21. ÖGAM-Wintertagung für Allgemein- und Familienmedizin

1. Round Table am Montag, 22. 1. 2024:

Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse,
Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG),
MR Dr. Christoph Fürthauer, geschäftsführender Obmann der Bundessektion Ärzte für Allgemeinmedizin
MRin Dr.in Susanne Rabady, Präsidentin der ÖGAM, Leiterin des Kompetenzzentrums für Allgemein- und Familienmedizin an der Karl Landsteiner Privatuniversität, Krems,

Moderation: Dr. Peter Kowatsch, St. Gilgen

Thema: Exzellenz und Wertschätzung – die Zukunft der hausärztlichen Allgemeinmedizin

© ÖGAM

Andreas Huss: Für Exzellenz in der Allgemeinmedizin hat die Qualität der Ausbildung sowohl im Spital als auch in der allgemeinmedizinischen Lehrpraxis große Bedeutung, vor allem ist aber auch die gute Vernetzung mit den anderen Gesundheitsberufen wichtig. Die Wissenschaftlichkeit der sozialen Primärversorgung ist für ihn der zweite Aspekt für Exzellenz, und drittens muss die hausärztliche Praxis wieder als wichtigster Ansprechpartner für die verschiedensten gesundheitlichen Probleme etabliert werden. Insbesondere die Situation in den Großstädten muss hier im Fokus stehen. Für die Planung hält er die Codierung der Leistungen in der Primärversorgung für unbedingt notwendig, ebenso sieht er für den besseren Austausch von Wissen eine besondere Priorität bei der Umsetzung der Patient Summary.
Christoph Fürthauer bedauerte, dass mit der Neuordnung des Gesundheitswesens die Regionalität verloren ging und gut gewachsene Strukturen mit verringerter Wertschätzung bedacht wurden. Die Betreuungskontinuität und Kosteneffektivität der Ein-Arzt-Praxen sollte wieder vermehrt Beachtung finden. Zeitgemäße Werkzeuge wie die Sonografie, mit der nicht nur junge Ärzt:innen vertraut sind, müssen honoriert werden. Bei der Ausbildung im stationären Bereich sieht er Exzellenz dadurch bedroht, dass Ärzt:innen in Ausbildung für Allgemeinmedizin zu wenig als Auszubildende, sondern eher als Systemerhalter:innen gesehen werden. Die Verbindlichkeit der Vermittlung der Ausbildungsinhalte muss hier unbedingt weiterentwickelt und die Finanzierung der Lehrpraxis gesichert werden.
Herwig Ostermann sieht als Kriterium für Exzellenz in der Allgemeinmedizin die gute kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung. Um das sicherzustellen, braucht es aber Daten – gute Informationsgrundlagen, mit denen man wissenschaftlich die Primärversorgung weiter entwickeln kann. Exzellenz als strategisches Konzept der Allgemeinmedizin bedeutet für ihn auch ein Qualitätsversprechen gegenüber den anderen Systempartnern. Er freut sich, dass sich die ÖGAM damit auseinandersetzt. Qualitätsvorgaben sind insbesondere angesichts der Regionalität und Individualität schwierig, trotzdem müssen Leistungsbeschreibungen bzw. Leistungsprofile erstellt werden, um eine Verlässlichkeit der Versorgung zu erreichen.
Susanne Rabady verwies auf die 4 Schlüsselbegriffe, die Barbara Starfield für eine gute Primärversorgung postuliert hat: „first contact, comprehensiveness, coordination, continuity“ – und als wichtigen Zusatz die „cooperation“. Exzellenz in allen 4 Feldern ist nicht einfach zu erreichen, gute strukturelle Voraussetzungen sind dafür notwendig. Wenn sich jedoch die Patient:innen im System frei bewegen können, kann die Steuerungsfunktion nicht wirksam werden. Die Ergebnisqualität ist von der Strukturqualität in hohem Maße abhängig.

2. Gespräch am runden Tisch am Mittwoch, 24. 1. 2024

zwischen Dr.in Katharina Reich, Leiterin der Sektion für öffentliche Gesundheit und Gesundheitssystem im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, und MRin Dr.in Susanne Rabady hatte ebenfalls die Exzellenz in der Primärversorgung zum Inhalt.

