Pro und Contra der digitalen Psychotherapie

Digitale Gesundheitsangebote zur Vermessung und Optimierung des Selbst gibt es schon viele. Sei es die Armbanduhr, die Schritte zählt, oder die App im Smartphone, mit der ein Tagebuch über Kopfschmerzen geführt werden kann. Diese Form der Selbstüberwachung kann die Gesundheit fördern oder aber in Leidenszustände führen. Im psychotherapeutischen Bereich könnten digitale Angebote zukünftig eine wirksame, niederschwellige Hilfe darstellen. Denn manchen Menschen fällt es leichter, an ihrem Computer nach Hilfe zu suchen, als den Gang zu Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen anzutreten. Störungsspezifische Programme und Projekte wie zur Schmerzbewältigung, Depressionsbewältigung oder Adhärenzsteigerung können den Betroffenen helfen, mit psychischen Belastungen oder chronischen Erkrankungen durch entsprechendes Wissen besser umgehen zu können.
Rezente Studien und Projekte zeigen, dass solche digitalen Hilfsangebote erfolgreich sein können, wenn sie geprüft und von hoher professioneller Qualität sind. Meist handelt es sich hierbei nicht um alleinstehende Programme, sondern die Teilnehmenden werden auch durch Psychotherapeut:innen online begleitet. Diese stehen oft auch für dringenden Rat und Hilfe zur Verfügung.

Durch die Ergänzung der klassischen Psychotherapie in einer Praxis mit den Möglichkeiten der digitalen Psychotherapie erschließt sich nebst neuer „digitaler“ Behandlungsräumlichkeiten auch eine neue Art der Patientenumsorge. Unter der Perspektive, niederschwellige Angebote und schnellere Erreichbarkeit (Ersttermin) mit Hilfe professioneller Apps oder Websites zu lancieren, ist der Brückenschlag in ein Medium möglich, mit dem Hürden für eine Inanspruchnahme von Hilfe (Erstkontakt) erheblich gesenkt werden können.

Breitere Versorgung, umsichtiger Einsatz

Solche Angebote in Form von synchroner (Echtzeit-)Online-Kommunikation (z. B. mittels Videokonferenz, Audiokonferenz, Text-Chats etc.) via professioneller Apps oder Websites ermöglichen es nicht nur, Personen verschiedenster Altersgruppen näher an ihrer Lebenswirklichkeit abzuholen, sondern verbessern auch die Erreichbarkeit der Psychotherapeut:innen über die Grenzen des jeweiligen Lebensraums hinaus (Anzahl der Psychotherapeut:innen pro Einwohner:in pro Bundesland in Österreich). Somit kann auch in ländlichen Gebieten eine Versorgung ohne Inanspruchnahme längerer Anfahrtszeiten angeboten werden. Mit der Aufhebung der geografischen Limitierung relativiert sich auch die sprachliche. Einmal mehr ist es möglich, die Patient:innen in ihrer Lebenswirklichkeit abzuholen, diesmal in ihrer Erstsprache.
Doch ist trotz alldem auch Vorsicht geboten. Nicht alle Personengruppen weisen dieselbe technische Affinität auf oder haben Zugang zu den benötigten infrastrukturellen Voraussetzungen. Auch ist ein digitales Angebot nicht für jedes Bedürfnis oder jeden Anwendungsfall von Anfang an einsetzbar. Wie anonym ist bzw. bleibt mitunter auch ein:e Patient:in, der oder die ein solches Angebot nützen möchte? Anonymität ist mitunter ein nicht zu vernachlässigender Punkt, der für die Inanspruchnahme eines niederschwelligen Angebots zusätzlich förderlich sein kann.

