20. österreichische Wintertagung der ÖGAM

Am Montag, 16. 1. 2023, fand im Rahmen der Jubiläums-Wintertagung der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin eine Round-Table-Diskussion zur „Königsdisziplin“ Allgemeinmedizin mit hochkarätigen Vertreter:innen des österreichischen Gesundheitssystems statt. Die Leiterin der Sektion für öffentliche Gesundheit im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Dr.in Katharina Reich, der Geschäftsführer des GÖG Prof. Dr. Herwig Ostermann, der Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse Andreas Huss, MBA, fanden sich am Podium ein. Als Moderator fungierten Dr.in Susanne Rabady und Dr. Peter Kowatsch. Thema waren die Lehren aus der Pandemie und die Zukunft der Primärversorgung, insbesondere die darin gewünschte Rolle der Allgemeinmedizin.

Im Eingangsstatement gab Susanne Rabady einen kurzen Überblick über die Kernkompetenzen der Allgemein- und Familienmedizin, wie von der WONCA formuliert, und deren Bedeutung für Gestaltung und Ziele der Primärversorgung. Statutengemäß hat die ÖGAM auch die Aufgabe, eine beratende Funktion im Kontext ihres Faches auszuüben. Vor diesem Hintergrund entwickelt die ÖGAM Konzepte für eine gerechte, solidarische medizinische Grundversorgung – Konkretisierung und Umsetzung ist jedoch Angelegenheit der Systempartner (Kammer, Politik, Sozialversicherung). Sie ersucht die Podiumsdiskutanten um eine offene, lebhafte und respektvolle Diskussion: Voraussetzung für eine gute Entwicklung ist die Kenntnis der jeweiligen Sichtweisen der an der Gestaltung beteiligten Institutionen – nur so können gemeinsam Wege gefunden werden. Sie bedankt sich für das hohe Engagement und die enorme Arbeitsleistung, die auch an diesen Institutionen während der Pandemie erbracht wurde, und verweist auf das in dieser schwierigen Zeit gewachsene gute Arbeitsverhältnis.

Prof. Dr. Herwig Ostermann, der das österreichische Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen, GÖG, seit August 2016 leitet, betont die Herausforderungen im Gesundheitssystem wie zum Beispiel den Personalmangel in allen Bereichen der Gesundheitsberufe.
Er spricht vom Perspektivenwechsel – es sei notwendig, das Gesundheitssystem von der Primärversorgung aus zu denken. Seine Perspektive ist die Notwendigkeit einer starken Primärversorgung als erster Anlaufstelle für die Patient:innen im Gesundheitssystem. Er sieht die Rolle der Primärversorgung nicht nur als Anlaufstelle für gesundheitliche Probleme, sondern natürlich auch sowohl für soziale Belange als auch für Belange im Bereich der Familie. Zukunftsperspektive ist es auch, durch die Primärversorgung bessere Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu erreichen und auch die weiteren Pfade im Gesundheitssystem so zu gestalten, dass in kritischen Fällen die richtige Stelle rasch erreichbar ist.
Fest steht für ihn jedenfalls, dass ohne eine starke Primärversorgung die Bewältigung kommender Herausforderungen nicht möglich sein wird.

Sektionschefin Dr.in Katharina Reich freut sich über den Diskurs mit den motivierten und „pfadsuchenden“ Allgemeinmedizin-er:innen, vor allem da die Pandemie natürlich auch die Schwächen des Systems aufgezeigt hat und Strukturen überdacht sowie neue Ideen eingebracht werden müssen, wie man die Bevölkerung niederschwellig und in logischen Strukturen (auch in zukünftigen Pandemien) versorgen kann – die Komplexität der derzeitigen medizinischen Grundversorgung ist hoch und bedarf einer deutlich besseren Analyse, um dies zu erreichen. Auch stellt sie die systemische Sicht der Sicht der Patient:innen gegenüber – jeder Mensch sollte als Patient:in wissen, wer seine/ihre primäre Anlaufstelle in Gesundheitsfragen ist, wo die kontinuierliche Betreuung, aber auch Prävention stattfindet; wissen, welche andere Berufsgruppen zur Verfügung stehen – es braucht ein multidisziplinäres Setting, und das gleichberechtigt und in ihren Augen kostenfrei für alle, unabhängig von sprachlichen Barrieren oder Einkommensstruktur.

