so geschwächt sein, dass die Stützstrukturen des Sphinktermechanismus zu locker werden. Die Beweglichkeit der membranösen Harnröhre wird damit übernormal groß. Die Erfolgsaussichten der weiteren Therapie werden durch vorangegangene Bestrahlung, Becken- und Inkontinenzchirurgie wie z. B. Injektion so genannter “Bulking Agents”, oder die erfolglose Implantation von Antiinkontinenzballonen, von Schlingen oder einem hydraulischen Sphinkter geschmälert. Mit zunehmendem Alter treten in Bezug auf die Prognose neben Alterungsprozessen der Schließmechanismen mehr und mehr neurologische Erkrankungen wie z.B. Morbus Parkinson, Demenz und Schlaganfälle in den Vordergrund.

Pathophysiologie

Um eine ausreichende Abdichtung zu gewährleisten, ist eine Koaptationsstrecke (Abdichtungsstrecke) der membranösen Harnröhre (= Schließmuskelanteil der Harnröhre) von mindestens 1,5 cm Länge erforderlich. Im Rahmen einer radikalen Prostatektomie kann es zu einer Verkürzung des ventralen Rhabdomyosphinkteranteils kommen. Die Koaptationsstrecke distal des Blasenhalses, die normalerweise etwa 4-6 cm beträgt, wird durch eine radikale Prostatektomie auf durchschnittlich 3 cm verkürzt. Fällt dieser Wert unter die genannten 1,5 cm, steigt die Inzidenz einer Harnbelastungsinkontinenz stark an. Ist zusätzlich der Aufhängemechanismus der dorsalen Seite des Sphinkterkomplexes geschwächt, verändert die membranöse Harnröhre ihre Stellung im kleinen Becken. Der so entstehende männliche “Prolaps” kann ebenfalls einen insuffizienten Verschluss des Sphinkters zur Folge haben. Der weithin gebrauchte Begriff der so genannten “Intrinsic Sphincter Deficiency” (ISD), beruht auf der urodynamischen Definition1 des Harnverlustes bei einem gleichzeitig abnormal niedrigen abdominellen “Leak Point Pressure”. Der ISD ist zur Erfassung und Beschreibung der Pathophysiologie der männlichen Harnbelastungsinkontinenz nach operativen Eingriffen unzureichend.

Zur Operationsindikation

Anamnese: Eine ausführliche Anamnese der Inkontinenz, Vorerkrankungen, Begleitsymptome, Voroperationen, Stuhlgewohnheiten, Miktionstagebuch, Lebensqualitätsfragebögen, sind unerlässlich. Mit ihrer Hilfe wird sowohl die Art der Harninkontinenz bestimmt als auch die Indikation zur chirurgischen Therapie gestellt. Nach einer radikalen Prostatektomie ist ein konservatives Vorgehen für mindestens 12 Monate empfehlenswert, da sich die funktionell-anatomischen Verhältnisse während dieser Zeit noch verbessern können.
Entscheidende Kontraindikationen für eine funktionelle Repositionsschlinge wären Harnverlust auch im Liegen, Harndranginkontinenz und Fehlen des willkürlichen Kneifens.
Die Menge des verlorenen Harns ist für die Indikationsstellung nicht entscheidend. Ganz entscheidend ist hingegen das Vorhandensein einer ausreichenden Restfunktion des Sphinkters.

Untersuchung: Äußeres Genitale/Damm: Hautveränderungen?, Narben?, Infektzeichen? Becken/Hüfte: Mobilität?, TEP?, Anomalien?, Frakturen? Harnflussmessung mit Restharnbestimmung.