Datensicherheit und Qualitätssicherung

Eine wichtige Frage für Patient:innen, die im Raum steht, lautet wohl: „Was passiert mit meinen Daten?“ Dieser Thematik folgend drängen sich nun zweifellos weitere Fragen auf, die sowohl für Patient:innen als auch für Psychotherapeut:innen von Belang sein sollten.
Diese lauten beispielsweise: „Gibt es gesetzliche Vorgaben, die erfüllt werden müssen?“, „Welche Tools dürfen genutzt werden?“, „Sollten im Hinblick auf Datenschutz und Datensicherheit für Psychotherapeut:innen nicht dieselben gesetzlichen Vorgaben und Regelungen bei der professionellen Nutzung von Online-Kommunikation gelten wie für Ärzt:innen?“

Rechtliche Situation in Österreich

Nebst aller Möglichkeiten solcher digitalen Angebote sind zeitgemäße Qualitätsvorgaben und -standards ein logischer nächster Schritt für beide Seiten (Psychotherapeut:innen und Patient:innen). Anders als in Deutschland (Digitale-Versorgung-Gesetz, Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung) sind in Österreich nur wenige gesetzliche Regelungen (außer einer „Rahmenrichtlinie für die IT-Infrastruktur bei der Anwendung von Telemonitoring: Messdatenerfassung“, dem Ärztegesetz § 49/2 sowie dem Gesundheitstelematikgesetz) vorhanden. Weiterbildungsmaßnahmen zur Vorbereitung und Sensibilisierung für Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen mit dem Fokus auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Bereich der digitalen Betreuung von Patient:innen würden die Qualitätssicherungen vervollständigen. Ein dadurch erlangtes digitales Zertifikat würde es den Betroffenen ermöglichen, sich der Kompetenz des oder der ausgewählten digitalen Psychotherapeut:in bzw. Ärzt:in sicher zu sein.

Der Körper als Erkenntnisinstrument

Der Körper ist vor allem Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt und für seine Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Interaktionen verändern den Körper fortlaufend und prägen ihn sozial und kulturell. Der Körper ist Ort eines basalen Lebensgefühls, von Vitalität, Behagen und Unbehagen. Er ist Resonanzraum von Stimmungen und Gefühlen, zeitgleich auch das Zentrum für Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen. Alles bewusste und unbewusste Erleben ist nicht nur an den physischen Körper als seine biologische Basis gebunden, sondern auch an den Leib mit seiner leiblichen Subjektivität.
Der Körper als intuitiv-empfindsames Erkenntnisinstrument macht es uns möglich, uns zu orientieren, zu erkunden, Unterschiede, Nuancen zu erkennen und einzuordnen. Wir sollten zu einer atmosphärischen Theorie des Subtilen vordringen. Betrachtungen über das Sphärische, das Wahrhafte sollten ins Zentrum rücken.
Die Überlegung, „was helfen könnte oder von Nutzen ist“, könnte mit einer Sichtbarmachung von Nuancen einhergehen und wäre für das Erkennen und den Erkenntnisgewinn wichtig. Unsere Bildung beginnt mit der Erkenntnis, dass wir mit Unterscheidungen die Urteilsfähigkeit schärfen und konstituieren. Das Unterscheiden erzeugt stets Teile oder Perspektiven, und darin manifestiert sich unsere Verstandsfunktion. Das Weder-noch-Denken oder Sowohl-als-auch-Denken könnte helfen, Grauzonen zu einem didaktischen Mittel reifen zu lassen. Laut Peter Sloterdijk ist die Erziehung zur Nuance für das intellektuelle Ethos von großer Bedeutung. Wie auch Nietzsche seine Furcht vor jeder übereilten Vereindeutigung definierte.
Das Selbstbestimmungsrecht und die Urteilsfähigkeit und dadurch deren personaler und interpersonaler Einfluss und Gewinn sind höher zu gewichten als materieller Gewinn.

Fazit

Der Mensch sollte auch in der digitalen Psychotherapie im Mittelpunkt bleiben.
Das körperliche subjektive und intersubjektive Selbst mit all den einverleibten und neugewonnenen Erfahrungen findet in der Psychotherapie neue Erkenntnisse.
Es wäre viel gewonnen, wenn es möglich wäre, die digitalen Transformationen in der Medizin kritisch als Erfahrungen in politische, gesellschaftliche, intersubjektive und subjektive neue Perspektiven zu überführen.