ÖGK-Obmann Andreas Huss betonte sein Verständnis der Primärversorgung als solidarische, niederschwellige Grundversorgung. Die niedergelassene Allgemeinmedizin war aus seiner Sicht auch in der Pandemie sehr präsent und hat die Bevölkerung durch die Schwierigkeiten getragen. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Primärversorgung noch viel klarer erste Anlaufstelle im österreichischen System wird, er denkt hierbei auch laut über Steuerungsmöglichkeiten – wie z. B. das Einschreiben bei Hausärzt:innen – nach, die durch die Einführung der e-card weitgehend verloren gingen. Das e-card-System hat aber durchaus Einblick in die medizinische Versorgung in Österreich auch während der Pandemie gegeben: 105 Millionen e-card-Steckungen erfolgten pro Jahr im niedergelassenen Bereich, 17 Millionen im stationären Bereich. Er sieht die Hausärzt:innen sehr wohl als Begleiter:innen durch das Gesundheitssystem, anerkennt aber auch ihre wichtige Rolle, nämlich, dass 90–95 % der gesundheitlichen Probleme primär in der hausärztlichen Versorgung gelöst werden können. Er freut sich auch über die Beiträge der ÖGAM in diesen Bereichen – vom Wissenstransfer bezüglich COVID-19 in der Pandemie über den Gedankenaustausch zu Versorgungsmodellen und -möglichkeiten bis hin zur Weiterentwicklung des Codierungssystems ICPC 2.

Eine der zentralen Herausforderungen für ihn ist auch die zum Teil bestehende Wahrnehmung von Gesundheit als Konsumgut. Klar ist für ihn, dass es Verantwortung der Politik ist, eine niederschwellige und für alle leistbare Gesundheitsversorgung zu schaffen, weshalb er auch den Ausbau der allgemeinmedizinischen Kassenstellen als ein wichtiges Ziel der Zukunft sieht. Auch die Weiterentwicklung telemedizinischer Konzepte wie z. B. 1450 oder Visit-e sieht er als Teil der niederschwelligen Versorgung, die einer Weiterentwicklung bedarf.

In der Diskussion zeigte sich, dass die Pandemie unter anderem eben auch die Komplexität des Systems und die fehlende Vergleichbarkeit innerhalb einer Ebene, aber auch der Ebenen untereinander deutlich gemacht hat. Fehlende Daten und darauf gründende Analysen wurden von allen Beteiligten als großer Nachteil empfunden.

Alle Podiumsteilnehmenden sind sich jedenfalls einig, dass es für die Zukunft eine hochwirksame, motivierte und starke Allgemeinmedizin braucht, telefonische wie telemedizinische Möglichkeiten zur Unterstützung dieser Versorgung weiterentwickelt werden sollten, dies alles aber vor allem eine ausreichende Menge an Personal aus dem ärztlichen Bereich sowie auch aus den anderen Gesundheits- und Sozialberufen nebst nachhaltiger Finanzierung benötigt.

Die Bereitschaft der Verantwortungsträger:innen im Gesundheitssystem, Änderungen zu ermöglichen und mehr Unterstützung zu geben, wurde aus dem Round Table als Botschaft für die Zuhörer:innen jedenfalls deutlich.

