Risikobewertung und Risiko­kommu­nikation in Zeiten einer Pandemie

Am 31.12.2019 wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals über die Existenz eines neuen Virus informiert, der für zahlreiche Lungenentzündungen in der Provinz Wuhan im Osten Chinas verantwortlich gemacht wurde. Seither ist viel passiert. Mitte Februar wurde Italien zum meistbetroffenen Land außerhalb von Asien. Am 27. Februar wurde die erste Person in Österreich positiv getestet. Seither wächst sowohl die Zahl der betroffenen Länder als auch die der betroffenen Personen ständig an. Neue Fälle werden fast in Echtzeit registriert. Derzeit sind über 140.000 Personen nachweislich mit SARS-CoV-2 infiziert und über 5.000 Personen an COVID-19 verstorben.1 In Österreich sind aktuell (Stand 16. März) 1016 Personen nachweislich infiziert und 3 Personen verstorben.

Entscheidend bei diesen epidemiologischen Großereignissen ist die Risikobewertung und Risikokommunikation. Dabei ist es ein sehr großer Unterschied, ob jemand die Situation als verantwortlicher Gesundheitspolitiker bewertet und kommuniziert oder als Virologe im Nachrichtenstudio oder als Hausarzt in der Praxis. Letztere stehen so wie die anderen Gesundheits- und Sozialberufe in der Primärversorgung an vorderster Stelle, wenn es um die Identifizierung, Versorgung und das Management von betroffenen Personen geht. Sie sind aber auch oft die ersten Ansprechpartner für die Bevölkerung. Umso wichtiger ist es, dass diese Berufsgruppen das individuelle und gesellschaftliche Risiko möglichst korrekt bewerten. Dazu brauchen sie die Unterstützung des Gesundheitssystems beziehungsweise geeigneter Institutionen. In Österreich ist dies zum Beispiel die Agentur für Ernährungssicherheit (AGES), die eine informative Website eingerichtet hat.2 Bei Epidemien ist die Risikobewertung fließend und muss ständig angepasst werden. Trotzdem folgt sie einem bestimmten Muster.

Anfangs gibt es wenig Daten, eine Vielzahl an Szenarien und deshalb auch große
Unsicherheit. Es ist wenig über die Letalitätsrate (Anzahl COVID-19-spezifischer Todesfälle/Anzahl der mit SARS-CoV-2 infizierten Personen), Übertragungsrate (durchschnittliche Anzahl an Personen, die von einer infizierten Person angesteckt werden) und andere wichtige medizinische und epidemiologische Parameter bekannt. Im zeitlichen Verlauf gibt es immer mehr Informationen, Studienergebnisse und Erkenntnisse. Wichtige Fragestellungen werden gezielt beantwortet, wesentliche Parameter dem aktuellen Wissensstand angepasst. Diese Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden erfordert spezielle Kompetenzen, die in der Ausbildung für Gesundheits- und Sozialberufe oft zu kurz kommen. Faktum ist, dass ohne eine korrekte Risikobewertung keine korrekte Risikokommunikation erfolgen kann, weder auf einer individuellen, noch auf einer gesellschaftlichen Ebene.

Wie sollte eine Risikobewertung in Zeiten der COVID-19-Pandemie erfolgen?
Beginnen wir mit dem gesellschaftlichen, bevölkerungsbezogenen Risiko. Anfangs lag die angenommene Letalitätsrate bei 7 %. Diese wurde seither ständig nach unten korrigiert. Eine im NEJM erschienene Studie zur Situation in China3 lag die Letalitätsrate unter 1.099 Patienten die in chinesische Krankenhäuser aufgenommen wurden bei 8 % bei älteren Personen mit mehreren Grunderkrankungen und 0,1 % bei jüngeren und gesünderen Personen (gesamt 1,4 %). Diese Letalitätsrate entspricht jener von hospitalisierten Personen, aber nicht der Letalitätsrate von allen mit SARS-CoV-2 Infizierten. So wurden sicher auch in China viele asymptomatische und milde Verläufe in kein Krankenhaus aufgenommen und damit auch nicht Teil der Auswertung. Sollte diese Gruppe 50 % beziehungsweise 90 % der Infizierten ausmachen, läge die durchschnittliche Letalitätsrate für alle Infizierten deutlich niedriger.