Moderation: Dr. Peter Kowatsch

Dr.in Katharina Reich führte zu Beginn die verschiedenen Perspektiven von Exzellenz im hausärztlichen Bereich aus: individuelle Kompetenz, klares Aufgabenspektrum, standardisierte Angebote, Verbindlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Datenaustausch, Effizienz und Effektivität. Für sehr wichtig hält sie den Aspekt der Patientenlenkung mit der Definition des „best point of service“, als jene Stelle, bei der die Patient:innen am besten und dem Anlass entsprechend betreut werden.

Die Rolle der Allgemeinmedizin bzw. der Primärversorgung sieht sie angesichts der neuen Kommunikationstechnologien im raschen Wandel. Es gilt, darauf richtig zu reagieren. Der „Facharzt für Allgemeinmedizin“ ist aus ihrer Sicht auf gutem Kurs, doch ist bei der Optimierung der Ausbildung noch viel Arbeit in kurzer Zeit zu leisten.Eine lebhafte Diskussion mit zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum entwickelte sich. Für beide Seiten waren viele Gedanken bzw. Impulse mitzunehmen. Insbesondere die Finanzierungsgerechtigkeit und die Rolle der Länder im Zielsteuerungsvertrag zwischen Bund und Ländern wurden mehrfach angesprochen.

3. Von den interessanten, praxisnahen Vorträgen der Tagung können nur einige wenige beispielhaft angeführt werden. Allen gemeinsam waren die angeregten Diskussionen, die dazu da waren, aus der Erfahrung der Vielzahl zu profitieren:

Über „Sicherheit in unsicheren Zeiten“ sprach MRin Dr.in Barbara Hasiba, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychosomatik in der Allgemeinmedizin. Anhand der Patientenbeispiele zeigte sie einfühlsam ärztliche Möglichkeiten zur Hilfestellung, aber auch zur Selbsthilfe auf. Für die Bewältigung von ausgeprägtem Unsicherheitsgefühl können Ärzt:innen zwar versuchen, einen Rahmen für helfende Strategien zu gestalten, die Betroffenen müssen aber in erster Linie auch selbst danach suchen, was für sie passend zu sein scheint. Unsicherheit kann aber vor allem auch Ressource sein. Sie macht uns einerseits auf notwendige Vorsicht bzw. Langsamkeit aufmerksam, andererseits fordert sie aber auch Mut bzw. Vertrauen. Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen, sind für die Bewältigung entscheidend.

© ÖGAM

Prof. Dr. phil. Giovanni Rubeis, Department für allgemeine Gesundheitsstudien, Leiter des Fachbereiches Biomedizinische Ethik und Ethik des Gesundheitswesens der Karl Landsteiner Privatuniversität, Krems, sprach zum Thema „Ethik und Digitalisierung in der Medizin“.

Einerseits plädierte er für die Förderung eines digitalen Positivismus, der vor allem die Chancen sieht, die in einer datenintensiven Medizin liegen. Andererseits motivierte er dazu, sensibel für Grenzen und Risiken der Digitalisierung zu werden. Wenn z. B. durch digitale Werkzeuge die Arzt-Patienten-Beziehung verändert und die Abgrenzung zwischen Datensammlung für Medizin und für den privaten Bereich fließend wird, ist besondere Achtsamkeit gefordert. Auch dürfen Menschen mit den digitalen Entwicklungen nicht überfordert oder alleingelassen werden, z. B. dadurch, dass sie zum Selbstmanagement im Gesundheitsbereich verurteilt werden.

Technophobie hält Prof. Rubeis angesichts der Dynamik der Digitalisierung nicht für zielführend. Vielmehr glaubt er an die Bedeutung des Beitrags ärztlicher Expertise, damit sich die neuen Technologien zum Vorteil der Menschen entwickeln. Gerade die Allgemeinmedizin sollte hier wegen ihrer Menschennähe eine zentrale Rolle spielen.

