© Karin Jähne - stock.adobe.com Die RELATUS-Redaktion entlarvt in der Serie „Mythen & Fakten“ die gängigsten Scheinargumente im Gesundheitswesen und liefert fundierte Antworten für Diskussionen.
Die Frage was Selbstbehalten bewirken sollte eigentlich sein, was ist das Ziel von Selbstbehalten ist. Grundsätzlich werden sie in der Krankenversicherung aus zwei Gründen eingesetzt: Zum einen sollen sie Verhaltensänderungen auslösen, damit nur jene Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen werden, die für Diagnostik und Therapie unverzichtbar sind (Lenkungsfunktion). Zum anderen dienen sie der Erschließung zusätzlicher Einnahmen (Finanzierungsfunktion). Zunächst einmal zahlen österreichische Krankenversicherte bereits jetzt diverse Selbstbehalte. Bei Medikamenten unterhalb der Rezeptgebührengrenze von 7,55 Euro pro Packung beträgt der Selbstbehalt 100 Prozent. Seit dem 1. Juli 2025 ist auch bei planbaren Krankentransporten ein Selbstbehalt zu bezahlen.
Geht es also um zusätzliche Finanzierung oder um Lenkung des Verhaltens? Selbstbehalte können dann sinnvoll erscheinen, wenn Einnahmen erzielt werden sollen, die nicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam getragen werden. Strukturelle Kostensenkungen sind damit allerdings nicht zu erreichen. Beispiele aus mehreren Ländern zeigen: Die Inanspruchnahme von Kassenleistungen sinkt mit steigenden Selbstbehalten zunächst um 10 bis 25 %, doch der Effekt hält nur kurzfristig an. Hinzu kommt: Teure Behandlungen wie Operationen oder Spitalsleistungen werden kaum beeinflusst.
Zudem bringen Selbstbehalte einen hohen administrativen Aufwand mit sich. Die Ambulanzgebühr etwa, die zum 1. Jänner 2001 in Österreich eingeführt wurde, sah eine Selbstbeteiligung bei Spitalsambulanzbesuchen vor. Nach zwei Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs wurde sie zum 1. Mai 2003 wieder abgeschafft. Probleme waren unter anderem der hohe Verwaltungsaufwand und die vielen notwendigen, aber nicht praktikablen Ausnahmen.
Jenseits dieser Aspekte stellt sich eine weitere Frage: Welche sozialen Folgen haben Selbstbehalte – und wen treffen sie besonders hart? Internationale Studien warnen regelmäßig vor einer Verschärfung von gesundheitlichen Ungleichheiten. Auch in Österreich bringen Gesundheitsausgaben, die aus eigener Tasche zu zahlen sind, eine wachsende Anzahl von Menschen in finanzielle Nöte, wie eine Studie des Instituts für höhere Studien im Frühjahr 2024 zeigte. Insgesamt hat sich hierzulande der Anteil der Haushalte, die durch Gesundheitsausgaben verarmen, zwischen 2004 und 2019 auf 2,8 Prozent verdoppelt.1
Einkommensschwache Personen müssen einen höheren Anteil des verfügbaren Einkommens für Selbstbehalte aufwenden. Selbst eine Deckelung des Selbstbehalts kann diesen Effekt nicht zur Gänze beseitigen. Vor allem chronisch kranke und ältere Menschen bekommen diese Belastung zu spüren. Und diese brauchen medizinische Leistungen, egal ob mit Selbstbehalt oder ohne. Ausnahmen für die Gruppen erhöhen wiederum den Verwaltungsaufwand.
Studien belegen zudem wenig Lenkungseffekte. Das in den 1970er-Jahren in Kalifornien durchgeführte Health Insurance Experiment gilt als klassisches Beispiel für die Untersuchung der Wirkung von Selbstbeteiligungen. Rund 6.000 Bürger:innen wurden per Zufall unterschiedlichen Krankenversicherungsverträgen zugeteilt und ihr Inanspruchnahmeverhalten fünf Jahre lang beobachtet. Die Ergebnisse fielen kritisch aus: Mit steigender Selbstbeteiligung sank nicht nur die Zahl der Bagatellfälle, sondern auch jene von medizinisch notwendigen Arztbesuchen und Präventionsmaßnahmen. Bei chronisch Kranken führte dies zu schlechteren Blutdruckwerten und Beeinträchtigungen der Sehfähigkeit. In der Gruppe mit dem schlechtesten Gesundheitszustand wirkte sich die Selbstbeteiligung sogar negativ auf die Überlebenszeit aus. Zudem traten Symptome wie Angina pectoris, Atemnot, Blutungen oder starker Gewichtsverlust bei Zuzahlenden deutlich häufiger auf als bei vollversicherten Patient:innen. Während Gutverdienende ihr Verhalten kaum änderten, verzeichneten Personen mit niedrigem Einkommen einen überdurchschnittlich starken Rückgang ihrer Arztbesuche.
Auch in den Niederlanden wurde 1997 ein System von Selbstbeteiligungen eingeführt. Versicherte mussten generell 20 Prozent der Kosten für fachärztliche Behandlung, Medikamente, Heil- und Hilfsmittel sowie Krankentransporte selbst bezahlen. Die Resultate dieser Reform wurden wissenschaftlich begleitet und lieferten ein eindeutiges Bild: Die Versicherten verhielten sich fast genauso wie vor der Einführung dieser Selbstbeteiligungen. Lediglich bei den unteren Einkommensgruppen wurde ein niedrigerer Arzneimittelkonsum festgestellt. Die niederländische Regierung zog die Konsequenzen aus diesen Ergebnissen: Sie machte die Selbstbehalte wieder rückgängig.2
Fazit: Positive Lenkungseffekte durch Selbstbehalte sind international durch keine Studien belegt. Wer krank ist, geht dennoch zum Arzt. Wer es sich nicht leisten kann, geht nicht oder später zum Arzt. Die Folge: Die Kosten steigen, weil Krankheiten später behandelt werden. (tab)
1 Hartmut Reiners: Mythen der Gesundheitspolitik. Verlag Hans Huber 2009
2 ebd.