Was wir aus den Vorträgen so mitgenommen haben:

Berufsentwicklung war immer schon bedeutend: Der Historiker Prof. Meinrad Pichler berichtete über Wundärzte, die ohne akademische Ausbildung arbeiteten – im Unterschied zu Doctores, die eine akademische Ausbildung hatten. Frauen gab es in der Medizin zunächst nur als Hebammen. Aus historischer Sicht ist die/der Fachärzt:in für Allgemeinmedizin demnach eine logische Entwicklung für die Qualität der Allgemeinmedizin in der Zukunft.

Primärprävention auch im hohen Alter: Prim. Doz. Dr. Hans Altenberger präsentierte unter anderem am Beispiel der Lipidtherapie die kardiale Primärprävention in höherem Alter. Die individuelle Entscheidung von Hausärztinnen und Hausärzten in Bezug auf Beginn und Absetzen einer Statintherapie unter Bezug auf Lebenserwartung, Lebensqualität, Polypharmazie und den signifikanten Benefit zur Reduktion von Ereignissen wurde angesprochen. Der Aufklärung kommt auch hier besondere Bedeutung zu.

Stress verändert die Physiologie des Verdauungsapparates: Prof.in Dr.in Gabriele Moser erläuterte pathophysiologische Mechanismen von Gastritis und Reizdarmsyndrom bis zur signifikanten Häufung von CED-Schüben unter Stress. Die Wirksamkeit von Entspannungstechniken wie Yoga, Muskelrelaxation nach Jacobson, autogenem Training, körperlicher Aktivität (2–3-mal je 45 min), Bauchhypnose und anderen psychotherapeutischen Verfahren zeigte sie anhand von Studien.

„Big Four“ der Herzinsuffizienztherapie: Die therapeutischen Möglichkeiten bei verschiedenen Herzinsuffizienzformen zeigte Dr. Tobias Schöberl auf. Das Aufdosieren der Medikation unter entsprechendem Volumenmanagement und Gewichtskontrollen sowie die therapeutische Verwendung von Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie wurden thematisiert. Die Bedeutung der SGLT2-Inhibitoren und besonders auch das hausärztliche Patienten-Empowerment in Bezug auf das Medikamentenmanagement sind ihm ein Anliegen.

Probiotika sind keine langfristige Lösung: Prof. Dr. Ludwig Kramer stellte Studien zur gestörten Darmbarriere im Rahmen einer Dysbiose vor. Deren Rolle bei der Induktion von chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Autoimmunität, Diabetes mellitus, neurodegenerativen und Kreislauferkrankungen gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Stuhlanalysen sieht er in ihrer medizinischen Aussage fragwürdig. Wesentlich ist für die Darmgesundheit ein gesunder Lebensstil, ausreichend Bewegung und Ernährung, die reich an schwer resorbierbaren Pflanzenfasern und arm an prozessierten Lebensmitteln ist.

Künstliche Intelligenz steigert die Trefferquote bei der Koloskopie: Priv. Doz. Dr. Thomas Horvatits zeigte Daten zur Vorsorgekoloskopie sowie Algorithmen zur Reendoskopie nach Polypentfernung und stellte Innovationen in künstlicher Intelligenz zur Erkennung von Karzinomen in der Endoskopie vor. Die Steigerung des Erkennens von Pathologien bis 50 % hält er für möglich. Im zweiten Teil stellte er eine eigene Studie über Mikroplastikgehalt in einer zirrhotischen im Vergleich zu gesunder Leber vor. Die Stauung im Pfortaderbereich wird als pathophysiologisches Agens für die erhöhte Darmdurchlässigkeit vermutet.

Aggressionsplan für Vorfälle in der Ordination: Gewalt wahrnehmen und Deeskalationsstrategien im Team besprechen war die Botschaft von Dr. Florian Vorderwülbecke. Die „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber aggressivem Verhalten gegen Angestellte, die Definition akzeptablen und nichtakzeptablen Verhaltens, Eskalations- bzw. Gefahrenstufen wurden diskutiert.