Dr. Helmut Dultinger, Hainfeld, Dr. Christoph Powondra, Böheimkirchen, und Dr. Peter Klar, St. Pölten, berichteten über das Projekt zur automatischen Codierung in der Primärversorgung. Es soll die Grundlage für die österreichweite Einführung eines einheitlichen und effizienten Codierungssystems in den Hausarztpraxen sein. Datensammlung soll ermöglicht werden, ohne dass dies eine neue Bürde für das knappe Zeitbudget wird. Der Grundsatz des Projekts: „Erst wenn die Allgemeinmedizin gute Daten liefert, wird sie in ihrer Bedeutung für das Gesundheitssystem wahrgenommen werden.“

Dr. Thomas Peinbauer, Lektor für Allgemeinmedizin an der Johannes Kepler Universität Linz, beleuchtete das Thema „Gesundheitsförderung und Prävention bei Kindern und Jugendlichen“: „Kinder – gemeinsam durch dick und dünn“. Wichtig ist ihm sowohl die hausärztliche als auch die kinderärztliche Perspektive sowie die Orientierung an Schutzfaktoren, Kompetenzen und Ressourcen anstelle vorrangig an Risiken und Defiziten.

Dr. Markus Brose, Arzt für Allgemeinmedizin und Mitarbeiter am Kompetenzzentrum Allgemeinmedizin und Familienmedizin an der Karl Landsteiner Privatuniversität, und Dr. Dominik Eckhart, Arzt für Allgemeinmedizin in Wien, sprachen zum Thema „Sexualität – Transgender – Diversität – HIV und PrEP“. Als zusätzliche Präventionsmöglichkeit für Menschen mit einem erheblichen HIV-Risiko wurde die vorbeugende Einnahme systemisch wirksamer antiviraler Medikamente (PrEP) eingehend besprochen. Die Übernahme der Kosten ist in nächster Zeit zu erwarten. Die Risikoevaluierung und die Kontraindikationen (positiver HIV-Test, replikative Hepatitis-B-Infektion und Nierenfunktionsstörung) wurden diskutiert. Derzeit schätzen die Vortragenden die Versorgung von PrEP-Patient:innen noch als sehr lückenhaft ein.

„Suizidalität erkennen – Hilfsmöglichkeiten nützen“ war das Vortragsthema von Dr.in Anna Sigmund, Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin in Gamlitz. Das Verhalten, Denken, Fühlen von Menschen, die sich damit beschäftigen, sich zu töten, stellt für die Früherkennung und Bewertung von Suizidalität eine besondere Herausforderung dar. Wenn es gelingt, richtig zu erkennen, gilt es, Zugänge zu den betroffenen Menschen zu suchen, die es ermöglichen, aus der existenziellen Einengung wieder herauszugelangen. Einerseits geht es um eine der Bedrohlichkeit der Entwicklung angemessene Gesprächsführung, andererseits um die Bahnung des Weges zu spezialisierten Einrichtungen.

„Medizinische Trainingstherapie – Integration in das System PVE“ wurde von Dr.in Ulrike Preiml, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Unterwasser- und Hyperbarmedizin, Wien, vorgetragen. Die Verbesserung von Bewegungsabläufen, von Koordination, Kraft, Ausdauer und Gleichgewicht durch systematisches Training ermöglicht mehr gesunde Lebensjahre, aber auch einen besseren Verlauf von chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie, koronare Herzerkrankung, M. Parkinson. Trainingstherapie sollte nicht nur den Fitnessstudios überlassen werden, sondern in den ärztlichen Praxen, insbesondere in PVE, angeboten werden.

Dr. Günter Egidi, Sektionssprecher für Fortbildung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, Bremen, zeigte in temperamentvoller und zum Teil bewusst provokanter Weise die Möglichkeiten für eine rationale Labordiagnostik. „Weniger ist mehr …“, ist seine Devise. Die berufliche Sozialisierung im Krankenhaus und die Sorge, Wesentliches zu übersehen, nannte er als Ursachen dafür, dass häufig eine überschießende Labordiagnostik veranlasst oder durchgeführt wird. Egidi führte beispielhaft Fälle an, in denen kein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten ist und nur unnötig das Budget belastet wird. Die lebhafte Interaktion zeigte, dass sich dieses Thema immer wieder neu in den Programmen der Fortbildung finden muss.

Der Kongressleiterin Dr.in Ursula Doringer ist es gelungen, ein spannendes Programm zusammenzustellen. Zahlreiche junge Kolleg:innen bzw. viele neue Gesichter waren auf der Wintertagung in Bad Hofgastein zu sehen. Das spricht für eine Fortsetzung dieser praxisbetonten Fortbildungsveranstaltung im nächsten Jahr von Freitag, 17. 1. 2025, bis Freitag, 24. 1. 2025, wieder in Bad Hofgastein.