Was heißt das für Österreich: Hierzulande sind wir auf COVID-19 viel besser vorbereitet, als es China war. Die rasche Ausbreitung deutet darauf hin, dass die Anzahl der asymptomatischen und milden Verläufe sehr hoch ist. Auch die im Vergleich bessere intensivmedizinische Versorgung in Österreich beeinflusst die Letalitätsrate. Neben dem Ausmaß der Dunkelziffer an nichterkannten infizierten Personen, dem Anteil an infizierten Hochrisikopersonen, bestimmt aber vor allem auch die Funktionalität der Krankenversorgung die Letalitätsrate. Am Beispiel von Italien ist deutlich zu sehen was passiert, wenn sich unbemerkt viele Menschen, vor allem auch aus den vulnerablen Bevölkerungsgruppen infizieren und die Krankenversorgung zusammenbricht.4 Wir haben gegenüber Italien den Vorteil die verbleibende Zeit gut nutzen zu können. Neben ausreichend Ressourcen im Intensivbereich „downstream“ wird es vor allem von der Effektivität von „upstream“ Maßnahmen abhängen wie die Krankenversorgung belastet wird. Ganz entscheidend wird dabei sein, wie gut es uns gelingt Personen mit hohem Risiko vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu schützen.

Von einem statistischen bevölkerungsbezogenen Risiko auf das individuelle Risiko zu schließen ist gar nicht so einfach. Ein glücklicherweise sehr niedriges Risiko, an COVID-19 schwer zu erkranken, haben Schwangere, Säuglinge, Kinder und Jugendliche aber auch gesunde nichtrauchende Erwachsene. Das Risiko schwer zu erkranken, intensivmedizinische Versorgung zu benötigen oder zu versterben steigt mit dem Alter, der Anzahl und dem Schweregrad von chronischen Erkrankungen (vor allem Herz und Lunge) deutlich an.

Wie sollte eine Risikokommunikation in Zeiten der COVID-19-Pandemie erfolgen?

Idealerweise erhalten alle in Gesundheits- und Sozialberufen Beschäftigten tagesaktuell einen kurzen Situationsbericht, in dem neben Empfehlungen, Vorgaben und so weiter auch alle wesentlichen Informationen zur Risikobewertung verständlich zusammengefasst sind. Schließlich ist kaum jemand besser geeignet, diese Risiken der Bevölkerung beziehungsweise einzelnen Personen zu kommunizieren. Aber auch eine professionelle Risikokommunikation erfordert Kompetenzen, die in der Ausbildung für Gesundheits- und Sozialberufe oft zu kurz kommen.5 Die aktuelle Herausforderung besteht darin, sowohl das sehr niedrige als auch das deutlich erhöhte Risiko korrekt zu vermitteln. Wie gut uns Letzteres gelingt wird zu eine der größten Herausforderungen.

Hochrisikopersonen leben in unterschiedlichen Bereichen und unter unterschiedlichsten sozialen Gegebenheiten in unserer Gesellschaft. Zum Beispiel im Altersheim, im Familienverbund oder alleine zuhause, in der Stadt oder auf dem Land, sozial gut oder schlecht vernetzt, gut informiert oder überhaupt nicht informiert. Es braucht somit eine umfassende, systematische und professionelle Risikokommunikation auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene, und zwar sehr rasch. Mit fast 200.000 täglichen Patientenkontakten ist die Allgemeinmedizin die ideale Informationsdrehscheibe um der wenig gefährdeten jüngeren Generation ihre Verantwortung beim Schutz der hochgefährdeten älteren Generation zu verdeutlichen und Letzteren den Ernst der Lage unmissverständlich zu kommunizieren.

Leider werden die Beschäftigten in den Gesundheits- und Sozialberufen bei der Bewertung und Kommunikation von Risiken oft alleingelassen. Im Falle von COVID-19 wissen viele von ihnen nicht einmal über ihr persönliches Risiko Bescheid und haben oft unzureichende Informationen darüber, leider oft auch eine unzureichende Ausrüstung, wie sie sich selbst und ihre Mitarbeiter vor einer Ansteckung schützen können. Letztendlich wird es aber vor allem von der Effektivität der Primärversorgung abhängen, wie gut es Österreich gelingt, Infizierte so früh wie möglich zu erkennen, milde Verläufe zu versorgen und gefährliche Verläufe rechtzeitig zu überweisen. Nur eine effektive Primärversorgung kann in den nächsten Wochen dazu beitragen, die österreichischen Krankenhäuser zu entlasten und damit die Versorgung schwerkranker Personen zu gewährleisten.

  1. Johns Hopkins Department of Civil and Systems Engineering (CSSE)
  2. AGES
  3. Guan, W; et al. Clinical Characteristics of Coronavirus Disease 2019 in China. NEJM. 28.02.2020
  4. Remuzzi, A; Remuzzi, G. COVID-19 and Italy: what next? Lancet. 2020.
  5. Schirren, C; et al. Risikokommunikation: Zahlen können Verwirrung stiften. Dtsch Arztebl 2019; 116(38)