Dynamische Ureteroskopie2 (Abb. 1): Die entscheidende Untersuchung ist die “dynamische” Urethroskopie. Der wache Patient wird mit Unterstützung der Unterschenkel in Steinschnittlage so positioniert, dass das Becken entspannt ist. Nur so sind die Untersuchungsbedingungen für eine aussagekräftige Urethroskopie gegeben. Zunächst wird die Harnröhre auf Engenstellen untersucht. Die Funktion des Sphinkters testet man dann mittels perinealer Elevation. Diese wird mit dem Zeigefinger durchgeführt, wobei man am Damm in der Region des Midperineums in kraniale Richtung, parallel zur membranösen Harnröhre und zum Analkanal, und somit nichtobstruierend anhebt. Dadurch kann das generelle Koaptationspotenzial des Sphinktermechanismus beurteilt werden. Kann man in der Urethroskopie eine Verlängerung der Koaptationsstrecke während des perinealen Elevationstests von mindestens 1-2 cm beobachten, ist dies der entscheidende Befund für die Indikation einer funktionellen Repositionsschlinge.

Urodynamik und Videourodynamik: Nach derzeitigem Wissensstand wird die urodynamische bzw. videourodynamische Untersuchung vor jeder operativen Therapie der Harninkontinenz empfohlen. Das dient einerseits zum Ausschluss einer Detrusorüberaktivität, andererseits zur Bestimmung des maximalen Detrusordruckes während der Miktion sowie der Restharnbestimmung. Zusätzlich kann während der Miktionscystourethrographie (MCUG) in der stehenden Position ebenfalls der genannte Elevationstest zur erneuten Sphinkterfunktionsprüfung durchgeführt werden. Eine Koaptationsstreckenlängenbeurteilung ist mit dieser Untersuchung allerdings nicht möglich.

Wirkungsmechanismus der funktionellen Repositionsschlinge3 (AdVance® Male Sling System): Die retroluminale transobturatorische Repositionsschlinge wirkt durch eine dorsale Unterstützung der Aufhängestrukturen der distalen membranösen Harnröhre (Abb. 2). Diese distale Unterstützung ahmt die durch den Elevationstest erreichten Lagekorrekturen des Sphinktermechanismus nach, um die dadurch erreichte Verlängerung der Koaptationsstrecke zu fixieren. Für Kontinenz ist eine koaptive Gesamtstrecke der funktionellen membranösen Harnröhre von mindestens 1-1,5 cm notwendig. Sie kann nicht erreicht werden, wenn durch den Elevationstest keine temporäre Kontinenz dokumentiert werden konnte.

Behandlungskriterien

Kompression vs. Optimierung der Restfunktion des Sphinktermechanismus: Bei ausreichender Restfunktion des Sphinkters ist die Implantation einer funktionellen Schlinge vorzuziehen, ist sie nicht ausreichend, können lediglich noch harnröhrenkomprimierende Methoden eingesetzt werden. Fehlt eine Restfunktion, ist der künstliche hydraulische Sphinkter der Goldstandard. Bei Patienten mit ausgeprägter Harninkontinenz, die von den genannten Möglichkeiten nicht profitieren, bleibt die Option einer extraurethralen Harnableitung.

Take-Home-Message

Die postoperative Harninkontinenz ist die häufigste Form der Inkontinenz bei Männern zwischen 40 und 70 Jahren. Die Restfunktion des Sphinkters entscheidet über die Therapiemöglichkeit.
Nur bei ausreichender Sphinkterrestfunktion ist die Implantation einer funktionellen Repositionsschlinge möglich, anderenfalls sind komprimierende Methoden oder die extraurethrale Harnableitung anzuwenden.

OA Dr. Peter Rehder
Universitätsklinik für Urologie, Medizinische Universität Innsbruck

Koautoren:
Renate Pichler*, Lydia Schachtner*, Andrea Kerschbaumer*, Bernhard Glodny**
Universitätskliniken für Urologie* und Radiologie
Medizinische Universität Innsbruck **

1) McGuire El, Int J Urol 1995; 2 Suppl 1:7-10; discussion 16-8
2) Rehder P et al., Arch Esp Urol 2009; 62(10):860-870
3) Bauer RM et al., Eur Urol 2009; doi:10.1016/j.eururo.2009.07.028