Hyperbarmedizin nicht nur bei Tauchunfällen: Indikationen bei Crush-Syndrom, CO-Vergiftung bei bewusstlosen Patient:innen, diabetisches Fußsyndrom, Hirnabszess, Hüftkopfnekrose, Kompartmentsyndrom, Hörsturz, Radionekrose der Mandibula sowie schlecht heilende Haut- und Muskellappen brachte Frau Dr.in Ulrike Preiml in ihrem Vortrag zur Diskussion.

Allgemeinmedizin – Erstanlaufstelle bei somatoformen Erkrankungen:
Dr. Reinhold Glehr forderte die Sensibilisierung der Allgemeinmediziner:innen in der Anamnese und Führung von psychosomatisch Erkrankten ein. Bei der Entwicklung des Curriculums für die/den Fachärzt:in für Allgemeinmedizin sollte dies ausreichend beachtet werden.

Klimawandel betrifft auch die Allgemeinmedizin: Krankheitserreger aus dem Süden und aus fernen Ländern gewinnen auch bei uns vermehrt an Bedeutung. Dr. Heinz Fuchsig zählt Japan-B-Enzephalitis, Tularämie, Chikungunya und Prozessionsspinner beispielhaft auf. Die Belastungen durch Extremwetterlagen, Feinstaub und Giftstoffe in Grundwasser und Nahrung werden auch in der hausärztlichen Praxis relevanter.

Sonografie gehört in die allgemeinmedizinische Praxis: In ⅔ der akuten Beratungsfälle kann sich das Management nach Sonografie ändern, sodass um die Hälfte weniger Einweisungen notwendig ist, berichtet Dr. Peter Sigmund. „Point of Care Ultrasound“ (POCUS) ist das Schlagwort, das vor allem zukünftigen Ärztinnen und Ärzten für Allgemeinmedizin die Entscheidungen bei der Betreuung der Patient:innen erleichtern wird.

Erweiterung des medizinischen Denk- und Handlungsmodells: Verschiedene Arten der Spiritualität sind für viele Menschen ein wichtiger Weg, um Sinn, Trost, Hoffnung und inneren Frieden zu finden. „Was ist in Ihrem Leben sinnstiftend? Ist Spiritualität in Ihrem Leben wichtig? Welchen Einfluss hat sie?“ Dr. Manfred Maier brachte diese Fragen in die Diskussion. Zuhören, unterstützen, auch in diesem Bereich begleiten war seine Botschaft.

Veränderungen – Chancen zum Wachsen und Reifen: Dr.in Barbara Hasiba unternahm eine philosophische Reise durch die Jahreszeiten mit besonderer Beachtung von psychischen Krisen und zeigte an Fallbeispielen die Schönheit und Freude an gelungener Allgemeinmedizin. Geduld für Patient:innen in schweren Lebenslagen, bei Lebensübergängen wie Heirat, Pensionierung, schwere Erkrankung und Tod ist ihr Anliegen.

Atteste sind Gutachten: Dr. Florian Reiterer erläuterte die möglichen juristischen Folgen von ärztlichen Attesten, die wir tagtäglich in unserer Praxis ausstellen. Von Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit über Atteste zur Sporttauglichkeit und diverse Befreiungen bis hin zur Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Sterbeverfügung reichte seine Liste.

Gesundheit entsteht nicht nur durch Medizin: Dr. Armin Fiedler sprach über die postpandemische Gesundheitswelt. Die Resilienz der Gesundheitssysteme verdient aus seiner Sicht vermehrt Beachtung. Unter anderem hat Österreich aufgrund der hohen Ärzte- und Bettenkapazität im Vergleich zu anderen Ländern relativ gut bezüglich Übersterblichkeit abgeschnitten. Die Aufmerksamkeit muss nun vermehrt den chronischen lebensstilbedingten Erkrankungen gelten, insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen und niedriger Bildung brauchen hier vermehrt Unterstützung.